Das Zeichen

Auf den ersten Blick sah es recht unscheinbar aus, doch beim genaueren Hinsehen war eine feine Struktur erkennbar: ein Muster aus dünnen Linien, die sich zu einer Art Z formten. Dieses Z war genau in der Mitte eines Ovals platziert. 

Michael hatte das Zeichen entdeckt, als er sich am späten Nachmittag, nach einigen Stunden anstrengender Malerarbeit, eine kleine Pause gegönnt und sich auf einem Gartenstuhl am runden Terrassentisch niedergelassen hatte. Mit einer großen Tasse Milchkaffee und einem Croissant, das vom Frühstück übrig geblieben war, wollte er sich stärken. 

Am rechten Rand der weißen Papier-Serviette, auf der das Croissant lag, fiel es ihm ins Auge. Er hielt es für ein Logo, eine Art Markenzeichen.

Merkwürdig, dachte Michael, während er auf das filigrane Zeichen starrte, vor ein paar Minuten, als ich die Serviette in der Küche aus der Packung gezogen und mit ihr das Croissant nach draußen getragen habe, war es noch nicht da gewesen. 

Er war sich da ziemlich sicher. Denn die weißen Servietten, die Lena und er seit Jahren kauften, trugen keinerlei Verzierung oder Aufdruck, sie waren einfach nur weiß. Und andere Servietten als die unifarbenen, reinweißen, hatte es in ihrem Haushalt nie gegeben.

Um sicher zu gehen, ging er noch einmal in die Küche, holte die angebrochene Packung Servietten aus der oberen Schrank-schublade und prüfte jedes der in der Plastikfolie verbliebenen Exemplare. Er faltete alle sieben Papiertücher auseinander und begutachtete sie sorgsam von allen Seiten. Nichts!

Das Zeichen ließ Michael keine Ruhe. Während er am Terrassentisch saß und sich das Croissant schmecken ließ, schaute er sich das Zeichen auf der Serviette noch einmal ganz genau an. Er war jetzt überzeugt davon, dass jemand die Linien mit einem dünnen Bleistift aufgetragen hatte, ein Mensch mit einer ruhigen Hand und zeichnerischem Talent. 

Nach der Pause, als Michael wieder zum Pinsel griff, um den Gartenzaun weiter anzustreichen, hatte er das Ganze schon wieder vergessen. Bis er die schwarz-weiße Katze des Nachbarn entdeckte. 

Sie lag lang ausgestreckt unter dem Hartriegelstrauch, den er im vergangenen Herbst gepflanzt hatte. Er zweifelte nicht daran, dass die Katze tot war. Um ihren Hals trug sie eine dicke, rote Schnur, die er vorher noch nie an ihr gesehen hatte. An dieser Schnur war ein kleiner weißer Zettel befestigt, auf dem irgendetwas stand. 

Michael bückte sich tief herunter, um es erkennen zu können, doch es war keine Schrift, sondern eine Art Zeichnung. 

Die Zeichnung kam ihm bekannt vor. Ein großes Z, das aus vielen feinen, geraden Linien bestand, umrahmt von einem Oval. 

Genau das gleiche Signet, das er auch am übernächsten Tag entdecken würde, auf einem gelben, herzförmigen Post-it-Zettel, der auf der blauen Outdoor-Jacke seiner mit einem Stromkabel erwürgten Frau haftete. Dort, wo ihr Herz war, das seine Arbeit einstellte, als der Mörder Lena von hinten mit dem Kabel strangulierte, bis sie sich nicht mehr wehrte und nicht mehr zappelte und zuckte – um dann ihren leblosen Körper ins feuchte Gras fallen zu lassen. 

Wo die tote Lena fast zwei Stunden lang lag, bis Schnecken schmale Schleimspuren auf ihrer Jacke, Hose und ihrem fahlen Gesicht hinterlassen hatten. Und bis Michael, der hinter den Johannisbeer-Sträuchern nachsehen wollte, ob er dort vielleicht seinen vermissten linken Arbeitshandschuh verloren hatte, fast über seine Frau gestolpert wäre.

Doch noch ahnte Michael nichts von dem bevorstehenden, gewaltsamen Tod seiner Frau. Noch war er intensiv damit beschäftigt, darüber nachzugrübeln, wer der Nachbarskatze das Genick gebrochen haben könnte und warum. Und was das merkwürdige Zeichen auf dem Zettel damit zu tun hatte. Und warum es auch auf seiner Serviette zu finden war. 

