Boris Vian – Literarischer

Anarchist mit Trompete

Er war Romancier, Lyriker und verfasste satirische Theaterstücke. Er spielte Trompete in einer Jazz-Band, schrieb und sang Chansons,  versuchte sich als Schauspieler und arbeitete als Übersetzer. Und nicht zuletzt machte er sich als galliger Chronist der französischen Nachkriegszeit, als unbequemer Provokateur und Aktivist der Pariser Existenzialisten-Szene rund um Jean-Paul Sartre einen Namen. 

Am 23. Juni 1959 starb das kreative Multitalent – im Alter von nur 39 Jahren. Boris Vian, im gelernten Beruf Ingenieur, lebte intensiv, vielleicht zu intensiv. Die künstlerische Hinterlassenschaft dieses kreativen Chamäleons ist beeindruckend. In Frankreich, aber auch in Deutschland genießt Vian längst Kultstatus. 

Als überzeugter Pazifist, Kritiker von weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten, als Mahner vor bürokratischen Auswüchsen und sinnlosen Mega-Projekten würde er eigentlich perfekt in die heutige Zeit passen: Berliner Flughafen, Missbrauchs-Affäre, Gorch Fock, Stuttgart 21, Diesel-Skandal, Energie-Wende … Und in Frankreich hätten die Gelbwesten eine charismatische Leitfigur gefunden.

Boris, der Antimilitarist

In all seinen Werken, insbesondere in seinen Chansons mit tagespolitschen Themen, nahm Boris Vian kein Blatt vor den Mund. Damit gewann er nicht nur Bewunderer und Förderer, wie z.B. Jean-Paul Sartre. Vor allem aus seinem Hass auf alles Militärische machte Vian nie einen Hehl, im Gegenteil. So veralbert er im Theaterstück „Abdeckerei für alle“ die verlustreichen Kämpfe um die Landung der Alliierten in der Normandie 1944, indem er deutsche und amerikanische Soldaten gemeinsam Karten spielen und Calvados trinken lässt, während Artilleriegeschosse gefährlich über das Dach des französischen Hauses pfeifen. 

Und in seinem berühmten Chanson „Der Deserteur“ fordert Vian unmissverständlich: „Verweigert Krieg, Gewehr. Verweigert Waffentragen. Ihr müsst schon etwas wagen. Verweigert das Militär!“

Boris, der Bürokraten-Schreck

Vian, während des Zweiten Weltkrieges u.a. als Ingenieur in der Abteilung Glas des französischen Normenausschusses tätig, griff sicherlich auch persönliche Erfahrungen auf, um in einigen seiner Werke die ganze Verachtung für übertriebene bürokratische Strukturen deutlich werden zu lassen. Die in seinen Romanen geschilderte Welt wird geprägt von Absurditäten, sinnlosen Beschäftigungsprojekten, Missverständnissen und starren Hierarchien. 

So beschreibt er etwa in „Drehwurm, Swing und das Plankton“ die Arbeitsweise eines „Nationalen Konsortiums für die Unifikation“, dessen Mitarbeiter nichts anderes produzieren als sogenannte „Nothons“ – mausgraue Hefte, die alle Formen der menschlichen Aktivität zu regeln versuchen. Und die zum Schluss als unnütze Vermerke in den Archiven verstauben – auch deshalb, weil ohnehin Jahre zu ihrer Entschlüsselung notwendig wären.

Ein ähnlich nutzloses Projekt schildert Vian in seinem Roman „Herbst in Peking“. Eine Expedition von Ingenieuren, Arbeitern und Verwaltungsspezialisten erhält den Auftrag, mitten in „Exopotamien“, einer menschenleeren Wüste, eine Eisenbahnlinie zu bauen. Nach zu erwartenden Schwierigkeiten während der Planungs- und Errichtungsphase verschluckt der Wüstensand beim Probelauf nicht nur das Endprodukt, den Schienenstrang samt Lokomotive, sondern auch einen Großteil der Schaffenden. 

Boris, der Romantiker

 

Liebe und Leidenschaft spielen in fast allen Werken von Boris Vian eine große Rolle, allerdings unter oft ungewöhnlichen Umständen und in noch ungewöhnlicheren Formen.  Zur Vianschen Romantik gehören dabei auch eher düstere Elemente wie Wahn und Tod. In „Der Schaum der Tage“, dem wohl bekanntesten Roman Vians, lässt sich dies wunderbar nachvollziehen. Das Buch wurde übrigens 2013 mit Audrey Tautou großartig verfilmt. 

