Der nächste Schritt

Adrian schloss die Augen und zählte langsam bis Zehn. Als er seine Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass sich nichts geändert hatte. 

 

Noch immer stand er im hohen, blassgelben Gras einer weiten Ebene, und ein warmer, lebhafter Wind blähte die Kapuze seiner Regenjacke auf. Adrian hatte keine Ahnung, wie er an diesen Ort gelangt war. 

 

Vor ein oder zwei Minuten wanderte er noch durch den Auenwald und hatte fast schon die Blockhütte erreicht. Er freute sich darauf, dem unerbittlichen Dauerregen zu entkommen und sehnte sich danach, endlich die unbequemen Trekking-Boots von seinen schmerzenden Füßen ziehen zu können, doch urplötzlich war er von einem undurchsichtigen Nebel umhüllt, so dass er abrupt stehenblieb. 

 

Der Nebel hatte sich nach ein paar Sekunden wieder aufgelöst, da befand sich Adrian allerdings auf einmal ganz woanders. 

 

Er erinnerte sich an einen ziemlich verrückten, aber sehr realistischen Traum, der ihn nach dem Aufwachen am frühen Morgen für ein paar Minuten in einen verwirrten Zustand versetzt hatte, doch jetzt war er sicher, nicht zu träumen. Allerdings musste irgendetwas äußerst Merkwürdiges passiert sein.

 

Adrian drehte sich einmal um die eigene Achse. Er sah, dass sich in der Richtung, aus der die Windböen kamen, ein kleiner Wald erstreckte, eine Gruppe stattlicher Bäume, die in der eintönigen Graslandschaft wie eine Oase wirkte. 

 

Ihm war heiß, und als er nach oben blickte, bemerkte er, dass die grellgelbe Sonne hoch am Himmel stand. Sie erschien ihm viel größer als normalerweise. 

 

Es muss um die Mittagszeit sein, dachte er und beschloss, seine Regenjacke, unter der er jetzt heftig schwitzte, auszuziehen. Während er sie abstreifte, wurde sie von einem Windstoß erfasst und weg geweht. Adrian hielt es für sinnlos, der Jacke hinterher zu rennen.

 

Ich muss aus der prallen Sonne raus, dachte er, ohne Kopfbedeckung bekomme ich sonst bald einen Sonnenstich. 

 

Vor dem Beginn seiner Wandertour hatte er darauf verzichtet, einen Rucksack mitzunehmen, doch jetzt war er froh, wenigstens eine Feldflasche mit Wasser an seinem Gürtel befestigt zu haben. Gierig trank er nun aus der dickbauchigen, zerbeulten Aluminiumflasche, die bereits seinen Großvater auf unzähligen Wandertouren begleitet hatte. 

 

In die rechte Außentasche seiner wetterfesten Cargo-Jeans hatte Adrian für den Notfall drei Müsli-Riegel gesteckt, die ihm vielleicht schon bald wertvolle Dienste leisten würden. 

 

Adrian fiel sein Smartphone ein, das in der anderen Hosentasche verstaut war. Er zog es heraus, wollte es per Fingerdruck aktivieren, doch nichts passierte. Das Display blieb dunkel. 

 

Er drückte noch vergeblich auf einigen Tasten herum, musste sich dann aber eingestehen, dass der Akku anscheinend vollkommen leer war. 

 

Rätselhaft, dachte er. So rätselhaft wie die plötzliche Reise an diesen unbekannten Ort, wo eine riesige Sonne die flimmernde Luft erhitzte und ein kräftiger, warmer Wind das stiefelhohe Gras hin und her wogen ließ. 

 

Adrian hatte seine Feldflasche bereits restlos geleert, als er den Waldrand erreichte. Direkt vor den ersten Bäumen stehend, war er überrascht von deren Größe. 

 

Staunend blickte er zu den Wipfeln hinauf und versuchte zu schätzen, wie hoch die Bäume waren. Ihm fiel auf, dass die Äste tellergroße, herzförmige Blätter trugen, die auf ihren Unterseiten eine Art flauschiges Fell aufwiesen.  

 

Diese Giganten könnten gut und gerne hundert Meter groß sein, dachte er staunend und machte er paar Schritte in den kühlen Schatten des am nächsten stehenden Baumriesen hinein. 

 

Die Windböen, die in das dichte Laub des Baumes hineinfuhren, ließen die Blätter heftig aneinander reiben, so dass ein ungewöhnliches Geräusch entstand. Kein Rauschen, wie es Adrian auf seinen Waldwanderungen vertraut war, sondern eher eine Art Seufzen, ab und zu unterbrochen von einem Klang, der an einen schwer ein- und ausatmenden Menschen in Not erinnerte. 

 

Für einen Moment ließen diese seltsamen Geräusche Adrian frösteln, obwohl er von seinem anstrengenden Marsch durch die Gras-Ebene noch völlig erhitzt war.

 

Plötzlich hörte er, wie irgendetwas sich von hoch oben krachend seinen Weg durch das dichte Geäst und Blätterwerk bahnte. Etwas Schweres schien von der Krone des Baumes herunter zu fallen. Instinktiv legte Adrian seine Arme schützend über den Kopf.

