Alfred Andersch – radikal subjektiv

 

Wie kein anderer deutscher Schriftsteller hat Alfred Andersch die deutsche Nachkriegsliteratur geprägt. Das umfangreiche erzählerische und essayistische Werk des Autors, der 1990 im Tessiner Bergdorf Berzona starb, ist auch heute noch von aktueller Bedeutung und besitzt eine zeitlose, faszinierende Ausstrahlung. 

 

Andersch, der politisches Engagement (abseits von Parteien) nie scheute, legte seinem Werk und seiner Weltanschauung einen konsequenten Humanismus zu Grunde, in dem die Freiheit des Individuums über allem anderen steht.

 

Alfred Andersch wird 1914 als Sohn eines deutschnationalen Antiquars und einer böhmischen Handwerkstochter in München geboren. Als Heranwachsender war er nur von einem Wunsch beseelt – nämlich Schriftsteller zu werden. Eine ganze Reihe von Umständen hielten Alfred eine lange Zeit davon ab, sich diesen Wunsch zu erfüllen.

 

Die Begriffe Freiheit und Humanität durchziehen Anderschs Werk wie ein roter Faden. Auch sein literarisches Debüt, der 1952 erscheinende autobiographische Bericht „Die Kirschen der Freiheit“, die Geschichte seiner Desertation 1943 in Italien, beschäftigt sich mit der Definition von Freiheit. 

 

„Wer sich keine Geschichten von Menschen über Menschen anhören will, ist verdächtig.“

 

Anderschs existentialistische Auffassung von einer Freiheit, die in der Wildnis lebt, einer Freiheit, die sich immer nur augenblicksweise, aufgrund eines Entdeckens, einer direkten Aktion realisiert, sowie seine provokante Aufarbeitung des Tabu-Themas Fahnenflucht erregt in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Restauration viel Aufsehen. 

 

In zahlreichen Medien löst die Buchveröffentlichung einen moralischen Entrüstungssturm aus. Andersch-Biograf Stephan Reinhardt: „Die rechte Presse sprach laut von Verrat.“ Doch bei liberalen Kritikern und Intellektuellen ernten Anderschs „Kirschen“ auch Zustimmung und Anerkennung.

 

„Das Chaos ist die Ursubstanz der Freiheit – wer vor dem Chaos Angst hat, soll nicht auf Freiheitssuche gehen.“

 

Anderschs Freiheitsbegriff ist geprägt von einschneidenden, oft schmerzlichen Lebenserfahrungen: • der tragische Tod seines militaristischen Vaters • ein frühes Engagement in der KPD. Mit 18 war Alfred Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbandes in München, was ihn 1933 eine Zeit lang ins KZ Dachau bracht;  • sein resignatives Verlassen der Partei – Andersch: „Wir waren die Opfer einer deterministischen Philosophie geworden, welche die Freiheit des Willens leugnete.“ • seine spurenhinterlassende Entdeckung von Autoren wie Faulkner, Poe, Steinbeck und Hemingway in amerikanischer Kriegsgefangenschaft; • sein Einsatz für eine humane, sozialistische Demokratie nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Spätherbst 1945; • seine Arbeit bei er von ihm mitbegründeten Zeitschrift „Der Ruf“; • seine Solidarität mit Autoren wie Heinrich Böll, Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger, denen er als Redakteur beim Hessischen Rundfunk mit Aufträgen das Überleben ermöglichte.

 

Anderschs Etablierung des sogenannten Radio-Essays (zusammen mit Helmut Heißenbüttel) gilt auch heute noch als Pioniertat. Die Gründung von „Texte und Zeichen“, der avantgardistischen, einzigen deutschen Literatur-Zeitschrift, die diesen Namen verdient, ist ein weiteres großes Verdienst des Autors.

 

„Ich bin Schrift-, kein Sprechsteller.“

 

Mit dem Erfolgs seine ersten Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ (ein eindrucksvolles Beispiel, dem „politischen Moment eine epische Form zu geben“) und dem Geld, das er mit dem Verkauf des Buchs erzielt, wird es Andersch möglich, seine Rundfunktätigkeiten aufzugeben. Er kauft sich ein Haus im dem Schweizer Bergdorf Berzona und kann sich endlich den Traum erfüllen, ein freier Schriftsteller zu sein.

 

Also Nachbar von Max Frisch schreibt er die Romane „Die Rote“ und „Efraim“. In „Efraim“ spiegelt Andersch seine eigene Entwicklung zum Schriftsteller wider: „Wenn es gleichgültig ist, wer ich bin, dachte ich, kann ich auch ich bleiben. Vielleicht ist aus den Masken, unter denen man wählen kann, das ich die beste“, erkennt seine Romanfigur Efraim.

 

„Die Ästhetik des Widerstands ist der Widerstand der Ästhetik.“

 

Dem wie besseren schreibenden Andersch wird Rückzug vom politischen Geschehen vorgeworfen, doch der Autor sieht seine Hauptaufgabe darin, mit kritischen, die aktuellen politischen Verhältnisse aufgreifenden Hörspielen wie „Die Giraffe“ sowie mit Erzählungen und Romanen seinen bescheidenen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. 

