1.
Er hätte es schon viel früher tun sollen. Doch jetzt war Gregor einfach nur erleichtert. Zufrieden stellte er fest, dass sein pfeifendes Ohrgeräusch, das ihn seit Wochen quälte, verschwunden war.
Seit er die alte Villa verlassen und ins Gartenhaus gezogen war, ging es ihm besser. Deutlich besser. Auch wenn es eher eine Flucht war als ein Umzug den man sorgfältig plant und vorbereitet. Deshalb waren einige wichtige Dinge in der Villa zurück geblieben, die ihm jetzt fehlten.
Der glatte, runde, etwa Golfball große Kiesel zum Beispiel. Während eines Sommerurlaubs in Frankreich hatte Gregor den intensiv grün leuchtenden Stein gefunden. Im klaren Wasser des Lot schwimmend hatte er ihn auf dem Grund des an dieser Stelle nicht sehr tiefen Flusses entdeckt.
Gregor erinnerte sich, dass seine Ehefrau Eva sich am Ufer des kleinen Campinglatzes auf ihrer Relaxliege ausgestreckt hatte und in einer Modezeitschrift blätterte. Die silbernen Pailletten auf Evas Bikini-Oberteil glitzerten im hellen Sonnenlicht, und kleine, grelle Blitze wurden in den herrlichen Sommertag hinausgeschleudert, als gelte es, Werbung für diese perfekte Szenerie zu machen: eine schlanke, sonnengebräunte, wunderschöne Frau auf einer maisfarbenen Liege, umrahmt von dem hellen Kieselstrand und dem grünen Flusswasser.
Nach einem kurzen Tauchgang hatte Gregor den grünen Stein aufgelesen und ihn später stolz, als habe er einen kostbaren antiken Schatz geborgen, Eva gezeigt. Doch zum seiner Enttäuschung hatte seine Frau nur gemeint: „Ja ganz nett, aber den nimmst du hoffentlich nicht mit nach Hause.“
Den Stein wieder in den Lot zurück zu werfen, wie Eva es vorgeschlagen hatte, das war für Gregor nicht in Frage gekommen. Eingewickelt in ein T-Shirt und sorgfältig verstaut in einer Seitentasche seines Wanderrucksackes war der grüne Kiesel, völlig unbemerkt von seiner Frau, mit zurück in die heimische Villa gereist.
Seitdem bewahrte Gregor ihn in seinem Arbeitszimmer auf, in der untersten Schreibtischschublade, dort, wo auch sein spanisches Outdoormesser und seine Fahrtenschwimmer-Urkunde lagen.
In all den Jahren war kein Tag vergangen, an dem Gregor den grünen Kiesel aus dem Lot nicht vor dem Frühstück für ein oder zwei Minuten fest mit beiden Händen umschlossen und dabei die Energie gespürt hatte, die ihn durchlief. Ein warmer Kraftstrom, der leicht prickelnd durch seinen ganzen Körper floss und sich wohltuend bis in die Fingerspitzen und Zehen ausbreitete. Dabei entstand in seinem Kopf eine wunderbare Klarheit.
Nur an einem einzigen Tag hatte er den Stein nicht angerührt. Es war der erste richtig kühle Tag im September, nach einem heißen Sommer, der nie zu enden schien.
An diesem Tag hatte er, zu Fuß, bei strömendem Regen und nur mit einer alten Jogginghose und einem verwaschenen, roten Sweatshirt bekleidet, die fünfhundert Meter bis zur Polizeiwache zurückgelegt, um Eva als vermisst zu melden.
Natürlich konnte dem Dienst habenden Polizeibeamten, während er lustlos die Angaben des nervösen, völlig durchnässten Mannes in seinen Computer tippte, nicht auffallen, dass einige Stellen auf dem unifarbenen Shirt seines Gegenübers einen anderen Rot-Ton hatten. Die Spritzer oder Flecken waren viel dunkler als das blasse Rot des Kleidungsstücks, ja fast schon bräunlich.