 

Mit einem dumpfen Geräusch landete das Objekt nicht weit von  Adrians Füßen entfernt. Es hätte mich fast getroffen, dachte Adrian, eher erstaunt als erschrocken, und begutachtete das Ding, das jetzt im halb verrotteten Laub lag.

 

Der Gegenstand war rund und hatte etwa die Größe eines Halloween-Kürbisses. Seine Oberfläche glänzte in tiefem Schwarz und erinnerte Adrian an Klavierlack. 

 

Er konnte keinerlei Kratzer oder Dellen auf der Kugel erkennen, was ihn wunderte, denn das seltsame Objekt musste während seines Falls bestimmt mit einigen Ästen und Zweigen in Berührung gekommen sein. 

 

Während Adrian sich fragte, was es mit dieser merkwürdigen Kugel auf sich hatte und ob sie vielleicht nicht von der Baumspitze sondern vom Himmel herabgestürzt war, bemerkte er, wie ein Riss sich horizontal auf dem runden Ding ausbreitete, dort, wo auf dem Erdball der Äquator verlief. 

 

Dann klappte sich die obere Hälfte der Kugel mit einem schmatzenden Geräusch auf – und ein kleines Wesen sprang heraus. Die höchstens einen Viertel Meter große, menschliche Gestalt versank fast bis zur Hüfte in der modrigen Blätterschicht. 

 

Zunächst wollte der verblüffte Adrian seinen Augen nicht trauen, aber nach einigen Sekunden wurde ihm klar, an wen in der Zwerg erinnerte. Und als die Mini-Gestalt ihm zuwinkte und angrinste, hatte er keinen Zweifel mehr, dass es sich bei dem Wesen aus der schwarzen Kugel um seinen Freund Sven handelte. Allerdings war Sven vor mehr als einem Jahr tödlich verunglückt.

 

Unglaublich, dachte Adrian, der tote Sven, wiederauferstanden in einer Schrumpf-Version. Er überlegte, ob er mitten in einem grotesken Traum steckte – oder einfach völlig verrückt geworden war.

 

„Wahnsinn“, brach es aus ihm heraus, was den kleinen Sven zu einer sofortigen verbalen Korrektur veranlasste, denn dieser erwiderte mit erstaunlich lauter, klarer Stimme: „Nein, kein Wahnsinn, mein Freund, sondern ganz normale Realität. So real, wie es in dieser Dimension möglich ist. Man könnte vielleicht auch sagen, eine Wirklichkeit der anderen Art.“

 

„Aber, aber wie ist das möglich?“, stammelte Adrian, „du bist doch tot. Ich war doch dabei, als es auf der Intensivstation mit dir zu Ende ging. Ich erinnere mich noch genau, wie die Geräusche der medizinischen Apparaturen plötzlich verstummten und die Bewegungen auf den Monitoren zum Stillstand kamen. Mensch, ich hab’ dich doch sterben sehen …“ 

 

„Ja, das kann durchaus sein“, sagte Sven mit einem merkwürdigen Lächeln im Gesicht, „aber das spielt überhaupt keine Rolle, denn erstens bin ich jetzt hier, und zweitens geht es im Moment um dich, lieber Adrian, und das ist auch der Grund, warum ich die weite, anstrengende Reise auf mich genommen habe.“

 

„Denn ohne meine Hilfe“, fuhr Sven fort, und seine Stimme klang auf einmal sehr ernst, „ohne meine Unterstützung wärest du nicht in der Lage, den nächsten Schritt zu tun. Und das hätte dann tragische Folgen für dich und wäre höchst bedauerlich.“

 

Adrian schwirrte der Kopf, er hatte keine Ahnung, wovon sein Freund, der doch eigentlich mausetot sein musste, redete. 

 

Natürlich wollte er wissen, wie es möglich war, dass es Sven jetzt in einer Mini-Version gab, quicklebendig und anscheinend kerngesund. Auch über dessen Reise mit dieser seltsamen Kugel hätte er gern Näheres erfahren, doch vor allem wollte er wissen, was sein Freund eigentlich mit der Aufforderung meinte, den nächsten Schritt zu tun. 

 

„Was meinst du denn damit, Sven, ich soll den nächsten Schritt machen?“ Adrian fiel auf, dass sein Gegenüber in der letzten Minute anscheinend ein beträchtliches Stück gewachsen war. Sven schien jetzt die Hälfte seiner normalen Körpergröße erreicht zu haben. Aber was ist im Moment eigentlich noch normal, fragte sich Adrian. Vielleicht sollte ich mir abgewöhnen, über ungewöhnliche Ereignisse zu staunen. 

 

„Ich will dir sagen, was ich damit meine, lieber Adrian“, sagte Sven. Er hatte jetzt wieder seine ursprüngliche Körpergröße erreicht und zwei Schritte auf Adrian zu gemacht. 

