Lausig fühlte sich matt. Sein Vorrat an Energy-Drinks und Türkischem Honig war aufgebraucht – und Nachschub in dieser unwirtlichen Gegend schwer zu bekommen. Die nächsten Almhütte mit Kiosk lag mindestens 15 Kilometer entfernt, und in der Nacht war ein halber Meter Neuschnee gefallen.
Während Lausig lustlos seine Schneeschuhe imprägnierte, probierte Inspektor Treiber das nagelneue Snowboard aus. Sein Tischler hatte es ihm aus toskanischem Olivenholz angefertigt, um die Gleitfähigkeit zu erhöhen.
Die kostspielige Entscheidung, nicht von der Stange zu kaufen, rentierte sich jetzt, denn Treiber hatte keine Mühe, die Bande halbstarker Steinböcke, die sich ihm an die Fersen geheftet hatte, abzuschütteln.
Der Inspektor kramte in seinem Brustbeutel nach einem Schweizer Kräuterzucker – was Folgen hatte. In diesem Moment der Unachtsamkeit übersah er die Bananenschale, die ein frustrierter arbeitsloser Sessellift-Schaffner auf die bucklige Piste geworfen hatte.
Treiber verbrachte des Rest seines Bildungsurlaubes mit einem frisch geschraubten rechten Sprunggelenk auf der geriatrischen Station des hoffnungslos überfüllten Spitals von Zwittertal.
Der vollschlanken Hebamme im Vorruhestand, die als Hilfspflegekraft arbeitete und mit der Treiber sich ein wenig angefreundet hatte, gelang es nicht ein einziges Mal, den Inspektor beim Taubenschießen auf der Playstation im Büro der seit Tagen vermissten Stationsschwester zu schlagen.
Nach mindestens zehn verlorenen Duellen rächte sich die wütende Hebamme, indem sie den gehunfähigen Inspektor mitsamt seinem Krankenhausbett in den Kellerraum rollte, wo die ausrangierten Bettpfannen gelagert wurden.
Es dauerte eine Nacht und einen halben Tag, bis Treiber von einem erst kürzlich eingestellten Anästhesisten, der sich verlaufen hatte, gefunden wurde. Und viele Monate sollte es noch dauern, bis der Geruchssinn des Inspektors wieder einigermaßen funktionierte.
Dass ihn sein Assistent nicht besuchte, konnte der Inspektor leicht verschmerzen. Nur zu gut erinnert er sich an die zwei Meter fünfzig große, künstliche Dattelpalme, die ihm Lausig vor drei Jahren bei seinem Krankenbesuch im Duisburger Polizei-Klinikum geschenkt hatte.
Treiber waren damals gerade die Polypen geschält worden, und so hatte Lausig dessen Bemerkung, Nelken hätten auch gereicht, nicht richtig verstehen können.
Lausig hatte Elke verstanden – und sich hartnäckig und lautstark bemüht, auf der HNO-Station eine Schwester Elke ausfindig zu machen, die dringend am Bett seines Chefs benötigt würde. Die Folge war ein lebenslanges Hausverbot für Treibers Assistenten, denn eine Elke kannte nur der Chefarzt – und das war seine Gattin.
Jetzt plagten Lausig andere Sorgen. In bedrückte die Lebensaufgabe, den Zugang zu seiner Berghütte schnee- und eisfrei zu halten, wie es die Hausordnung vorsah. Doch um 5:32 Uhr sah er keine andere Möglichkeit, als unverzüglich seinen Mieterpflichten nachzukommen: Die kräftige Stimme des Hütteneigentümers hatte die Membrane seines Handy-Lautsprechers zerfetzt.
Lausig wollte gerade die Hand nach der Schneeschaufel ausstrecken, als er ein Kribbeln auf seinem linken Ohrläppchen spürte. Seit er sich bei einem Sturz von der Feuerleiter des Heimatmuseums eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, stellte sich dieses Gefühl am Ohr immer dann ein, wenn ein Bogenschütze ihn ins Visier nahm.
