Kalte Dusche

Im Morddezernat herrschte eine Bombenstimmung. Kriminalrat Saubermann spendierte Sekt und Lachsschnittchen. Als er ein paar Gläser geleert hatte, kündigte er eine Rede an. 

 

Inspektor Treiber und sein Assistent Lausig verdrehten die Augen. Sie hatten die Geschichte von der Heldentat ihres Kollegen Häscher, dem es gelungen war, den legendären Morchelmörder zu schnappen, schon tausend Mal gehört. 

 

Während Saubermann vom taubstummen Killer erzählte, der seinen Opfern, ausschließlich dralle Witwen über siebzig, so lange Stinkmorcheln in den Hals gesteckt hatte, bis sie daran erstickt waren, gähnten Treiber und Lausig hemmungslos. 

 

Plötzlich stockte der Redefluss des Kriminalrats, der in der Nähe eines geöffneten Fensters stand. Saubermanns Gesicht wurde fahl, dann brach er mit Schaum vor dem Mund zusammen. In seinem Nacken steckte ein kleiner Pfeil.

 

Inspektor Treiber erkannte sofort, dass es sich um einen Blasrohrpfeil handelte, wie ihn die Ureinwohner von Maumau, einer kleinen Insel vor der Nordküste Australiens, gern einsetzten, wenn sie sich auf dem Kriegspfad befanden. 

 

Vor ihrem Einsatz tauchten die Krieger die Pfeilspitzen in das Blut des Goldregenpfeifers – ein Gift, das, sobald es in die Blutbahn eines Menschen gelangt war, innerhalb von Sekunden zu totalem Haarausfall und Herzstillstand führte.

 

Der Anblick des blassen, urplötzlich kahlköpfig gewordenen Kriminalrats, den Treiber in lebendem Zustand nie besonders gemocht hatte, erweckte ein spitzbübisches Lächeln in seinem unrasierten Gesicht. 

 

Während seine Kollegen hektisch umher rannten, um vielleicht noch eine winzige Spur vom Attentäters zu erhaschen, ließ der Inspektor fröhlich den Korken der letzten Schampusflasche knallen.

 

Auf Saubermanns Beerdigung blieb Treiber nicht verborgen, dass in den familiären Kern der Trauergäste ein Mann eingedrungen war, der nicht über das fliehende Kinn, die vorstehenden Augen und wulstigen Lippen verfügte, wie sie für Familienangehörige seines verblichenen Chefs typisch waren. 

 

Während die letzten trockenen Erdbrocken auf den Sargdeckel prasselten und die meisten Kollegen nur noch Streuselkuchen und Doppelwacholder im Sinn hatten, prägte sich der Inspektor das pockennarbige Gesicht des Unbekannten genauestens ein. Das war gut so, denn der seltsame Gast sollte dem Leichenschmaus fernbleiben. 

 

Am nächsten Tag fand Treiber die hässliche Visage des verdächtigen Trauergastes im Polizeicomputer wieder, allerdings wesentlich jünger und schlechter rasiert. 

 

Vor zwölf Jahren war ein gewisser John McNeal angeklagt worden, die 48-jährige Leiterin einer Lotto-Annahmestelle in Glückstadt sowie den 39-jährigen Hauptkassierer einer Samenspenderbank in Quickborn mit einem zugespitzten Bambusrohr umgebracht zu haben, während die Opfer in einem Sonnenstudio ihre Bräune auffrischten. 

 

McNeal, der wenige Tage vor der Prozesseröffnung aus der Untersuchungshaft floh, hatte vorher seinen Lebensunterhalt mit Diashows und Vorträgen über die Start- und Landetechniken australischer Flughunde verdient. 

 

Treiber schickte eine Interpol-Suchmeldung nach McNeal los und begann zu überlegen, ob er seinen Zierbambus im Vorgarten einmal gründlich herunterschneiden solle.