 

Eine Armlänge vor ihm stehend schaute er ihm direkt in die Augen, und Adrian fiel auf, dass Svens Augen die Farbe gewechselt hatten. Er war sicher, dass sie früher dunkelbraun gewesen waren, doch jetzt leuchten sie in einem hellen Türkis, was Adrian ziemlich unheimlich fand, und ein kalter Schauer lief ihm über den verschwitzten Rücken 

 

Ein seltsames, fast spöttisches Grinsen tauchte in Svens Gesicht auf, als er fortfuhr. „Ich meine, dass es kein Zurück für dich gibt, Adrian. Dir bleibt nichts anderes übrig, als den nächsten Step zu machen. Und das bedeutet, du musst nach oben klettern, bis zur Plattform, die von einigen auch das Nest genannt wird. Wenn du dort angekommen bist, erhältst du dann vom Zwielichtmeister den Nebeltrank, mit dessen Hilfe dir später die Augen geöffnet werden und du Klarheit erhalten wirst.“

 

Adrian hatte Mühe, Svens Erklärungen zu folgen. Das Einzige, was er glaubte, verstanden zu haben, war, dass er auf den großen Baum hinauf klettern solle. 

 

„Du meinst wirklich, meine einzige Chance, wieder nach Hause zurückkehren zu können, besteht darin, dass ich auf diesen riesigen Baum ganz bis nach oben klettere? Aber das ist doch unmöglich, der Baum ist doch bestimmt hundert Meter groß. Wie soll ich das denn bloß schaffen?“

 

Sven lächelte. „Du wirst sehen, Adrian, es ist ganz leicht, nach oben ins Nest zu gelangen. Das Hinaufklettern ist kaum schwerer, als eine Treppe hoch zu gehen, denn die stabilen Äste dieses majestätischen Baumes sind so perfekt angeordnet, dass auch ein ungeübter Kletterer keine Mühe hat, schnell ans Ziel zu gelangen. Und so sportlich wie du bist, hast du den Aufstieg in wenigen Minuten geschafft und erhältst vom Zwielichtmeister deine wohlverdiente Belohnung.“

 

Adrian wollte schon fragen, wer dieser Zwielichtmeister war, warum er so genannt wurde und was er überhaupt für eine Rolle spielte, doch Sven fuhr bereits fort, jetzt wieder mit todernster Miene. 

 

„Und Adrian, eines sollte dir klar sein, wenn du davon sprichst, zurück nach Hause zu wollen, eine Rückkehr in deine frühere Existenz ist nicht möglich. Blicke nicht zurück, sondern nur nach vorn. Oder ich könnte es auch anders formulieren: Dein ehemaliges Zuhause gibt es nicht mehr, dir bleibt nur der nächste Schritt, ein wichtiger Schritt in die Zukunft. Und um diesen Schritt zu gehen, hast du nur noch ganz wenig Zeit, genauer gesagt,“ – und jetzt schaute Sven auf seine filigrane, silberne Armbanduhr, die er am linken Handgelenk trug – „exakt bleiben dir noch sieben Minuten und dreizehn Sekunden.“

 

Der intensive, fast schon drohende Blick aus Svens unnatürlich türkisfarbenen Augen signalisierte Adrian, dass sein Freund es ernst meinte. „Du solltest also nicht mehr lange überlegen“, sagte Sven, „ob du den Baum hinauf klettern oder lieber hier unten im Laub verharren willst, wo du nach Ablauf der Frist im Nichts verschwinden wirst.“

 

Adrians Gedanken schwirrten wild umher, und er fühlte einen leichten Schwindel, doch dann gelang es ihm, sich zu konzentrieren und eine Frage zu stellen. „Wie meinst du das, ich werde im Nichts verschwinden, wenn ich hier unten bleibe?“ 

 

„Na ja“, meinte Sven, und sein Tonfall war jetzt väterlich-verständnisvoll, so als erkläre er einem fünfjährigen Kind mit mühevoll aufgebrachter Geduld etwas völlig Selbstverständliches, „das ist vielleicht nicht ganz einfach zu verstehen. Aber stelle dir das Nichts als einen sehr fernen Ort im Universum vor, sagen wir eine Art Schwarzes Loch, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Rolle spielen, und wo es auch kein Bewusstsein mehr gibt. Möchtest du für alle Ewigkeiten an einen solchen Ort verbannt werden?“

 

„Ich weiß nicht“, erwiderte Adrian, und eine seltsame Unruhe erfüllte ihn. Verwirrt murmelte er, „das klingt irgendwie nicht gut, nein, nicht wirklich …“ 

 

„Glaub mir, mein Freund, dort möchtest du nicht hin. Also vertrau mir, gib dir einen Ruck und tu das einzige Vernünftige: Kletter hinauf, bevor es zu spät ist. Jetzt gleich.“ 

 

Wie um Svens Forderung Nachdruck zu verleihen, ertönte hoch oben im Himmel ein sonores Donnergrollen. Adrian deutete es als Warnsignal und erkannte, dass er sich entscheiden musste. 