Aber der stark übergewichtige, nach billigem Discount-Rasierwasser und Röstzwiebeln riechende Polizist war ohnehin schon in Gedanken bei seinem ersten Date mit der geheimnisvollen Lady, mit der er auf einem Online-Portal vielversprechend Kontakt aufgenommen hatte und die er jetzt unbedingt näher kennenlernen wollte.
Esmeralda war ihr Name. Der passte zum vereinbarten Treffpunkt, der mexikanischen Bar im Bahnhofsviertel, wo er hoffen konnte, niemandem zu begegnen, der ihn kannte.
Ob sie wirklich Esmeralda hieß – oder Chantal oder Hildegard – das war ihm völlig egal. Nicht egal waren ihm ihre persönlichen Vorlieben, die sie ihm offenbart hatte.
2.
Im Gartenhaus gab es kein elektrisches Licht und kein fließendes Wasser, doch das Regenwasser aus der großen Plastiktonne neben dem Eingang und der schummrige Schein der Petroleumlampe auf dem Campingtisch reichten Gregor völlig aus.
In die Villa würde er keinen Fuß mehr setzen, das war klar. Seit er wusste, dass die efeubewachsenen Mauern flüsterten und zischten, sobald abends die Dämmerung einsetzte, wagte er sich noch nicht einmal mehr bei Tageslicht in die Nähe des alten Gebäudes.
Am frühen Morgen, Gregor hatte sich auf dem Gaskocher einen Instantkaffee zubereitet und war im Jogginganzug, die Blechtasse in der Hand, schlaftrunken vor die Hüttentür getreten, bemerkte er, wie sich ein bläulicher Schleier um das Haus legte.
Während er dabei zuschaute, wie die schlierigen Schwaden um die Mauern der Villa waberten, empfand er einen merkwürdigen Ekel. Es war, als schaue er einem fremden Wesen, einem Alien dabei zu, wie es versuche, die Steine mitsamt dem Efeu in etwas anderes zu verwandeln – in was auch immer.
Vielleicht wollte dieses Wesen die Mauern auch nur aussaugen, stellte Gregor sich vor, so lange, bis nur noch ein dürres Geflecht feinster Fäden übrig blieb, ein filigranes Netz, das der nächste, kräftige Windstoß zerreißen und seine unscheinbaren Einzelteile in den frühherbstlichen Himmel hinauf pusten würde.
Gregor fröstelte, Er wandte den Blick von der Villa und den unheimlichen Dingen, die sich dort ereigneten, ab. Vielleicht war dies ja ein Traum. Aber als er später in seinem alten, abgewetzten schwarzen, Ledersessel, den er vor Jahren ins Gartenhaus geschleppt hatte, saß, dachte er wieder an die verstörende Begegnung mit Eva – und er wusste, das er nicht träumte.
An einem besonders heißen Augusttag hielt Gregor es bereits am Vormittag im Schatten der alten Eichen neben dem Haus nicht mehr aus. Eigentlich hatte er sich für diesen Tag frei genommen, um einmal in Ruhe seinen Schreibtisch aufzuräumen und, weil das Finanzamt ihm eine Mahnung geschickt hatte, seine Steuererklärung zu erledigen.
Doch nach einer Stunde unkonzentrierter Arbeit trieb ihn eine seltsame Unruhe wieder aus seinem Arbeitszimmer in den Garten hinaus, wo er sich für ein paar Minuten auf die Tropenholz-Bank setzte.
Die Luft war schwer und feucht, und auf Gregors Shirt bildeten sich erste Schweißflecken. Er beschloss, wieder ins Haus zu gehen und sich im Keller ein kühles Bier zu holen.
Gregor stieg die steile Kellertreppe hinab, stolperte, weil ihn ein plötzlicher Schwindel erfasste, und nur weil er sich geistesgegenwärtig an den Handlauf klammerte, konnte er einen Sturz verhindern.
Vorsichtig und mit weichen Knien ging er weiter. Er stieß die schwere, massive Holztür zum Vorratsraum auf, schaltete die Deckenbeleuchtung ein – und erstarrte. Vor dem Regal mit den Konservendosen und Weinflaschen erblickte er im schummrigen Licht der nackten Glühbirne eine Gestalt in einem langen, dunklen Mantel.