Aber Michael hatte einen Verdacht. Konnte der pubertierende Sohn des Gymnasiallehrers, der zwei Häuser weiter wohnte, dahinter stecken? 

Ihm war schon mehrfach zu Ohren gekommen, dass der Junge im Garten Fallen aufstellte, in die Eichhörnchen und Kaninchen hineingeraten waren, mit jeweils schlimmen Folgen für die Tiere. 

Aber war der picklige Teenager, der höchstens vierzehn Jahre alt sein konnte, wirklich fähig, so gut zeichnen zu können, um solch ein detailliertes, professionell aussehendes Signet hinzubekommen. Und wenn ja, warum diese Mühe? 

Michael überlegte, ob er einmal mit dem Vater des Jungen sprechen sollte, verwarf aber den Gedanken wieder, als er sich daran erinnerte, dass er mit dem arroganten Lehrer ja auf Kriegsfuß stand, seit er vor einem halben Jahr die Polizei gerufen hatte. 

Der Grund war die Band, die auf der Geburtstagsparty der Lehrersgattin im Garten noch um 3 Uhr morgens die halbe Stadt mit ihren Marshall-Verstärkern dröhnend beschallte und so ihre Bewohner um den Schlaf brachte. 

Michaels Rücken begann zu schmerzen . Er beschloss, Feierabend zu machen. Den nächsten Tag hatte er noch frei, und um das restliche Stück Gartenzaun anzustreichen, würde er höchstens drei Stunden benötigen. 

Nachdem er geduscht und im Backofen eine Tiefkühl-Lasagne zubereitet hatte, verspürte er Lust auf ein TV-Dinner. Er holte sich ein Bier aus dem Keller und einen Schoko-Pudding aus dem Kühlschrank – und stellte das Tablett mit dem kleinen Abend-Menü auf den Couchtisch im Wohnzimmer. 

Lena war in die Stadt gefahren, um sich mit einer Freundin im Kino eine dieser angesagten französischen Komödien anzuschauen, und so freute sich Michael auf den amerikanischen Action-Thriller, den ihm seine Programm-Zeitschrift empfohlen hatte. 

Nach fünf Minuten, Michael hatte gerade den Teller mit der Hälfte der fad schmeckenden Lasagne beiseite geschoben und wollte zum Dessert übergehen, begann der Abend, einen nicht geplanten, unerfreulichen Verlauf zu nehmen. 

Ihm war plötzlich klar, dass er den Film schon einmal gesehen hatte. Und er konnte sich sogar erinnern, wie enttäuschend und unlogisch er den Schluss des Thrillers fand. 

Michael schaltete den Fernseher aus und wollte den Frust mit einem zweiten Bier runterspülen. Doch im Keller musste er feststellen, dass er die letzte Flasche bereits getrunken hatte. 

Missmutig ging er ins Arbeitszimmer und schaltete den PC ein, um seine eMails zu checken und ein wenig im Netz zu surfen – vielleicht fand er ja auf YouTube einen interessanten Musik-Clip oder Konzertmitschnitt. Der Monitor wurde hell, doch statt des gewohnten Bildschirmschoner-Fotos mit einem Südtiroler Bergpanorama erschien etwas ganz anderes auf dem Screen. 

Michael erkannte es sofort, und sein Puls begann zu rasen. Es war das Zeichen. Filigran aber deutlich, schwarz auf weiß. 

Es schwebte direkt in der Bildschirmmitte – und begann dann zu pulsieren, hektisch zu zucken, wie ein nervöses Insekt im Abschreckungsmodus. Schließlich sprang es hin und her, von rechts nach links, von oben nach unten, und der Zuck-Rhythmus wurde schneller und schneller … Michael brach der Schweiß aus.

Er hatte keine Ahnung, wie das Zeichen in seinen Computer gekommen war. Doch es machte ihm Angst. 

Den Trauergottesdienst hatte Michael mit versteinerter Mine über sich ergehen lassen. Auf die Rede des Geistlichen, der Lena als eine Art Engel in Menschengestalt schilderte, hatte er gar nicht geachtet, so tief war sein Geist im Nebel versunken. 