 

Ich will es lieber nicht darauf ankommen lassen, in einem schwarzen Loch zu verschwinden, überlegte er. Vielleicht sollte ich Sven einfach vertrauen, auch wenn er sich doch in seltsamer Weise verändert hat, seitdem er von den Toten wiederauferstanden ist. Früher war er immer der freundlichste, umgänglichste und netteste Mensch der Welt, doch jetzt geht etwas Unheimliches, Bedrohliches von ihm aus. Und dann seine seltsamen Augen …

 

Er bemerkte, dass Sven wieder auf seine Armbanduhr schaute. „Noch drei Minuten und vierundzwanzig Sekunden, mein Freund.“

 

Adrian spürte, wie ein Schweißtropfen über seine Stirn glitt und von der Nasenspitze heruntertropfte. Ihm war jetzt so heiß, als befände er sich in einer Sauna. 

 

„Na gut, Sven“, brach es aus ihm heraus, „ich habe mich entschieden. Aber wehe, wenn du mich belogen hast, und das Hinaufklettern doch nicht so leicht ist, wie du behauptest.“

 

Das überhebliche Lächeln tauchte wieder in Svens Gesicht auf. „Keine Sorge, Adrian, du kannst mir voll vertrauen, ich würde doch einen sehr guten Freund niemals belügen. Und meinen Glückwunsch zu deiner Entscheidung, sie ist natürlich goldrichtig. Aber jetzt solltest du dich auf den Weg nach oben machen, denn die Frist läuft gleich ab, in“, und er blickte nochmals auf seine Armbanduhr, „in genau einer Minute und fünf Sekunden.“ 

 

Dann machte Sven zwei Schritte zur Seite, so als wolle er Adrian nicht im Weg stehen. Dieser hatte jetzt einen freien, direkten Blick auf den enormen Stamm des Baumriesen. Staunend beobachtete er, wie aus der rissigen Rinde, in etwa einem halben Meter Höhe, sekundenschnell ein gerader Ast heraus wuchs, und sich darüber weitere neue Äste aus dem Stamm schoben, so dass eine Art Leiter entstand. 

 

Adrian zögerte nicht lange, warf noch einen Blick auf Sven, der grinsend auf den magischen Baum blickte, den rechten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben gerichtet, als wolle er ihm die Richtung anzeigen, dann prüfte er den untersten Ast auf seine Festigkeit und begann mit dem Aufstieg.

 

Die ersten auf dem nackten Stamm wie durch Zauberhand entstandenen Äste waren ideal, um schnell hoch zu klettern. Als Adrian den Bereich erreichte, wo das Geäst dichter wurde, befand er sich plötzlich in einem Meer von großen, herzförmigen Blättern, deren aneinander Reiben ein seltsames, verstörendes Geräusch erzeugte. In Adrians Ohren klang es wie ein Seufzen, wie zarte Klagelaute, die aus tiefster Seele kamen. 

 

Er versuchte, die Beklommenheit, in die ihn dieses Geseufze versetzte, zurückzudrängen und sich ganz aufs Klettern zu konzentrieren. Zufrieden stellte er fest, dass es immer noch genügend stabile, perfekt angeordnete Äste gab, um ohne große Anstrengung schnell weiter voran zu kommen, auch wenn er außer großen Blättern kaum etwas sah und er ab und zu einen elastischen Zweig, der im Weg war, zur Seite drücken musste. Sven hat wirklich nicht zu viel versprochen, dachte er. 

 

Nach einiger Zeit, Adrian wusste nicht, ob er eine viertel oder vielleicht schon eine halbe Stunde den Baum empor kletterte, spürte er ein unangenehmes Ziehen in seinen Armen und Beinen – und eine leichte Müdigkeit ergriff ihn. Doch da lichtete sich das Blattwerk über ihm, und sein Blick fiel auf etwas Großes, Dunkles, das direkt über ihm zu schweben schien.

 

Das könnte die Plattform sein, von der Sven sprach, dachte er, und hoffte, am Ziel zu sein, denn er wusste nicht, ob seine Kräfte reichen würden, sollte sich die Kletterpartie noch in die Länge ziehen. 

 

Vor seinen Augen tauchte auf einmal eine Strickleiter auf, und er zögerte nicht, sie zu benutzen. Während er sich an dem hin und her schwankenden Geflecht aus dicken Seilen nach oben zog, durchströmte ihn ein optimistisches, angenehmes Gefühl, und er war sich jetzt sehr sicher, dass diese Strickleiter ihn direkt in das Nest führte. Ob ihn dort allerdings ein Wesen namens Zwielichtmeister erwarten würde, daran wollte er noch nicht so recht glauben. 

 

Nachdem er über eine halbhohe Brüstung gestiegen war, kniete er einen Moment auf dem Boden der Plattform und ließ seinen Blick schweifen: Die stattliche Konstruktion bestand aus dicken Bambusstämmen, maß vielleicht zehn mal zehn Meter und war direkt in die ausladende Krone des Baumgiganten hinein gebaut. 