Gregor war mehr überrascht als erschrocken, denn Ängstlichkeit gehörte nicht zu seinen Schwächen, und er glaubte auch nicht an Gespenster, bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls.
Die Gestalt wandte ihm den Rücken zu, aber mit einem plötzlichen Ruck drehte sie sich um und blickte ihm in die Augen. Gregor konnte nicht glauben, was er sah.
Jetzt sprach die Gestalt zu ihm, mit einer Stimme, die ihm vertraut war. Kein Zweifel, es war Evas Stimme, doch die Gelassenheit und Sanftheit, mit der sie sprach, irritierte ihn.
„Ich verzeihe dir“, sagte Eva, den Mund zu einem seltsamen Lächeln verzogen. Ja, war wirklich Eva –und doch konnte sie es nicht sein, dachte Gregor, denn sie sah völlig anders aus, als noch vor wenigen Stunden.
Ihre dunkelbraunen Haare waren jetzt blond. Doch vor allem fielen Gregor die zahllosen Tattoos auf Evas Haut auf, kleine geometrische Figuren. Sie schmückten ihren Hals, ihre Wangen und sogar die Stirn.
Auch auf ihrer Brust und auf ihrem Bauch konnte er jetzt Tätowierungen erkennen, denn der schwarze Mantel, unter dem Eva anscheinend nichts anhatte, war weit geöffnet, so dass er den Blick auf die mit Tinte gestochenen Kunstwerke freigab. Gregor zweifelte nicht daran, dass die Tattoos echt waren.
Gregor merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er fühlte sich, als habe er hohes Fieber. Er konnte sich nicht bewegen und auch nichts sagen.
Und dann fiel sein Blick auf Evas Füße. Er sah nicht nur, dass sie nackt waren, sondern auch, dass an beiden Füßen der kleine Zeh fehlte. Wie abgeschnitten, dachte er, und jetzt stieg Übelkeit in ihm auf.
Gregor sah, wie das Lächeln aus Evas Gesicht verschwand – oder aus dem Gesicht der Frau, die er für Eva hielt. „Du Narr“, sagte sie, und ein leichtes Bedauern klang in diesen zwei Worten mit.
Dann griff sie mit ihrer rechten Hand in die Manteltasche und zog ein Messer heraus. Gregor erkannte es gleich, es war sein spanisches Outdoormesser. Ehe er sich versah, rammte Eva es sich in die Brust, den Griff mit beiden Händen fest umklammernd.
Panikartig stürmte Gregor aus dem Kellerraum, hetzte die Treppe hinauf, lief durch den Flur, öffnete die Haustür und rannte hinaus in den parkähnlichen Garten.
Unter einer Blutbuche sank er zu Boden. Er rollte sich zusammen und blieb regungslos liegen.
Eine tiefe Ruhe überkam Gregor, vielleicht die Art von Ruhe, dachte Gregor, die einen erfüllt, wenn man mit dem Leben abgeschlossen hat. Doch er lebte, er lebte weiter, auch wenn sein Zustand etwas Lebloses hatte: ein lebloser Geist und ein lebloser Körper, zumindest für ein paar Stunden.
Später saß Gregor mit Eva am runden, massiven Eichentisch im Esszimmer. Sie hatte Steaks gebraten und einen Salat zubereitet. Mit einer silbernen Gabel steckte Gregor sich ein zartes Stück Fleisch in den Mund.
Es schien alles wieder ganz normal zu sein. Seine Frau sah aus wie immer, machte die gewohnte, kritische Bemerkung über seine Essmanieren und langweilte ihn mit einem Vortrag über die Folgen übermäßigen Fleischkonsums. Es machte ihm nichts aus.
Dann fiel Gregors Blick auf etwas, das ihn irritierte. Er starrte auf Evas weiße Bluse und den roten Fleck, der sich darauf ausbreitete, genau dort, wo ihr Herz saß.
Gregor wischte sich über die Augen. Sie müssen mir einen Streich gespielt haben, dachte er. Er richtete den Blick wieder auf seinen Teller und versuchte, sich nur auf das restliche Stück Fleisch zu konzentrieren, doch er verspürte keinen Appetit mehr.