 

Als Ausgleich zur schreibenden Tätigkeit reist Andersch mit seiner Frau Gisela, einer Malerin und Fotografin, viel in der Welt herum, was ihn wiederum zum Schreiben inspiriert. Resultat sind vortreffliche Reisereportagen („Wanderungen im Norden“, Hohe Breitengrade“) und Reiseessays („Aus einem römischen Winter“). 

 

Anderschs exakte Beobachtungsgabe, sein Talent, Stimmungen wiederzugeben und die Natur zu beschreiben, ohne ins Schöngeistig-Schwülstige zu verfallen, lassen ihn auch auf diesem Gebiet Maßstäbe setzen.

 

Die 68er Studentenrevolte beobachtet Andersch distanzierte und hektisch. Auf einen im Kursbuch 15 veröffentlichten Text von Enzensberger, der darin behauptet, wer Literatur als Kunst mache, könne nicht mehr gerechtfertigt werden, reagiert Andersch mit Empörung und Widerspruch – und hält dagegen, genau das Gegenteil sei richtig.

 

Andersch wirft den 68ern vor, sie betrieben Repression und Bilderstürmerei. In Verteidigung der künstlerischen Freiheit kontert er: „Ein Autor ist Phänomenologe. Wer folgt den Menschen bei ihren Beziehungen, ihren Vorstellungen und Wünschen. Literatur ist ist ein Ort der Selbstvergewisserung, der Fragen spannungsreicher Vielfalt der Perspektiven.“

 

„Die letzte und uneinnehmbare Rückzugsbasis im Kampf gegen den antimenschlichen Zustand unserer Welt besteht im scheinbar Privaten, im eigensinnig Sensiblen.“

 

Anderschs Auffassung von einer „humanen Literatur“, sein  Plädoyer für eine „radikale Subjektivität“ machen ihn für viele Zeitgenossen – auch für manche „Linke“ – zu einem unangenehmen Autor, der in keine parteipolitische Schublade passt. Und das trotz, oder gerade wegen, seiner politisch-moralischen Integrität und Unantastbarkeit. 

 

Seinen Kritiker, die ihn längst im unpolitischen Elfenbeinturm sehen, lehrt Andersch 1976 das Fürchten, als er sich mit seinem Gedicht „artikel 3“ vehement gegen Berufsverbote, den sogenannten „Radikalenerlass“ wendet. „das neue kz – ist schon errichtet“, schreibt er bewusst provokativ. Und weiter: „ein geruch breitet sich aus – der Geruch einer Maschine – die gas erzeugt.“

 

Die Presse reagiert mit Verrissen, teilweise vor Wut schäumend. Aber sein Vorstoß ist für Alfred Andersch nur konsequent, ist er doch davon überzeugt: „Freiheit bedeutet, Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft.“ Auch mit den Mitteln sprachlicher Übertreibung, ja vielleicht gerade damit!

 

Die letzten Lebensjahre sind für Alfred Andersch alles andere als angenehm. Eine schwere Nierenerkrankung macht ihn zeitweise arbeitsunfähig. Vorher hat der Autor noch die Kraft aufgebracht, einen letzten, großartigen Roman zu schreiben: „Winterspelt“

 

Basis des Epos ist ein ausgefeiltes Konzept. Schreibtischstratege Andersch sieht seinen Roman als „Kammerspiel um den Gedanken herum, man brauche Geschichte nicht hinzunehmen, wie sie gekommen“. 

 

„Winterspelt“ spielt im vorletzten Jahr des Zweiten Weltkriegs in dem gleichnamigen, kleinen Eifeldorf – kurz vor der sinnlosen, letzten großen deutschen Offensive. Auch dieser Roman steht in der Tradition des zutiefst politischen, grenz-, sprach- und ideologieübergreifenden Humanitätsverständnisses Anderschs. Zugleich offenbart „Winterspelt“ einmal mehr die große erzählerische Kunst dieses bemerkenswert unbequemen Schriftstellers.

 

„Ein Buch geht aus der Erinnerung eines Schriftstellers hervor, spiegelt eine kollektive Erinnerung und mündet in der Erinnerung des einzelnen Lesers.“

 

Stephan Reinhardt hat vielleicht am besten erkannt, welche Bedeutung das Schreiben für den Münchener Autor hatte: „Kunst und Literatur wurden für Andersch zu einer existentiellen Form der Selbstfindung und Selbstbefreiung; sie bargen in sich die Möglichkeit, aus politisch und/oder privat schwer erträglichen Lebensverhältnissen mindestens in der Vorstellung auszubrechen, sich aus Irrtümern und Verdrängungen zu befreien, zur Probe zu handeln, Alternativen und Möglichkeiten zu entwickeln, Gegengeschichten zur eigenen Lebensgeschichte zu erzählen wie in „Sansibar“ oder „Winterspelt“.