 

Seitlich wurde die Plattform von Ästen und Zweigen gegrenzt, die hier oben weniger dicht belaubt waren und sich leicht im Wind bewegten. Nach oben hatte man einen freien Blick in den Himmel, der stahlblau war und von kleinen, runden Wölkchen bevölkert war, die orange leuchteten, als würden sie von einer untergehenden Herbstsonne angestrahlt. Allerdings stand die große, gelbe Sonne immer noch hoch oben am Himmel, wie Adrian bemerkte. 

 

Merkwürdig, dachte er, wie ist das möglich, doch ein Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken, und sein Blick fiel in die rechte Ecke der Plattform, aus der das Geräusch gekommen war. 

 

Verblüfft sah Adrian dort eine Gestalt stehen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht sein musste, als er in den Himmel gestarrt hatte. Gemächlichen Schrittes kam die Gestalt auf ihn zu. 

 

Es war ein Mann, wie Adrian jetzt an dem Vollbart erkannte. Der groß gewachsene Kerl – mindestens zwei Meter, schätzte Adrian, – war in einen sandfarbenen, weiten Mantel gehüllt und trug eine rote Kappe auf dem Kopf, aus der lockige, grau melierte Haarsträhnen quollen. 

 

Der Mann näherte sich ihm bis auf etwa drei Meter und blieb dann stehen. Adrian fiel auf, dass sein Gegenüber ein sehr zerfurchtes Gesicht hatte, er schätzte dessen Alter auf mindestens Siebzig, vielleicht sogar Achtzig. Er sah, dass der Mantelträger in der rechten Hand eine kleine Glocke trug. 

 

Das muss der Zwielichtmeister sein, schoss es Adrian durch den Kopf. Also gibt es ihn wirklich. Aber er wollte sicher gehen. 

 

„Mit wem habe ich die Ehre?“, fragte er. Der Mann macht noch zwei Schritte auf ihn zu, so dass Adrian erkennen konnte, wie sich dessen faltiger Mund zu einem nicht unfreundlichen Lächeln verzog und die dunklen, tiefliegenden Augen listig aufleuchteten. 

 

„Willkommen im Nest“, begrüßte er Adrian mit einer tiefen, wohltönenden Stimme, „mein Name ist Alexander Morgentau, aber man nennt mich auch den Zwielichtmeister, vielleicht, weil meine Aufgabe mit der Transformation von einer Dimension in eine andere verbunden ist, vom Dunkel ins Licht sozusagen, von der Vergangenheit in die Zukunft, leider manchmal auch umgekehrt“, worauf er ein kurzes trockenes Lachen ausstieß. „Das ist dann natürlich weniger angenehm. Ab und an kommt es sogar vor, dass ich Menschen dabei helfe, aus der Illusion den entscheidenden Schritt zur Gewissheit zu machen.“ 

 

Adrian verwirrten diese Auskünfte mehr, als dass sie etwas erklärten. Ihm fiel das Getränk ein, von dem Sven gesprochen hatte, den Namen hatte er vergessen, aber er erinnerte sich, dass er diesen Drink vom Zwielichtmeister erhalten solle.

 

„Stimmt es, Herr Morgentau, dass Sie ein spezielles Getränk für mich haben?“ Der Zwielichtmeister grinste schelmisch, trat noch einen Schritt näher, öffnete seinen weiten Mantel, zog eine kleine Flasche aus der Innentasche und hielt sie hoch.

 

„Natürlich habe ich ein Getränk für dich, lieber Adrian, und zwar ein ganz Besonderes, den Nebeltrank.“ Alexander Morgentau stand jetzt direkt vor Adrian und schwenkte das Fläschchen direkt vor dessen Nase hin und her. Adrian konnte erkennen, dass es eine milchige Flüssigkeit enthielt. 

 

„Um den nächsten Schritt erfolgreich abzuschließen“, erklärte Morgentau, „musst du diese Flasche in einem Zug leeren. Denn nur dann wirst du später alles verstehen, was dir bislang als rätselhaft oder sonderbar erschienen ist. Und die magische Kraft des Nebeltranks verleiht dir auch die Fähigkeit, die Grenze zu überschreiten und in die nächste Dimension einzutauchen.“

 

Adrian fühlte sich unsicher. Er hatte immer noch keine rechte Vorstellung davon, was mit ihm geschehen würde, wenn er diesen ominösen Nebeltrank zu sich nehmen würde. Irgendetwas in ihm schien ihn davor zu warnen, die milchige Flüssigkeit zu trinken.