Zu seiner Frau, die ihm genau gegenübersaß, schaute Gregor nicht mehr hin. Er achtete auch nicht mehr darauf, ob sie etwas sagte.
Nach dem Essen rauchte Gregor in seinem Arbeitszimmer eine Zigarette und trank einen Cognac. Dann öffnete er die oberste Schublade des Schreibtisches und stellte fest, dass sein spanisches Outdoormesser nicht mehr darin lag.
Gregor trank noch einen Cognac und machte sich mit dem Gedanken vertraut, den Verstand verloren zu haben.
3.
Gregor musste kurz im Sessel eingeschlafen sein. Ihn fröstelte – und er hüllte sich in eine alte Wolldecke. Er hörte, wie Vögel auf dem Flachdach des Gartenhauses herumliefen.
Er blickte aus dem Fenster und bemerkte, dass es bereits dämmerte. Wie lange er wohl geschlafen hatte? Wahrscheinlich mehrere Stunden.
Er zündete die Petroleumlampe an und begann mit den Vorbereitungen. Draußen, vor der Hütte brauchte er kein Licht, denn der Vollmond leuchtete den Garten recht gut aus.
Gregor stellte den verrosteten Feuerkorb in die Mitte der Wiese, möglichst weit weg von den großen Bäumen. Er füllte den Metallkorb mit Zeitungspapier, trockenen Zweigen und Aststücken des im vergangenen Jahr gefällten alten Zwetschgenbaums. Dann zündete er alles an.
Als die Flammen loderten, holte er das Fotoalbum, das er zusammen mit dem grünen Flusskiesel in seinem Rucksack ins Gartenhaus gebracht hatte, und warf es in Feuer.
Das Album enthielt ausschließlich Bilder aus dem ersten Urlaub mit Eva, als sie im gemieteten Wohnmobil drei Wochen durch Südfrankreich gekurvt waren und er an einem Sandstrand in der Nähe von Sete einen schlimmen Sonnenbrand bekommen hatte.
Gregor empfand keine Wehmut oder Traurigkeit, während er zusah, wie die Dokumente einer glücklichen Zeit Opfer der Flammen wurden. Stattdessen fühlte er eine große Erleichterung, als nur noch Asche und ein wenig Glut im Feuerkorb waren. Eine innere Stimme raunte ihm zu: Tu es! Tu es jetzt! Und Gregor beschloss, es zu tun.
Er ging ins Gartenhaus und zwängte sich mühsam in Evas roten Regenmantel, der ihm mindestens eine Nummer zu klein war. Er setzte sich die schwarze Kappe auf, die Eva oft getragen hatte, wenn sie im Garten arbeitete. Er nahm den Kieselstein und steckte ihn in die rechte Tasche des Regenmantels.
In die linke Tasche ließ er sein Klappmesser gleiten, dessen Klinge er am Tag zuvor noch geschärft hatte. Dann verließ er die Hütte, durchquerte den Garten und suchte die Lücke in der dichten Buxbaumhecke, die sein Grundstück von dem des Nachbarn trennte.
Das Mondlicht erleichterte Gregor die Suche, und im Nu befand er sich auf der anderen Seite der Hecke, auf einem kleinen, mit Natursteinen gepflasterten Weg, direkt neben einem Rosenbeet.
Jan, sein Nachbar, liebte Rosen, Gregor hasste sie. Überhaupt mochte er keine Blumen, auch wenn er Eva in den ersten Jahren hin und wieder einen Blumenstrauß geschenkt hatte. Doch nie Rosen.
Meistens waren es Blumen, die Eva spöttisch als Friedhofsblumen bezeichnete. „Die passen eher zu einer Beerdigung“, meinte sie, worauf er, ein wenig eingeschnappt, erwiderte, dass er sich mit Blumen nicht so gute auskenne, aber diese Sorte habe ihm eben gefallen.
Damals glaubte Gregor, dass sich Eva auch über die unpassenden Blumen zumindest ein bisschen gefreut hätte. Später war er sich nicht mehr so sicher. Irgendwann schenkte er ihr keine Blumen mehr. Und auch nichts anderes.