Sofort hechtete Lausig in eine Schneewehe – was sein Glück war. Der mit einem High-Tech-Sportbogen abgeschossene Pfeil verfehlte ihn knapp und spaltete den Holzgriff der Schneeschaufel.
Schütze des Carbongeschosses war ein Snowboardlehrer, der nebenberuflich mit Murmeltierfellen handelte und ab und zu als Gelegenheitskiller jobbte.
Lausig hatte nur eine Erklärung für diesen feigen Anschlag auf sein Leben: Der krankhaft eifersüchtige Florist von gegenüber musste ihn vor drei Wochen dabei beobachtet haben, wie er dessen Gattin Alma einen Strauß Alpenveilchen schenkte – als kleines Dankeschön für drei vergnügliche Strip-Poker-Abende.
In der Schneewehe konnte Lausig kaum noch atmen. Aber er hatte ja das 50 cm lange Schilfrohr! Seit er während eines Sondereinsatzes am Kaspischen Meer einmal von traumatisierten Brackwasserreihern attackiert worden war, trug Lausig das Rohr immer am Körper bei sich – vor Knicken gesichert in einem schmalen Köcher aus Waranleder.
Jetzt kam das Rohr zum Einsatz. Gierig saugte Lausig die würzige Bergluft in seine Lungen. Doch er wusste, dass er nicht ewig in diesem Schneeversteck bleiben konnte.
Mit einem Druck auf den linken Außentaschenknopf schaltete er die Farbstruktur seines Gebirgsjäger-Overalls auf Weiß um. Ein Druck auf den rechten Knopf – und schon schob sich die Schneehuhn-Maske aus dem Kragen des Overalls und stülpte sich über den Kopf.
Lausig wühlte sich ans Tageslicht, peilte die Lage – und erkannte sie als ernst: Der Snowboardlehrer stand nur wenige Meter vor ihm, eine kambodschanische Orchideenmachete in der rechten Hand.
Lausig fackelte nicht lange. Seine Unsichtbarkeit ausnutzend legte er sich dem heranstürmenden Widersacher genau vor die Füße.
Der Angreifer schlug der Länge nach hin und glitt, mit dem Kopf voran, den immer steiler werdenden Hang hinunter. Seine Machete, die sich beim Sturz selbstständig gemacht hatte, kostete einem frühreifen Schneeglöckchen den Kopf.
Ein halbes Jahr später sollte das Lieblingswerkzeug kambodschanischer Gärtner eine bedeutende Rolle in einem Familiendrama auf einem einsam gelegenen Bergbauernhof spielen. Sensationslüstern würden die Medien dann vom „Schlachtfest auf der Blutalm“ und vom „Einöd-Scharfrichter“ berichten.
Auf seiner rasanten Talfahrt hatte der Gelegenheitskiller fast Bobgeschwindigkeit erreicht, da stoppte ihn eine Tanne. Bei dem Aufprall zog sich der robuste Nadelbaum nur leichte Schürfwunden zu.
Der Snowboardlehrer überlebte zwar, musste aber nach einem längeren Krankenhausaufenthalt umschulen, da ihm als Rollstuhlfahrer die Ausbildungsberechtigung entzogen wurde. Außerdem verstieß die große Edelstahlplatte in seinem Schädel gegen aktuelle EU-Umweltauflagen.
Am nächsten Tag, es herrschte Tauwetter und die Orchideenmachete glänzte in der zarten Februarsonne, berichtete Lausig seinem Chef am Telefon von dem missglückten Anschlag auf seine Gesundheit.
Inspektor Treiber murmelte nur »Soso«, weil seine Aufmerksamkeit mehr dem blutjungen Krankenpflege-Schüler galt. Interessiert beobachte er den spindeldürren Azubi dabei, wie dieser verzweifelt versuchte, einen mindestens zehn-Pfund-schweren Kugelkaktus in eine Blumenvase zu zwängen – und das ohne Handschuhe!
Wem er diesen ungewöhnlichen Blumengruß zu verdanken hatte, erfuhr Treiber nicht. Niemand vom Pflegepersonal konnte ihm sagen, wer den Kaktus gebracht hatte. Aber für Treiber kam eigentlich nur eine Person in Frage.