 

„Was passiert eigentlich, Zwielichtmeister, wenn ich mich dazu entschließen sollte, diesen Trank nicht anzurühren?“ 

 

Alexander Morgentau lachte laut auf, und seine Augen blitzten vergnügt, doch schnell wurde seine Miene wieder ernst. „Ich werde dir sagen, was mit dir passiert, wenn du den Nebeltrank verschmähst. Weigerst du dich, den Saft der seltenen Nebelbeere zu trinken, werde ich gezwungen sein, dich unverzüglich ins ewige Dunkel zu verbannen, ich muss dich dorthin schicken, wo nichts existieren kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies dein Wunsch ist.“

 

„Nein, natürlich nicht“, beeilte sich Adrian zu antworten, „ich bin gern bereit, den Saft zu trinken.“

 

Der Zwielichtmeister schaute Adrian in die Augen und lächelte. „Ich seh’ doch genau, dass dir die Sache nicht ganz geheuer ist. Gib zu, dass du Angst hast, das Fläschchen zu leeren.“

 

Adrian schwieg, aber Morgentau wusste, dass er Recht hatte. „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben“, sagte er und bemühte sich dabei, möglichst beruhigend zu klingen, „und außerdem kannst du mir vollkommen vertrauen. Sobald du den Nebeltrank zu dir genommen hast, wirst du die Voraussetzung dafür  geschaffen haben, schon bald von einer wohltuenden Klarheit erfüllt zu werden und verstehen zu können, was mit dir geschieht – beziehungsweise bereits geschehen ist. Und du wirst den nächsten Schritt gehen, einen Schritt hinein ins Glück.“

 

Der Zwielichtmeister zog den Korken heraus, mit der das Fläschchen verschlossen war, und hielt Adrian das Gefäß hin: „Jetzt trink“, forderte er Adrian auf, „leere das Fläschchen in einem Zug, und zwar gleich. Meine Zeit mit dir läuft gleich ab, und dann wird es zu spät für dich sein, und dir bleibt nur die Reise in die ewige Finsternis.“

 

Adrians Hand zitterte, als er die kleine Flasche entgegen nahm. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, während er auf den Nebeltrank starrte, dann seufzte er laut, setzte den schmalen Flaschenhals an seine trockenen Lippen und trank in wenigen, hastigen Schlücken die bitter schmeckende, milchige Flüssigkeit.

 

Sofort wollte er dem Zwielichtmeister die leere Flasche zurückgeben, doch der merkwürdige Herr Morgentau hatte sich anscheinend urplötzlich in Luft aufgelöst. Überhaupt schien sich in den letzten Sekunden alles geändert zu haben. 

 

Adrian registrierte, dass er nicht mehr auf der Plattform hoch oben in der Krone des Baumriesen stand, sondern neben einem munter plätschernden Bach im Ufergras saß. Er sah, wie sich ein großer, smaragdgrüner Schmetterling auf seinem linken Handrücken niederließ, und spürte eine angenehme, frische Brise in seinem erhitzten Gesicht. 

 

Da hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Adrian erhob sich aus dem Gras und blickte zum Bach, aus dessen Richtung der Ruf gekommen war. Er sah, dass am Uferrand, an einer seichten, sandigen Stelle, ein Kanu lag. In dem Boot saß ein Mann, der noch einmal seinen Namen rief und ihm zuwinkte. 

 

Adrian ging auf das Kanu zu. Als er nur noch ein paar Schritte vom Boot entfernt war, erkannte er den Mann, der darin saß und ihn angrinste. Kein Zweifel, dachte Adrian, das ist der Zwielichtmeister, aber er sieht mindestens dreißig Jahre jünger aus. Wie ist das nur möglich? Vielleicht hat dieser Herr Morgentau ja einen Sohn, der ihm sehr ähnlich sieht. Adrian war völlig verwirrt.

 

„Komm, steig ins Boot“, forderte ihn die junge Version vom Zwielichtmeister auf. Alexander Morgentau war jetzt nicht mehr in einen weiten, dunklen Mantel gekleidet war, sondern trug etwas, das wie ein eng anliegender Taucheranzug aussah und giftgrün war. 

 

„Na los, Adrian, du kannst dich auf die vordere Bank setzen, und ich bleibe hier hinten und paddle. Wir machen eine kleine Tour auf diesem wunderschönen Bach, und währenddessen erzähle ich dir, was mir dir geschehen ist und noch geschehen wird, dann wird dir vielleicht einiges klar werden.“ 

 

Adrian zögerte, es ging ihm alles viel zu schnell. Aber dann dachte er, was bleibt mir anderes übrig, schließlich will ich wirklich wissen, was hinter diesen ganzen merkwürdigen Dingen, die mir passieren, steckt. 

 

Der Zwielichtmeister stand neben dem Kanu im seichten Wasser, wartete, bis Adrian sich auf die vordere, schmale Holzbank gesetzt hatte, schob das Boot von der kleinen Sandbank in tieferes Wasser, stieg ein, setzte sich auf die hintere Bank, ergriff das Paddel – und das Kanu nahm Fahrt auf.

 

Adrian fiel auf, dass der Bach im Grunde ein kleiner Fluss war, Im klaren Wasser entdeckte er mehrere große Fische, deren Schuppen silbern glänzten. Sie schwammen links und rechts neben dem Boot, direkt unter der Wasseroberfläche, und passten ihre Geschwindigkeit der des Kanus an. Wie eine Eskorte, dachte Adrian. 