 

Währenddessen verließ Lausig mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief ins Gesicht gezogenem Hut Helgas Erotik-Shop. Die Fingerknöchel seiner rechten Hand, mit der er krampfhaft den Griff der prall gefüllten Tennistasche umklammerte, schimmerten weißlich unter der gespannten Haut.

 

Mit eiligen Schritten überquerte Lausig den Bahnhofsvorplatz. Es ärgerte ihn, dass die dürre Helga die Preise für indizierte Hahnenkampf-Filme schon wieder drastisch erhöht hatte.

 

An der Straßenbahnhaltestelle hatte Lausig Mühe, einen hartnäckigen Rosenverkäufer davon zu überzeugen, dass seine Freundin gegen Schnittblumen allergisch war und er selbst keine einzige Vase besaß.

 

Lausig meinte, am Ende der Straße seine streng-katholische Vermieterin entdeckt zu haben, der er in diesem Viertel keinesfalls begegnen wollte. 

 

Wahrscheinlich verteilt die alte Schachtel wieder Flugblätter des »Christlichen Aktionsbündnisses gegen käufliche Liebe «, dachte er. Er wusste, dass seine Vermieterin in diesem Verein lustfeindlicher Moralapostel sogar stellvertretende Vorsitzende war. 

 

Um sich die Sonnenbrille aufzusetzen und das falsche Clark-Gable-Bärtchen auf die Oberlippe zu kleben, stellte Lausig die Tasche mit den verbotenen Blu-rays für einen kurzen Moment ab: Zeit genug für einen speckigen Unteroffizier der Heilsarmee, sich ihrer zu bemächtigen.

 

Mit der wertvollen Tasche stieg der Dieb in den rostigen Beiwagen eines klapperigen Wehrmachts-Motorrades, das mit laufendem Motor auf der anderen Straßenseite wartete. Bevor Lausig reagieren konnte, gab die bärtige Rotkreuzschwester, die das Gespann lenkte, Gas. 

 

Der Schock über die Erkenntnis, dass in der Sporttasche sein Dienstausweis lag, hatte sich noch gelegt, als Lausig zuschauen musste, wie ihm die Straßenbahn direkt vor der Nase wegfuhr. Mutterseelenallein stand er unter der Haltestellen-Überdachung. 

 

Lausigs Stimmung war in den Keller gerauscht. Ein lüsterner Wind nestelte an seinen Hosenknöpfen, fette Regentropfen klatschten auf das von bräunlichem Moos überwucherte Wellblechdach, und eine einbeinige Taube badete unbeholfen in der großen, trüben Pfütze neben dem aufgebrochenen Fahrkartenautomaten. 

 

Lausig spürte einen Luftzug an seinem linken Ohr, so als fliege etwas nah an seinem Kopf vorbei. Sein Blick fiel auf die gehbehinderte Taube. Mit einem Pfeil in der Brust lag sie in der Regenpfütze. Ihr einziges, in die Luft ragendes Bein zuckte noch einmal kurz, bevor ihr Körper komplett erstarrte.

 

In Lausigs Kopf schrillte eine Alarmsirene. Er wirbelte herum und sah, wie eine mit einem Schottenrock und einer Fransenlederjacke gekleidete Gestalt einen Fahrradkurier vom Mountainbike riss. 

 

Ein Bambusrohr zwischen den Zähnen schwang sich der Schottenrocker auf das Gefährt und radelte auf die Kreuzung zu. Dann versperrte ein schwarzer Disco-Golf, dessen wummernde Bässe den Herzschrittmacher eines Frührentners aus dem Takt brachten, Lausig die Sicht. 

 

Währenddessen hatte das Antiterror-Kommando ganze Arbeit geleistet. Nachdem Treibers Top-Informant ihm McNeals Unterschlupf für einen Monatssatz Essensgutscheine in der Polizeikantine verraten hatte, waren die Spezialisten in die Altbauwohnung von McNeals Freundin eingedrungen und hatten eine verdächtige Person im Bad gestellt. 