Erst später, nachdem der Eichenholzsarg mit Lena zur frisch ausgehobenen Grabstätte am nördlichen Rand des Waldfriedhofs getragen wurde und heftige, kalte Windböen den hinter dem Sarg her trottenden Trauergästen zusetzten, riss etwas Michael aus seinem apathischen Dämmerzustand heraus. 

Kurz bevor der Sarg in die Grube hinabgelassen wurde, bemerkte es Michael. Sein Blick traf zufällig auf das schwarze Jackett des Sargträgers, der als Zweiter auf der rechten Seite mitgeholfen hatte, Lena in der schweren Holzkiste zu ihrer letzten Ruhestätte zu transportieren. 

Michael fiel eine Art Schmuckstück auf, das der Träger auf dem Revers seiner Jacke trug und im trüben Spätherbstlicht hell aufleuchtete. Es sah aus wie eine aus Goldfäden geflochtene Brosche und besaß eine ovale Grundform. Und dann erkannte er es: Es war das Zeichen. 

Am offenen Grab seiner ermordeten Frau brach Michael bewusstlos zusammen. Sanitäter des Roten Kreuzes fuhren ihn ins städtische Krankenhaus. 

Für den Pfarrer, die Trauergäste und Helfer war dies ein guter Anlass, Lenas Beerdigung zügig zu Ende zu bringen. Der ursprünglich geplante Leichenschmaus im friedhofsnahen Gasthaus zur Linde fiel aus. 

Schon während des Transportes in die Klinik erlangte Michael sein Bewusstsein zurück. Nach einigen Untersuchungen und zwei Tagen Beobachtung entließ ihn der verantwortliche Arzt, schrieb ihn aber für die nächsten zwei Wochen arbeitsunfähig. 

Die folgenden Tage versuchte Michael, sich von seiner Familie und Freunden abzuschotten. Er brauche Ruhe und Erholung, teilte er ihnen immer wieder mit, und außerdem täte es ihm gut, das Vorgefallene ein paar Tage allein zu verarbeiten. 

Die Menschen, die ihm nahe standen und es gut mit ihm meinten, brachten wenig Verständnis für sein Verhalten auf. Doch nachdem Michael am vierten Tag nach seiner Krankenhausentlassung nicht mehr auf das Klingeln an der Haustür reagierte und auch nicht mehr ans Telefon ging, wenn man mit ihm sprechen wollte, stellten Verwandte und Freunde die Versuche der Kontaktaufnahme nach und nach ein.

Michael war dies nur recht. Er gab sich ganz der düsteren Stimmung hin, die ihn befallen hatte. Er aß kaum noch etwas und vernachlässigte die Körperpflege. Zu seinen Hauptbeschäftigungen zählte jetzt das Zeichnen. 

Im nahen Zeitschriftenladen hatte er einen ganzen Stapel Zeichenblöcke und einen großen Vorrat an Bleistiften erstanden. Die Verkäuferin, die ihn noch von der Schule her kannte und wusste, dass er erst kürzlich seine Frau verloren hatte, wagte nicht, ihn anzusprechen oder gar zu fragen, wozu er die vielen Zeichenutensilien benötigte.  

Viele Stunden am Tag versuchte Michael, das Zeichen so akkurat wie nur möglich aufs Papier zu bringen. Nie war er mit dem Resultat zufrieden. Sein übergroßer Ehrgeiz trug groteske Züge, weil er ja nur aus der Erinnerung zeichnete, denn ihm fehlte eine Vorlage. 

Die tote Katze mit dem Zettel am Hals war längst im Garten des Besitzers vergraben worden. Lenas Jacke mit dem Post-it, auf der das Zeichen zu sehen war, lag vermutlich irgendwo verschlossen bei der Kriminalpolizei, und die Serviette mit dem Zeichen hatte er selbst in den Müll geworfen, der mit der letzten Leerung der Tonnen abtransportiert und wahrscheinlich schon in der MVA verbrannt worden war. 

Michael zeichnete und zeichnete, große Z-Zeichen im Oval und kleine – und bald lagen in der ganzen Wohnung Zeichenblock-Blätter herum, auf denen nur ein einziges Grundmotiv in den verschiedensten Variationen zu sehen war. 

Sogar an den Wohnzimmerwänden befestigte Michael seine Kunstwerke, dort, wo bisher Rahmen mit Landschaftsfotografien hingen. Die Bilderrahmen hatte Michael abgenommen und in einen großen Umzugskarton gepackt.