 

Auch wenn er noch viele Fragen hatte und neugierig war zu erfahren, wohin diese Reise ging, fühlte er sich jetzt entspannt. Da er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, wusste er nicht, wie lange sie schon mit dem schmalen Boot unterwegs waren. 

 

Mit einem Mal verengte sich der Fluss stark, und sie mussten sich mehrmals ducken, damit ihnen die tief herunterhängen Zweige der großen Bäume, die das Ufer säumten, nicht ins Gesicht schlugen. 

 

Nach einer Weile verbreitete sich das Gewässer wieder, und während sie einen markanten, hohen Felsen passierten, der am rechten Ufer stand und dessen Form Adrian an eine Südseemuschel erinnerte, sah er, dass sie direkt in einen großen See hinein steuerten. Da begann der Zwielichtmeister endlich zu sprechen. 

 

Während der Fahrt hatte er mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck beharrlich geschwiegen und auch auf Adrians Fragen nur mit einem Brummen oder einer Bemerkung wie „Hab noch etwas Geduld“ reagiert. Jetzt aber hellte sich seine Miene auf, er blickte Adrian mit strahlenden Augen an und sagte: „Es ist Zeit, Adrian, dir die Wahrheit zu sagen, auf wenn sie dich vielleicht schockieren sollte, aber keine Angst, der Schock wird schnell wieder verschwinden.“

 

Alexander Morgentau stellte das Paddeln ein, und das Kanu trieb gemächlich in einer leichten Strömung weiter auf die Mitte des azurblauen Sees zu. Nach einer kurzen Pause räusperte er sich und fuhr fort. „Mein lieber Adrian, es ist so, dass du gestorben bist.“ 

 

Adrian runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das, dass ich gestorben bin?“ „Nun ja,“ antwortete Morgentau, „als du im Auenwald gewandert bist und nicht mehr weit von der Blockhütte entfernt warst, da hast du einen heftigen Schlaganfall bekommen und bist sofort bewusstlos geworden. Wenige Minuten später warst du tot. Erst nach einigen Stunden hat dich ein Förster gefunden, aber da war es natürlich längst zu spät.“

 

Eine Mischung aus Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit erfüllte Adrian. Wie zur Beruhigung lehnte sich der Zwielichtmeister vor und legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. 

 

„Du erinnerst dich vielleicht, dass du im Auenwald urplötzlich von dichtem Nebel umhüllt warst. Exakt zu diesem Zeitpunkt begann deine Reise in eine andere Dimension. Du standest da ja auf einmal in der weiten Grasebene und wusstest nicht, wie du da hingekommen bist. Aber egal, jetzt hast du es bis hierhin geschafft, und dazu gratuliere ich dir.“ 

 

Der Zwielichtmeister machte eine Pause, blickte kurz zum weit  entfernten Ufer, wo man die Silhouetten hoher, schneebedeckter  Berge erkennen konnte, und fuhr dann fort: „ Nun aber gilt es, den nächsten Schritt zu vollenden und sozusagen ins Glück hinein zu tauchen. Glaube mir, dir winkt eine hell leuchtende Zukunft, du musst einfach nur den Sprung wagen.“

 

Es fiel Adrian schwer, sich vorzustellen, tot zu sein. Doch eine andere Erklärung für das, was mit ihm in den letzten Stunden Verrücktes passiert war, hatte er auch nicht. Allerdings wollte er wissen, was Morgentau damit meinte, er solle den Sprung wagen.

 

„Wohin soll ich denn springen, Zwielichtmeister?“, fragte er. „Na in den See natürlich, wohin den sonst“, antwortete Morgentau und musste lachen. „Ich seh’ hier keine andere Möglichkeit.“ 

 

Adrian blieb skeptisch. „Und was bringt es mir, wenn ich in den See springe?“ 

 

Alexander Morgentau schüttelte ungläubig den Kopf. Er bemühte sich, eine aufkommende Ungeduld zu zügeln. „Ich habe es dir doch erklärt. Um deine weitere Existenz zu sichern und in der anderen Dimension glücklich und zufrieden leben zu können, musst du den nächsten Schritt vollenden, und das bedeutet eben, den Sprung zu machen.“ 

 

In Adrians Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er sollte also ins Wasser springen, aber was passierte dann mit ihm? 

 

Er war zwar ein geübter, ausdauernder Schwimmer, aber wenn der Zwielichtmeister ihm ein Märchen erzählt hatte, mit dem Kanu einfach davon paddelte und ihn hier, mitten auf dem großen See, zurückließ, konnte er es dann bis ans nächste Ufer schaffen? 

 

Er hatte da große Zweifel, nicht nur, weil sich das am nächsten liegende Ufer jedes Mal, wenn er dorthin schaute, ein ganzes Stück weiter entfernt zu haben schien. 