Gregor war fast an der Rückseite des Hauses angelangt, als er ein Geräusch hörte, das er zunächst nicht einordnen konnte. Dann sah er einen Schatten, der auf ihn zueilte.
Es war der mittelgroße Hund des Nachbarn, ein freundlicher Zeitgenosse, der ihn wohl erkannt hatte und sich über seine Gesellschaft freute, denn er bellte nicht und umrundete ihn schwanzwedelnd und erwartungsfroh.
Warum der Hund noch draußen war, wusste Gregor nicht, aber er konnte jetzt keinen Zeugen gebrauchen. Seine Hand fuhr in die linke Regenmanteltasche.
Es ging recht schnell und ohne Probleme. Dann stand er vor der Tür zum Wintergarten. Er lauschte, doch alles war ruhig. Er fand den Schlüssel wie erwartet unter dem Terracotta-Topf der Kübelpflanze, die neben der Glastür stand. Um ein Haar hätte er sie umgeworfen.
Gregor atmete mehrmals tief durch und schloss so leise wie möglich die Tür auf. Er wusste, wo sich das Schlafzimmer im ersten Stock befand. Er wusste auch, dass sein Nachbar, der seit dem Tod seiner Frau vor circa zwei Jahren allein lebte, in der Regel nach dem abendlichem Schlummertrunk tief und fest schlief.
Er wünschte sich, eine Taschenlampe mitgenommen zu haben – so musste er sich im Dunkeln behutsam voran tasten, Schritt für Schritt.
Erst durch den Wintergarten, dann durch den Flur, die leicht knarrende Holztreppe hinauf, bis zur zweiten Zimmertür auf der linken Seite. Er holte das Messer, am dem noch Blut klebte, aus der Manteltasche und versuchte, es an seinem Hosenbein trocken zu wischen.
Gregor streifte seine feuchten Hände ebenfalls am Hosenstoff ab, damit er den Messergriff fest in der Hand halten konnte. Dann drückte er vorsichtig die Klinke herunter, öffnete lautlos die Tür, gerade einen Spalt breit, so dass er durchschlüpfen konnte.
Es war ein kurzer Kampf. Sein Nachbar Jan hatte ihn bereits erwartet.
4.
Jan wusste, dass Gregor in der Vollmondnacht kommen würde. Er war auch sicher, dass Gregor Eva in einer Vollmondnacht umgebracht hatte. Doch wo Gregor die Leiche verscharrt hatte, dass wusste Jan nicht, zumindest nicht genau. Aber er hatte eine Ahnung, und der wollte er nachgehen.
Ohne Leiche wäre Gregor nichts nachzuweisen. Und außer ihm vermisste niemand Eva. Die nächsten Nachbarn wohnten einen Kilometer entfernt, und von Freunden oder Verwandten von Eva und Gregor hatte er nie etwas gehört oder gesehen.
Nach dem zweiten Schlag mit dem Wagenheber rührte sich Gregor nicht mehr. Sein Messer lag nutzlos neben ihm auf dem Boden. Zur Sicherheit holte Jan noch zu einem weiteren Schlag auf Gregors Kopf aus. Der ist für Eva, dachte Jan.
Gleich morgen früh, nach Tagesanbruch, würde er sich aufmachen, um in Gregors Garten nach Eva zu suchen. Oder besser nach dem, was von ihr noch übrig war. Falls er Eva finden sollte, wollte er sie an einen besonderen Ort bringen, dorthin, wo sie sich wohl fühlen würde.
Gregors lebloser Körper war Jan egal. Jan würde ihn einfach hier im Schlafzimmer liegen lassen. Mitten in der großen Blutlache. Gregor sollte hier verbrennen, wie alles andere auch.
Alles sollte in Flammen aufgehen und zu Asche werden. So wie Isabel, vor zwei Jahren, nachdem Jan im aufbrausenden Zorn einen Fehler gemacht hatte – und sie dann unglücklich gefallen war.
Isabels Asche hatte er im Kiefernwald hinter dem Grundstück verstreut. Dort, wie sie so gern spazieren gegangen war und sich am Gesang der Vögel erfreut hatte.