Erst als die Zeichenblöcke aufgebraucht waren und Michael Schmerzen in seiner rechten Hand verspürte, kam er ein wenig zur Ruhe. Er legte sich auf die Couch – seit Lenas Tod hatte er es nicht gewagt, das Schlafzimmer zu betreten – und zum ersten Mal seit Tagen gelang es ihm, vier Stunden ohne Unterbrechung schlafen. 

Doch als er aufwachte, war er erneut von einer nervösen Unruhe erfüllt. Ich muss hier raus, dachte er und zog sich Schuhe und Jacke an.

Nachdem Michael das Haus verlassen hatte, schlug er, ohne dass es ihm bewusst war, gleich den Weg zum Waldfriedhof ein. 

Er durchquerte das große, zentrale Eisentor und ging auf dem Hauptweg mit dynamischen Schritten immer geradeaus, bis er zu der Wasserstelle mit dem steinernen Becken und der Engelsstatue kam. Dort füllten die Friedhofsbesucher ihre Gießkannen auf, säuberten ihr Hände von Erdspuren oder spritzten sich an heißen Sommertagen kühles Wasser ins erhitzte Gesicht. 

Michael setzte sich auf den Beckenrand, drehte den rostigen Wasserhahn auf und trank aus der hohlen Hand, bis er seinen Durst gestillt hatte. Dann stand er auf und machte sich auf die Suche nach Lenas Grabstätte. 

Ohne Plan versuchte er mal diesen Weg, mal jenen – bis er endlich vor dem Grab stand. Er hatte keine Zweifel, dass dies Lenas letzte Ruhestätte war, auch wenn sie sich seit der Bestattung stark verändert hatte. 

Ein letztes, welkes Gesteck, das der Friedhofsgärtner beim Aufräumen wohl übersehen hatte, gab ihm letzte Gewissheit. Der Blumenschmuck trug eine Schleife mit der deutlich lesbaren Aufschrift „Ruhe in Frieden, Lena. Dein Lauftreff-Team“. 

Doch statt des opulenten Grabsteins aus weißem Marmor stand hier jetzt ein dunkles Holzkreuz, auf dem zwar kein Namen eingraviert war, aber etwas anderes. 

Michaels Beine versagten ihm den Dienst, als er erkannte, was es war. Er war auf die Knie gesunken und starrte auf das von einem Oval umhüllte Z. 

Diesem Zeichen fehlte das Filigrane, wie Michael feststellte, und es sah für ihn so aus, als sei es ins Holz eingebrannt worden. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, was dies bedeuten solle.  

Michael kniete eine ganze Weile vor Lenas Grab in der lehmigen Erde. Sein Kopf war von einer seltsamen Leere erfüllt, und er spürte die kalte Feuchtigkeit nicht, die in seine Hose gedrungen war. 

Ihm war auch nicht aufgefallen, dass sich urplötzlich eine Dunkelheit über den Waldfriedhof gesenkt hatte, Stunden vor Sonnenuntergang.

Ein Geräusch hinter ihm riss Michael aus seiner Trance und auf die Beine. Das Geräusch hörte sich an wie das Knacken von Fingerknöcheln. 

Michael wirbelte herum und blickte in ein grinsendes Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Das Gesicht gehörte zu einer groß gewachsenen Gestalt, die in ein schwarzes, fast bis zum Boden reichendes Gewandt gehüllt war und auf dem Kopf eine ebenfalls schwarze Kappe trug.  

Das Grinsen des Mannes, der jetzt vielleicht drei Meter vor ihm stand, hatte etwas Höhnisches, doch das war es nicht, was Michael in Unruhe versetzte. Es war das Schmuckstück, das die schwarze Gestalt in Brusthöhe auf ihrem Umhang trug: die Brosche mit dem Zeichen.

Jetzt wusste Michael auch, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte. Dieser Mann war einer der Sargträger auf Lenas Beerdigung gewesen– derjenige, der diese oder eine recht ähnliche Brosche getragen und Michael einen derartigen Schock versetzt hatte, dass er in Ohnmacht gefallen war. 

Es war jetzt fast so dunkel wie in einer mondlosen Nacht, doch um die Gestalt des schwarz gekleideten Zeichenträgers hatte sich eine Art Lichtschein gebildet, eine rätselhafte Aura, so dass sder Mann recht gut zu erkennen war. 