 

Doch bei der Person hinter dem fleckigen Duschvorhang, die vom Sturmkommando in akuter Notwehr mit 48 Schüssen außer Gefecht gesetzt wurde, handelte es sich nicht um McNeal, sondern um eine dürre, frisch eingeseifte, arbeitslose Floristin, die beim Schotten als Gegenleistung für spezielle Massagen zweimal in der Woche heiß duschen durfte. 

 

Auf der Brücke zog McNeal Schottenrock und Lederjacke aus und warf die Kleidungsstücke zusammen mit seinem Blasrohr ins trübe Kanalwasser, unweit der Stelle, wo das Mountainbike im schlammigen Grund steckte. 

 

Mühsam zwängte er sich in die viel zu enge Jogginghose, die er sich von einem leblos am Straßenrand liegenden Marathonläufer ausgeliehen hatte. 

 

Den mageren Körper des kollabierten Sportlers bedeckte er mit Blättern einer Rosskastanie, schließlich wollte er den sensiblen Mitarbeitern der Stadtreinigungsdienste, die einmal die Woche dieses Stadtviertel nach gestrandeten Rum-Fässern, angeschwemmten iPhones und anderem Treibgut absuchten, den Anblick des Dauerläufers im pinkfarbenen Stringtanga ersparen.

 

Lausig hatte sich nicht geirrt. Der Blasrohrmann war in Richtung Kanal geflüchtet und lief jetzt im Sauseschritt am Ufer entlang – direkt auf die Brücke zu. 

 

Lausig hatte Zweifel, zu Fuß schnell genug die Brücke erreichen zu können. Im Schulsport war sein bester Wert auf einhundert Metern 19,9 Sekunden gewesen – und heute wog er mindestens doppelt so viel. 

 

Doch Lausig brauchte nicht zu rennen, denn er entdeckte einen Bootsverleih. 

 

Mit einem kirschroten Tretboot, das er bei dem pickligen Bootsverleiher kurzerhand konfisziert hatte, steuerte er auf die Brücke zu, wo sich der Mordbube gerade seiner Landestracht entledigte.  

 

Lausig stellte die Beinarbeit ein und griff nach seiner Dienstwaffe. Als er merkte, dass er statt der Automatik die Wasserpistole seines Neffen eingesteckt hatte, fiel ihm wieder das Horoskop ein, das er in der letzten Ausgabe der Tattoo-Fachzeitschrift „Eingebrannt“ gelesen hatte. 

 

„Machen Sie sich auf unliebsame Überraschungen gefasst, auf Erlebnisse, die unter die Haut gehen“, hatte da gestanden. Aber auch: „Doch verlieren Sie nicht den Mut.“

 

McNeal hatte den Bullen im Boot längst gesehen – und auch die Waffe, die bedrohlich auf ihn gerichtet war. Er hielt es für angebracht unterzutauchen.

 

Der Schotte war verschwunden. Irgendwo muss er doch wieder auftauchen, dachte Lausig und füllte seine Plastikpistole mit Wasser.

 

Nach einem weltrekordverdächtigem Versuch im Langstreckentauchen krabbelte der Schotte etwa fünfzig Meter hinter der Brücke die schlammige Kanalböschung hoch. 

 

Neugierig beäugte ein Schwanenjunges den seltsamen Fisch, der sich soeben vor seinem Schnabel aus den Fluten erhoben hatte. Doch seine wachsamen, stets besorgten Eltern ließen nicht zu, dass sich jemand zu sehr ihrem einzigen Sprössling näherte. Entschlossen gingen sie zum Angriff über.

 

Am Telefon versuchte Treiber, die schluchzende Mutter der durch eine tragische Verwechslung ums Leben gekommenen Floristin zu beruhigen. Er versicherte ihr, dass sie keinesfalls für den durchlöcherten Duschvorhang aufkommen müsse. 