 

Nicht ohne Grund rühmte Simone de Beauvoir die „große Zärtlichkeit“ des Romans – und in der Tat opfert sich der lebenshungrige und technikvernarrte Romanheld Colin förmlich auf für seine geliebte Chloe. Denn die Schöne plagt eine seltene, mysteriöse Krankheit: In ihre Lunge wächst eine Seerose. 

 

Chloes zunehmende Qualen lassen sich nur dann lindern, wenn ihr Krankenbett permanent von frischen Blumen umgeben ist. Aber auch die gigantischen Blumeneinkäufe Colins, die ihn an den Rand des finanziellen Ruins treiben, können den Verfall Chloes und ihren sich ankündigenden Tod nicht aufhalten. Und so endet ein über lange Strecken quicklebendiger, höchstvergnüglicher, surrealistisch angehauchter Roman recht traurig.  

 

Boris, der Kriminalist

 

Dass Provokation und Übertreibung in den Werken des literarischen Tausendsassas groß geschrieben werden, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Vians Kriminalromanen, die er zunächst unter dem Pseudonym Vernon Sullivan veröffentlichen ließ. In Thrillern wie „Ich werde auf eure Gräber spucken“, „Tote haben alle die selbe Haut“ oder „Wir werden alle Fiesen killen“  treffen wir auf ziemlich abstoßend wirkende Macho-Typen, die nicht nur über Leichen gehen, sondern auch ordentlich einstecken müssen. 

 

Diese Romane, ursprünglich gedacht als französische Antwort auf eine bestimmte Gattung amerikanischer Kriminal-Stories, veralbern mit ihren herrlich übertriebenen klassischen Stilelementen im Grunde ein ganzes Genre und entlarven zugleich die Sensationslüsternheit und Brutalitätsgier der Leserschaft. 

 

Auf jeden Fall macht die Lektüre von Vians Hard-Boiled-Krimis einen Riesenspaß. Die hohe Dosis prickelnder Action, kombiniert mit reichlich Gassenerotik und detaillierten Prügelszenen – das alles ist höchst unterhaltsam! 

 

Boris, der Anarchist

 

Vom Parlamentarismus hielt Boris Vian wenig. „Die einzig wahre Methode, einen Parlamentarier zu kaufen, ist die direkte“, schrieb er. „Und denen, die uns fragen: Muss man ihn lebend kaufen oder schon geschlachtet? antworten wir: Wählen Sie die zweite Lösung!“

 

Anarchist war Vian nicht nur, was Politik betraf. Auch auf den in mehreren Romanen und Erzählungen beschrieben „Surprise-Parties“ geht es durchaus anarchistisch zu. Die Vergnügungssüchtigen treffen sich in luxuriösen Wohnungen, natürlich in Abwesenheit des jeweiligen Hausherren, und plündern dort die gut gefüllte Hausbar. Oder sie mischen sich heimlich unter ganz offiziell geladene Partygäste, um dann – nach einem exakten Plan – mit unkonventionellen Mitteln die geladenen Snobs außer Gefecht und an die Luft zu setzen. Die darauffolgenden Ausschweifungen sollen nur mit drei Begriffen angedeutet werden: Jazz, Cognac, Sex. 

 

Boris, der Hoffende

 

Auch wenn man Boris Vian als lebenshungrig bezeichnen darf, kokettierte er doch oft mit dem Tod und der Vergänglichkeit. „Ich sterbe mal an Wirbelsäulenkrebs“ heißt ein Text von ihm, in dem er sich genüsslich die ausgefallensten Todesarten ausmalt. 

 

Es war wohl eher schwarzer Humor als Todessehnsucht, denn Boris Vian hegte durchaus Hoffnungen – die er allerdings auf die Zeit vor dem Ende richtete. 

Alfred Andersch – radikal subjektiv

 

Wie kein anderer deutscher Schriftsteller hat Alfred Andersch die deutsche Nachkriegsliteratur geprägt. Das umfangreiche erzählerische und essayistische Werk des Autors, der 1990 im Tessiner Bergdorf Berzona starb, ist auch heute noch von aktueller Bedeutung und besitzt eine zeitlose, faszinierende Ausstrahlung. 

 

Andersch, der politisches Engagement (abseits von Parteien) nie scheute, legte seinem Werk und seiner Weltanschauung einen konsequenten Humanismus zu Grunde, in dem die Freiheit des Individuums über allem anderen steht.

 

Alfred Andersch wird 1914 als Sohn eines deutschnationalen Antiquars und einer böhmischen Handwerkstochter geboren. Als Heranwachsender war er nur von einem Wunsch beseelt – nämlich Schriftsteller zu werden. Eine ganze Reihe von Umständen hielten Alfred eine lange Zeit davon ab, sich diesen Wunsch zu erfüllen.