 

„Habe ich eigentlich eine Wahl?“, fragte er Morgentau. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Zwielichtmeisters, so als amüsierte ihn diese Frage, dann wurde seine Miene wieder ernst. „Nein, mein Lieber, eine Wahl hast du nicht, das ist die Wahrheit. Und wahr ist auch, dass deine Zeit gleich abgelaufen ist, du solltest dich jetzt also schnell entscheiden, am besten sofort.“ 

 

In Morgentaus eindringlich klingenden Worten schwang auch etwas Bedrohliches mit, fand Adrian. Er beschloss, die Aufforderung ernst zum nehmen. Ich muss diesem Zwielichtmeister jetzt einfach mein Vertrauen schenken, dachte Adrian, was bleibt mir auch anderes übrig. 

 

„Also gut“, sagte er, „ich werde in den See springen, schließlich verspüre ich keine Lust, in einem Schwarzen Loch zu verschwinden. Ich hoffe aber“, und jetzt verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen, das allerdings nicht ganz seine Angst verbergen konnte, wie Morgentau erkannte, „ich hoffe doch sehr, dass die Wassertemperatur angenehm ist.“

 

Ganz langsam stand Adrian von der schmalen Kanubank auf und versuchte, im leicht schwankenden Boot das Gleichgewicht zu halten. Als er sich vollständig aufgerichtet hatte, nahm er all seinen Mut zusammen, streckte beide Arme aus, rief „Adieu, Zwielichtmeister“ und machte einen nicht ganz perfekten Kopfsprung ins blaue Wasser. 

 

Ohne zu überlegen tauchte er vielleicht drei Meter tief hinab, dabei spürte er bereits eine Veränderung. Sein Körpergefühl war anders, er merkte, dass ihn die Tauchbewegungen überhaupt nicht anstrengten. 

 

Er verspürte eine große Lust, noch weiter hinab zu tauchen, und tat es. Zu seiner großen Verwunderung konnte er auf einmal atmen, ohne dass Wasser in seine Lunge geriet.

 

Staunend fiel ihm auf, wie schnell er voran kam, geschmeidig durchs Wasser glitt, ohne seine Arme und Beine bewegen zu müssen. Ihm gelangen blitzschnelle, elegante Ausweichmanöver, wenn plötzlich dicke Bündel von Schlingpflanzen vor ihm auftauchten oder behäbige Wasserschildkröten seinen Kurs kreuzten. 

 

Und dann hatte er den Grund erreicht, auf dem sich grasartige Wasserpflanzen ausgebreitet hatten. Er schwamm dicht über den Spitzen der Halme, so dass sie seinen Bauch kitzelten, was ihm großen Spaß bereitete. 

 

Ab und zu fielen ihm kleine Bewohner des sattgrünen Teppichs ins Auge, braun-gestreifte Muscheln, die in kleinen Gras-Lichtungen auf dem sandigen Boden lagen, Wasserschnecken, die an dickeren Halmen hingen, und Krebse, die in der Wiese emsig herum wuselten, ihre Scheren geschäftig aufgerichtet. 

 

Plötzlich spürte er, dass er bei seiner Unterwasser-Tour einen Begleiter hatte. Vielleicht einen Meter rechts neben ihm schwamm ein großer, silberner Fisch, der genau seine Ausweichmanöver und Richtungsänderungen nachmachte und ihm nicht von der Seite wich. 

 

Adrian drosselte sein Tempo, und der Nachbar wurde ebenfalls langsamer. Adrian beschleunigte und schwamm bis fast zur Seeoberfläche, und der Fisch tat es ihm gleich. 

 

Dann tauchte Adrian wieder hinab, um kurz über dem Grund, der jetzt von bunten Kieseln bedeckt war, gemächlich seine Tour fortzusetzen. Von seinem Begleiter war nichts mehr zu sehen.

 

An einer Stelle neben einem kleinen Felsen, wo so gut wie keine Strömung war, verharrte er, drehte sich ein wenig, um sich umschauen zu können. Da schoss der Silberfisch dicht an ihm vorbei, vollführte eine sportliche Wende und schwamm direkt auf ihn zu. Wenige Zentimeter vor ihm stoppte er.

 

Adrian blickte in große, dunkle Augen, die ihn gleichermaßen interessiert wie wohlwollend anstarrten. Erfreut stellte er fest, dass es sich bei seinem Gegenüber um den treuen Begleiter handelte, doch seine Freude wurde noch gesteigert, als er erkannte, dass der schlanke Silberling eine Dame war. Sofort durchströmte ihn eine Welle der Sympathie und Zuneigung.

 

Mit bestimmten Bewegungen ihrer zierlichen Flossen an den Körperseiten und dem Öffnen und Schließen ihres runden Mundes gab die attraktive Lady ihm Signale, er solle ihr folgen. Dann  drehte sie sich anmutig und schwamm in mittlerem Tempo in Richtung eines nicht weit entfernten Hügels, der anscheinend komplett von rötlich schimmernden Pflanzen bewachsen war. 

 

Adrian überlegte nicht lange und folgte ihr. Während er gemächlich durchs glasklare Wasser glitt, immer im gleichmäßig kurzen Abstand zur Schwanzflosse seiner Führerin, erkannte er die ganze Wahrheit. Doch diese Wahrheit erschreckte ihn nicht, im Gegenteil. Er war einfach glücklich, ein Fisch zu sein.