Eva hatte Jan nicht annähernd so wütend gemacht wie Isabel. Doch das war jetzt egal. Ab Morgen würde alles anders sein. Auch wenn er Eva nicht finden sollte.
Alle persönlichen Dinge, die Jan in seinem neuen Leben nicht missen wollte, sowie eine Grundausstattung an Kleidungsstücken hatte er in seinem vollgetankten Kombi längst verstaut. Genügend Bargeld, um die nächsten Jahre nicht hungern zu müssen, befand sich in einem stabilen Metallkoffer mit Zahlenschloss.
Sein Ziel kannte nur er selbst. Eine alte, aber recht komfortable Jagdhütte in einer abgelegen Gegend des Bayerischen Waldes würde sein neues Zuhause sein.
Mit der Einsamkeit würde er schon klarkommen. Die Tiere des Waldes würden seine neuen Freunde werden. Und er hatte ja Wotan, seinen treuen Mischlingshund. Den er auf einmal vermisste. Eine böse Ahnung erfüllte Jan.
Am nächsten Morgen, trotz des Schmerzes über den Verlust seines Hundes hatte Jan ein paar Stunden geschlafen, riss ihn der Radiowecker mit den Gitarrenriffs eines benannten Rock-Klassikers aus einem verworrenen Traum. Danach lief nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Es regnete sintflutartig. Jan verwarf den Gedanken, den toten Wotan im Garten zu begraben. Vom Wintergarten aus konnte er sehen, dass sich sein Grundstück bereits in einen See verwandelt hatte.
Es musste die ganze Nacht hindurch heftig geregnet haben. Die geplante Suche nach Eva konnte er vergessen.
Ratlos stand Jan zwischen zwei Topfpalmen, blickte hinaus und lauschte dem lauten Prasseln der dicken Regentropfen, die auf das Wintergartendach fielen. Wie ein Wasserfall strömte die Regenflut die gläsernen Wände hinab.
Er bemerkte, dass er mit seinen Schuhen bereits bis zur Hälfte im Wasser stand. Irgendwo musste das nasse Element einen Weg durch die Fugen gefunden haben. Jan fragte sich, ob das Wasser auch schon seine Kellergarage geflutet hatte.
Dann hörte er, wie ein Gewitter heraufzog. Die Donnerschläge wurden immer lauter, grelle Blitzen begleiteten das anschwellende Dröhnen. Das Unwetter schien sich direkt über seinem Haus auszutoben. Es war allerhöchste Zeit zu verschwinden.
Jetzt galt es, schnell das Haus für das Feuer zu präparieren. Jan schleppte den großen Benzinkanister aus dem Keller nach oben und verteilte den Inhalt in allen Räumen, zunächst im ersten Stock, dann im Erdgeschoss.
Im Badezimmer stellte Jan fest, dass der Benzinkanister leer war. Egal dachte er, darauf kommt es nun auch nicht mehr an. Ihm fiel ein, dass er seinen Metallkoffer, der seine gesamten Ersparnisse enthielt, noch aus dem Arbeitszimmer holen musste.
Jan ging die Treppe hoch und weiter durch den Flur in Richtung Arbeitszimmer. Als er die offene Schlafzimmertür erreicht hatte, zwang irgendetwas ihn, einen Blick hineinzuwerfen.
Abrupt blieb er stehen. Gregor lag noch genauso da, wie vorher. Warum sollte sich sein Leichnam auch bewegt haben?
Aber da war etwas, das neben Gregors zertrümmertem Schädel lag, etwas, das ganz intensiv leuchtete, grün leuchtete – dort auf dem Parkettboden am Rand der Blutlache, die jetzt nicht mehr rot sondern eher bräunlich aussah.
Wie gebannt starrte Jan auf dieses Ding. Nach einem weiteren ohrenbetäubenden Donnerschlag fiel plötzlich im ganzen Haus die Beleuchtung aus. Der Schlafraum wurde in ein unwirkliches, grünes Licht gehüllt.
Zögerlich trat Jan etwas näher und konnte nun erkennen, dass der so hell strahlende, grün leuchtende Gegenstand rund war und wie ein Stein aussah. Vielleicht ein Kieselstein dachte Jan, fragte sich aber, warum er so intensiv leuchtete?