 

Die Begriffe Freiheit und Humanität durchziehen Anderschs Werk wie ein roter Faden. Auch sein literarisches Debüt, der 1952 erscheinende autobiographische Bericht „Die Kirschen der Freiheit“, die Geschichte seiner Desertation 1943 in Italien, beschäftigt sich mit der Definition von Freiheit. 

 

„Wer sich keine Geschichten von Menschen über Menschen anhören will, ist verdächtig.“

 

Anderschs existentialistische Auffassung von einer Freiheit, die in der Wildnis lebt, einer Freiheit, die sich immer nur augenblicksweise, aufgrund eines Entdeckens, einer direkten Aktion realisiert, sowie seine provokante Aufarbeitung des Tabu-Themas Fahnenflucht erregt in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Restauration viel Aufsehen. 

 

In zahlreichen Medien löst die Buchveröffentlichung einen moralischen Entrüstungssturm aus. Andersch-Biograf Stephan Reinhardt: „Die rechte Presse sprach laut von Verrat.“ Doch bei liberalen Kritikern und Intellektuellen ernten Anderschs „Kirschen“ auch Zustimmung und Anerkennung.

 

„Das Chaos ist die Ursubstanz der Freiheit – wer vor dem Chaos Angst hat, soll nicht auf Freiheitssuche gehen.“

 

Anderschs Freiheitsbegriff ist geprägt von einschneidenden, oft schmerzlichen Lebenserfahrungen: • der tragische Tod seines militaristischen Vaters • ein frühes Engagement in der KPD. Mit 18 war Alfred Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbandes in München, was ihn 1933 eine Zeit lang ins KZ Dachau bracht;  • sein resignatives Verlassen der Partei – Andersch: „Wir waren die Opfer einer deterministischen Philosophie geworden, welche die Freiheit des Willens leugnete.“ • seine spurenhinterlassende Entdeckung von Autoren wie Faulkner, Poe, Steinbeck und Hemingway in amerikanischer Kriegsgefangenschaft; • sein Einsatz für eine humane, sozialistische Demokratie nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Spätherbst 1945; • seine Arbeit bei er von ihm mitbegründeten Zeitschrift „Der Ruf“; • seine Solidarität mit Autoren wie Heinrich Böll, Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger, denen er als Redakteur beim Hessischen Rundfunk mit Aufträgen das Überleben ermöglichte.

 

Anderschs Etablierung des sogenannten Radio-Essays (zusammen mit Helmut Heißenbüttel) gilt auch heute noch als Pioniertat. Die Gründung von „Texte und Zeichen“, der avantgardistischen, einzigen deutschen Literatur-Zeitschrift, die diesen Namen verdient, ist ein weiteres großes Verdienst des Autors.

 

„Ich bin Schrift-, kein Sprechsteller.“

 

Mit dem Erfolgs seine ersten Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ (ein eindrucksvolles Beispiel, dem „politischen Moment eine epische Form zu geben“) und dem Geld, das er mit dem Verkauf des Buchs erzielt, wird es Andersch möglich, seine Rundfunktätigkeiten aufzugeben. Er kauft sich ein Haus im dem Schweizer Bergdorf Berzona und kann sich endlich den Traum erfüllen, ein freier Schriftsteller zu sein.

 

Also Nachbar von Max Frisch schreibt er die Romane „Die Rote“ und „Efraim“. In „Efraim“ spiegelt Andersch seine eigene Entwicklung zum Schriftsteller wider: „Wenn es gleichgültig ist, wer ich bin, dachte ich, kann ich auch ich bleiben. Vielleicht ist aus den Masken, unter denen man wählen kann, das ich die beste“, erkennt seine Romanfigur Efraim.

 

„Die Ästhetik des Widerstands ist der Widerstand der Ästhetik.“

 

Dem wie besseren schreibenden Andersch wird Rückzug vom politischen Geschehen vorgeworfen, doch der Autor sieht seine Hauptaufgabe darin, mit kritischen, die aktuellen politischen Verhältnisse aufgreifenden Hörspielen wie „Die Giraffe“ sowie mit Erzählungen und Romanen seinen bescheidenen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. 

 

Als Ausgleich zur schreibenden Tätigkeit reist Andersch mit seiner Frau Gisela, einer Malerin und Fotografin, viel in der Welt herum, was ihn wiederum zum Schreiben inspiriert. Resultat sind vortreffliche Reisereportagen („Wanderungen im Norden“, Hohe Breitengrade“) und Reiseessays („Aus einem römischen Winter“). 