Michael bemerkte, dass der Mann aufgehört hatte zu grinsen und ihn stattdessen mit seltsam gelben Augen anstarrte. In seinen Händen hielt er einen Strick oder etwas Ähnliches. Panisch wandte Michael sich um und rannte los. 

Er stolperte über eine steinerne Grabumrandung, fiel der Länge nach in ein Beet mit feuchten Bodendecker-Pflanzen, rappelte sich wieder auf und lief weiter. Er rannte kreuz und quer durch die Friedhofsanlage, bis er nicht mehr konnte und, sich  heftig nach Luft schnappend, vor einer mannshohen, weißen Engelsstatue hinkauerte.

Immer noch war der Waldfriedhof in eine rätselhafte Dunkelheit gehüllt. Nachdem Michael wieder zu Atem gekommen war und sich mühsam aufgerichtet hatte, schaute er sich ängstlich nach allen Seiten hin um. Er wollte sehen, ob der dunkle Mann mit der Brosche ihm gefolgt war.

Michaels Blick fiel auf einen riesigen Grabstein neben dem Marmorengel. 

Mitten auf dem schwarzen, glatt polierten Stein erschien, blutrot leuchtend und heftig pulsierend, das Zeichen. 

Es schien sich in den Stein hinein zu fressen. Aus den Rillen, die immer tiefer und breiter wurden, drangen weiße Rauchschwaden, die so ätzend und scharf rochen, dass Michael husten musste. Benommen taumelte er zurück.

Der Grabstein spuckte plötzlich Feuer – und dann explodierte er. Kleine, heiße Steinsplitter bohrten sich in Michael Wangen. Dort, wo der Stein gestanden hatte, war jetzt ein tiefes Loch entstanden, aus dem gelbliche Rauchschwaden quollen.

Michael presste seine Hände auf das schmerzende Gesicht. Durch seine tränennassen Finger hindurch konnte er beobachten, wie sich das Loch schnell vergrößerte und in eine Grube verwandelte. 

Schon war der Grubenrand seinen Füßen bedrohlich nah gekommen, und er vernahm dumpfe, polternde Geräusche, die aus der Tiefe drangen. 

Er wollte jetzt ganz schnell weg von diesem schrecklichen Ort. Doch es war zu spät.  

Ein leichter Stoß in den Rücken genügte – und Michael stürzte in die Tiefe. 

Der Mann in dem schwarzen, langen Gewandt grinste gehässig, dann löste er die Brosche mit dem Zeichen von seinem Umhang und warf sie mit einer eleganten Armbewegung in die Grube. 

Sofort begann das Loch, sich wieder zu schließen, und nach wenigen Sekunden deutete nichts mehr darauf hin, dass hier ein Mensch verschlungen worden war.

Die Grabstätte sah aus wie vorher. Mit einem Unterschied. Dort, wo der große, schwarze Marmorstein seinen Platz hatte, stand jetzt ein kleiner Baum mit ungewöhnlichen Blättern. Nicht die dunkelgrüne Farbe war es, die sie so exotisch aussehen ließ – es war ihre Form. Jedes Blatt sah aus wie ein Z. 

Einige Jahre später waren alle Baum- und Straucharten der Welt einer merkwürdigen Krankheit zum Opfer gefallen und eingegangen. 

An ihre Stelle waren Milliarden von Exemplaren einer vorher nicht bekannten Baumart getreten, die man allgemein den Z-Baum nannte, weil seine immergrünen Blätter Z-förmig waren

Diese Baumart gedieh bei jedem Klima und war gegen Trockenheit, Überschwemmungen, extremer Hitze und strengem Frost völlig unempfindlich. 

Der Z-Baum blühte nicht und trug auch keine Früchte. Doch seine Blätter strömten etwas aus, eine Art Gas, das eine verheerende Wirkung auf alle Menschen hatte, die sich in der Nähe des Baumes aufhielten. Sie verloren die Angst vor dem Tod. Und sie entwickelten einen Hass auf alles Natürliche. 

Innerhalb eines Jahrzehnts war der Erdball komplett von einem grünen, undurchdringlichen Dschungel aus Z-Bäumen bedeckt. 

Menschen gab es keine mehr. Nur ein paar besonders anpassungsfähige und robuste Tierarten wie Schaben hatten überlebt. Und ein Geschöpf, das den Namen „Der auserwählte Gärtner“ trug. Eine Kreatur, deren schwarzes Gewandt aus einem Stoff bestand, der für die Ewigkeit gemacht war.