Jan stellte den Geldkoffer ab und bückte sich. Vorsichtig streckte er seine rechte Hand nach dem Leuchtstein aus.
Mit einem Mal war es völlig ruhig. Kein Donnern mehr, auch das Prasseln des Regens hatte schlagartig aufgehört.
Mit seinen Fingerspitzen berührte Jan behutsam den rätselhaften Stein – und erhielt einen leichten elektrischen Schlag. Er zuckte zurück und spürte, wie sich eine angenehme Wärme wellenartig in seinem Körper ausbreitete.
Der Stein hatte seine Farbe gewechselt und leuchtete jetzt rot. Auch seine Form hatte er geändert, er war jetzt herzförmig. – Jan glaubte zu bemerken, dass er leicht pulsierte, so als habe er ihn durch seine Berührung zum Leben erweckt.
Jan sah, wie sich im rhythmisch pulsierenden Herz kleine Risse bildeten, die schnell größer wurden. Und dann platzte das merkwürdige Gebilde auseinander, und eine grellrote Flüssigkeit spritzte auf den Teppichboden – und auch auf Jans Schuhe und seine Hose.
Jan, der immer noch von einer wohligen Wärme erfüllt war, blickte auf seine Schuhe. Auf beiden ledernen Oberflächen brodelte es, als hätte jemand eine ätzende Säure darauf geschüttet.
Ein schwefliger Geruch stieg Jan in die Nase . Er sah, dass sich den Beinen seiner Jeans Löcher entstanden waren. Es brannte höllisch.
Doch für einen Moment lenkte ihn etwas von dem Schmerzgefühl ab – eine Gestalt, die auf einmal dort auftauchte, wo Sekunden vorher noch der Stein beziehungsweise das Herz gelegen hatte.
Jan stockte der Atem. Er achtete nicht darauf, dass die ätzende Flüssigkeit bereits leise zischend seine Füße erreicht hatte und zerstörerisch in die Haut drang. Alle seine Sinne waren auf die Frau gerichtet, die da vor ihm stand.
Es war Eva. Sie trug das schwarze Abendkleid, das ihr so gut stand und ihre schlanke Figur betonte.
Eva lächelte ihn an, genau so verführerisch und unwiderstehlich wie damals, als er sich das erste Mal mit ihr am Seeufer bei der alten, großen Weide verabredet hatten.
„Komm“, sagte sie jetzt zu ihm, während ihre hellblauen Augen strahlten, „nimm meine Hand, dann spürst du keinen Schmerz“. Und er ergriff ihre zarte Hand, die sie ihm entgegengestreckte, während seine Füße und Schienbeine sich auflösten. Er sackte auf die Knie und umklammerte mit beiden Händen Evas Hüften, um nicht umzufallen. Nichts tat ihm weh.
Eva löste Jans zitternde Hände von ihren Hüften und stieß ihn zu Boden, so dass die Säure den Rest seines Körpers zerstören konnte.
Jan erinnerte sich, wie er dabei zuschaute, wie Eva nackt und laut lachend die Uferböschung hinunter rannte und hinein ins klare Seewasser sprang, kurz untertauchte und dann prustend rief, er solle auch ins Wasser kommen, es sei gar nicht so kalt und einfach herrlich.
Eng umschlungen standen sie bis zur Brust im sommerlich warmen Seewasser. So muss es im Paradies gewesen sein, dachte Jan, von Glück und Verlangen erfüllt.
Es war sein letzter Gedanke, bevor sein Körper sich endgültig auflöste und sein Geist erlosch. Nur noch ein großer, gelblich-brauner Fleck im Teppichboden blieb von Jan übrig, eine hässliche, übel riechende Stelle, auf der am nächsten Tag wie von Zauberhand dutzende Gänseblümchen sprießen sollten.
Doch da hatte sich das Wesen, das von den Menschen Eva genannt wurde, längst in Jans Schlafzimmer entmaterialisiert und die Rückreise zu seinem Heimatplanten im Sternbild Auriga angetreten. Seine Forschungsmission war beendet.