 

Anderschs exakte Beobachtungsgabe, sein Talent, Stimmungen wiederzugeben und die Natur zu beschreiben, ohne ins Schöngeistig-Schwülstige zu verfallen, lassen ihn auch auf diesem Gebiet Maßstäbe setzen.

 

Die 68er Studentenrevolte beobachtet Andersch distanzierte und hektisch. Auf einen im Kursbuch 15 veröffentlichten Text von Enzensberger, der darin behauptet, wer Literatur als Kunst mache, könne nicht mehr gerechtfertigt werden, reagiert Andersch mit Empörung und Widerspruch – und hält dagegen, genau das Gegenteil sei richtig.

 

Andersch wirft den 68ern vor, sie betrieben Repression und Bilderstürmerei. In Verteidigung der künstlerischen Freiheit kontert er: „Ein Autor ist Phänomenologe. Wer folgt den Menschen bei ihren Beziehungen, ihren Vorstellungen und Wünschen. Literatur ist ist ein Ort der Selbstvergewisserung, der Fragen spannungsreicher Vielfalt der Perspektiven.“

 

„Die letzte und uneinnehmbare Rückzugsbasis im Kampf gegen den antimenschlichen Zustand unserer Welt besteht im scheinbar Privaten, im eigensinnig Sensiblen.“

 

Anderschs Auffassung von einer „humanen Literatur“, sein  Plädoyer für eine „radikale Subjektivität“ machen ihn für viele Zeitgenossen – auch für manche „Linke“ – zu einem unangenehmen Autor, der in keine parteipolitische Schublade passt. Und das trotz, oder gerade wegen, seiner politisch-moralischen Integrität und Unantastbarkeit. 

 

Seinen Kritiker, die ihn längst im unpolitischen Elfenbeinturm sehen, lehrt Andersch 1976 das Fürchten, als er sich mit seinem Gedicht „artikel 3“ vehement gegen Berufsverbote, den sogenannten „Radikalenerlass“ wendet. „das neue kz – ist schon errichtet“, schreibt er bewusst provokativ. Und weiter: „ein geruch breitet sich aus – der Geruch einer Maschine – die gas erzeugt.“

 

Die Presse reagiert mit Verrissen, teilweise vor Wut schäumend. Aber sein Vorstoß ist für Alfred Andersch nur konsequent, ist er doch davon überzeugt: „Freiheit bedeutet, Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft.“ Auch mit den Mitteln sprachlicher Übertreibung, ja vielleicht gerade damit!

 

Die letzten Lebensjahre sind für Alfred Andersch alles andere als angenehm. Eine schwere Nierenerkrankung macht ihn zeitweise arbeitsunfähig. Vorher hat der Autor noch die Kraft aufgebracht, einen letzten, großartigen Roman zu schreiben: „Winterspelt“

 

Basis des Epos ist ein ausgefeiltes Konzept. Schreibtischstratege Andersch sieht seinen Roman als „Kammerspiel um den Gedanken herum, man brauche Geschichte nicht hinzunehmen, wie sie gekommen“. 

 

„Winterspelt“ spielt im vorletzten Jahr des Zweiten Weltkriegs in dem gleichnamigen, kleinen Eifeldorf – kurz vor der sinnlosen, letzten großen deutschen Offensive. Auch dieser Roman steht in der Tradition des zutiefst politischen, grenz-, sprach- und ideologieübergreifenden Humanitätsverständnisses Anderschs. Zugleich offenbart „Winterspelt“ einmal mehr die große erzählerische Kunst dieses bemerkenswert unbequemen Schriftstellers.

 

„Ein Buch geht aus der Erinnerung eines Schriftstellers hervor, spiegelt eine kollektive Erinnerung und mündet in der Erinnerung des einzelnen Lesers.“

 

Stephan Reinhardt hat vielleicht am besten erkannt, welche Bedeutung das Schreiben für den Münchener Autor hatte: „Kunst und Literatur wurden für Andersch zu einer existentiellen Form der Selbstfindung und Selbstbefreiung; sie bargen in sich die Möglichkeit, aus politisch und/oder privat schwer erträglichen Lebensverhältnissen mindestens in der Vorstellung auszubrechen, sich aus Irrtümern und Verdrängungen zu befreien, zur Probe zu handeln, Alternativen und Möglichkeiten zu entwickeln, Gegengeschichten zur eigenen Lebensgeschichte zu erzählen wie in „Sansibar“ oder „Winterspelt“.