 

Einen solchen Kollateralschaden würde das Bundesinnenministerium aus der Kaffeekasse bezahlen. Dann hielt der Inspektor der laut weinenden Frau einen Vortrag über die Vorteile einer Badewanne.

 

Auf der Kanalstraße blieb dem Pizzafahrer Siggi nur die Vollbremsung. Er hatte gerade die letzte kalte-Calzone ausgeliefert und freute sich auf ein gemischtes Doppel in Kingsize-Whirlpool seines verreisten Chefs, als urplötzlich eine Gestalt mitten auf der Fahrbahn auftauchte. 

 

Mit quietschenden Reifen kam Siggis Mini-Van zwei Meter vor dem Wesen zu stehen.

 

Dem Pizza-Kurier war die Figur in dem zerrissenen, schlammbeschmierten Joggingdress unheimlich. Er sah, dass dem seltsamen Anhalter die halbe Nase fehlte und das rechte Ohr nur noch aus blutigen Fetzen bestand, und bekam es mit der Angst zu tun. 

 

Entschlossen legte er den ersten Gang ein und gab Gas. Er verspürte wirklich keine Lust, sich am helllichten Tag von einem Zombie anfixen zu lassen. 

 

Lausig gab die Suche nach dem Schotten auf und wollte sich eine kleine Stärkung gönnen. Die hungrigen Möwen, die ihn vom Ufer aus die ganze Zeit beobachtet hatten, sahen, wie er sein Pausenbrot auspackte – und bliesen zur Attacke. 

 

Beim verzweifelten Versuch, sein Käsebrot vor den aggressiven Vögeln zum verteidigen, verlor Lausig das Gleichgewicht und fiel von Bord. 

 

Lausig war ein miserabler Schwimmer, doch bis ans Ufer war es nicht weit. Allerdings entpuppten sich die auf der steilen Uferböschung wachsenden Pflanzen, an denen er sich hochzog, als Brennnesseln. 

 

Wenig später glitt er auf der Schleimspur einer Weinbergschnecke aus und fiel der Länge nach in ein Brombeergestrüpp. Die spitzen Stacheln der Ranken hinterließen ein filigranes Muster in seinem Gesicht.

 

Lausigs Magen begann zu knurren. Er wusste nicht, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen diesem akustischen Warnsignal und den roten Minivan mit der Aufschrift „Pizza Blitz“ gab. Das Auto hatte sich direkt hinter der Straßenkurve  um eine stämmige Eiche geschlungen.

 

Da Lausig selbst aus vielen kleinen Wunden blutete, hatte er keine Skrupel, zuerst an die eigene Gesundheit zu denken und die Verarztung des stöhnenden, zwischen Lenksäule und Aschenbecher eingeklemmten Fahrers Profis zu überlassen – also erfahrenen Rettungssanitätern und Notärzten, die wahrscheinlich bald eintreffen würden. Außerdem ist da sowieso nicht mehr viel zu retten, dachte er.

 

Eine Annahme, die mit hundertprozentiger Sicherheit auf die fünfzig Meter weiter im Straßengraben liegende Person zutraf. Was die kräftigen Schnäbel aufgebrachter Schwäne nicht geschafft hatten, war dem Kühlergrill eines Pizza-Taxis gelungen: einen australischen Schotten, der leidenschaftlich gern junge Bambussprossen aß, vom Leben zum Tode zu befördern.

 

Treiber hatte sich krank gemeldet. Nach einem Blick aus dem Fenster wollte er es nicht riskieren, in freier Wildbahn auf unberechenbare Viren und Bakterien zu stoßen. Außerdem war sein einziger Wollschal noch nicht gebügelt.

 

Im Briefkasten fand der Inspektor statt der Tageszeitung den bunten Werbeprospekt eines Versandhauses für Sanitär-Artikel. Als die Abenddämmerung einsetzte, hatte er sich immer noch nicht entschieden, welchen der unzähligen Duschvorhänge er bestellen solle, um seiner Schwiegermutter zu Weihnachten eine besondere Freude zu bereiten.