1.
Innerhalb von wenigen Minuten hatte sich der Himmel vollständig verdunkelt. Die schwarzen Wolkenmassen verheißen nichts Gutes, dachte Leon.
In der Ferne war erstes Donnergrollen zu hören, und ein kalter, böiger Wind kündigte den Wetterumschwung an. Sicherheitshalber verstaute Leon seine Baseball-Kappe im Rucksack und zog sich die Kapuze seiner gefütterten Softshell-Jacke über den Kopf. Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht besser sei umzukehren, doch dann entschied er sich dagegen. Er wusste, dass es bis zu seinem Ziel nicht mehr weit war.
In der kleinen aber massiven Berghütte wäre er auch vor dem heftigsten Gewitter in Sicherheit, und falls das Unwetter länger andauern sollte, würden die Notvorräte dafür sorgen, dass er nicht verhungern oder verdursten müsste.
Bis zu vier Wochen könnten die Konserven und das Trinkwasser reichen, dachte Leon, aber so lange in der Hütte zu bleiben, das hatte er natürlich nicht vor. Nach zwei Übernachtungen wollte er wieder ins Tal zurückkehren, schließlich musste er am Montagmorgen wieder an seinem Arbeitsplatz im Laden präsent sein und Trekking-Boots und Rucksäcke verkaufen, denn der Herbst kündigte sich bereits an, und die Wandersaison stand in den Startlöchern.
Es hatte zu regnen begonnen, während Leon weiter auf dem schmalen, relativ steilen Pfad weiter in Richtung des kleinen Bergsees wanderte, an dessen Westufer die Hütte stand. Fette Tropfen prasselten auf seine Jacke, manche trieb der Wind in sein Gesicht, so dass er spüren konnte, wie kalt der Gewitterregen war.
Vorsichtig setzte Leon Fuß vor Fuß, denn der steinige, stellenweise mit losem Geröll und Tannenzapfen bedeckteWeg hatte sich mittlerweile durch die heftigen Niederschläge in einen kleinen Sturzbach verwandelt, und als erfahrener Wanderer wusste Leon, wie gefährlich das sein konnte.
Direkt am linken Rand des Pfads begann der dichte Nadelwald, dessen nasse Zweige im Wind hin und her wogten und ein unablässiges Rauschen erzeugten. Vielleicht eine knappe Viertelstunde vor Erreichen der Berghütte war Leon jetzt in dem Teil der Wanderroute angelangt, wo es zwar nicht mehr so steil bergauf ging, der höchstens einen Meter breite Weg aber auf der rechten Seite direkt von einem Steilhang begrenzt wurde. Er schätzte, dass er dort mindestes zweihundert Meter senkrecht hinab stürzen würde, falls er vom Pfad abkommen sollte.
Während grelle Blitze über den fast nachtdunklen Nachmittagshimmel zuckten, Leons Sicht in den Blitzpausen stark eingeschränkt war, und immer wieder starke Windstösse versuchten, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, nahm er sich vor, auf der letzten Wegstrecke die Konzentration noch mehr zu erhöhen.
Er bereute es jetzt, seine Wanderstöcke nicht mitgenommen zu haben, bei diesen heiklen Bodenverhältnissen könnten sie mir nun wertvolle Dienste leisten, dachte er. Das Gewitter tobte sich mittlerweile direkt über ihm aus, und die Donnerschläge, sofort gefolgt von gleißenden Blitzen, dröhnten ihm in den Ohren.
Plötzlich hörte Leon ein lautes Knacken und anschließend ein Bersten im Wald neben sich. Er dachte, ein Baum stürze um. Automatisch drehte er seinen Kopf nach links, und während für die Dauer einer Sekunde Sebastians Aufmerksamkeit nicht mehr vollständig dem mittlerweile ebenen, glitschig gewordenen Pfad galt, passierte es.
Weil Leons Blick noch auf den Waldrand gerichtet war, übersah er den kleinen Felsbrocken auf dem Wanderweg. Sein linker Fuß stieß gegen den Stein – und Leon stürzte.
Mit einem leichten Rechtsdrall landete er auf dem Pfad, der jetzt eher einem Bach glich. Leon fiel der Länge nach auf die glatte, felsige Fläche, über die das Regenwasser talwärts strömte.
Beim jähen Sturz prallte Leon mit der Stirn auf einen dicken, abgebrochenen Ast, doch statt auf dem Boden liegen zu bleiben, bewegte sich sein Körper über das rutschige Gestein. Leon merkte, wie er auf den Abgrund zu glitt.
Panik erfüllte ihn, während seine Hände vergeblich einen Halt suchten. Es gelang ihm noch, sich im abwärts über das Gestein fließenden Wasser ein wenig zu drehen, so dass sein Körper sich in einer nahezu parallelen Situation zur Abgrund-Kante befand, doch auch dieses Manöver konnte ihn nicht davor bewahren, über die Kante zu gleiten und in die Tiefe zu stürzen.
Nach ein paar Metern bremsten dichte Büsche, deren Zweige aus Felsnischen herausragten, Leons Fall, doch es gelang ihm nicht, sich an den Gewächsen festzuhalten. Die Zweige, die seine Hände greifen konnten, brachen ab.
Weiter ging der Sturz, wieder drosselten struppige Sträucher, deren Dornen blutige Striemen in Leons Gesicht rissen, die Fallgeschwindigkeit. Doch erst nach ein paar Metern bot ihm eine dicke Wurzel die Chance, diesen Sturz zu überleben.
Die Wurzel war das Überbleibsel eines ehemals in einer Felsmulde wachsenden Baumes, der längst vertrocknet war. Zu Leons Glück drang diese Wurzel an einer löchrigen Stelle aus dem Gestein heraus, um dann nach zwei Metern waagerechten Wuchses wieder in einer kleinen Felsspalte zu verschwinden.
Mehr instinktiv als bewusst packten Leons Hände diese Wurzel. Beim brutal abrupten Stopp hatte er das Gefühl, als würden ihm die Arme aus den Schultern gerissen.
Mit schmerzverzerrten Gesicht hing er an der Wurzel, doch die Erkenntnis, dass sie stabil genug zu sein schien, sein Körpergewicht zu halten, konnte nicht die bange Frage verdrängen, wie lange er sich daran würde klammern können.
Leon war klar, dass er sich höchstens ein der zwei Minuten an der Wurzel festhalten konnte und dass sein Sturz in die Tiefe unvermeidlich war. Ein Sturz, der tödlich sein würde.
Während sein Arme höllisch schmerzten und er die Hände kaum mehr spüren konnte, ging sein Blick für einen Moment nach unten, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, nicht in den Abgrund zu schauen. Was er sah, ließ sein Herz schneller schlagen.
Direkt unter ihm befand sich ein recht ausladender Felsvorsprung. Leon konnte nicht genau erkennen, wie weit dieser Vorsprung von ihm entfernt war, doch er schätzte, dass der Abstand von seinen Füßen mindestens drei, vielleicht auch vier Meter betrug.
Wenn ich mich jetzt fallen lasse, dachte er, riskiere ich, dass ich mir beide Füße breche – oder mehr. Allerdings wusste er auch, dass ihm gar keine Wahl blieb. Und so entschloss er sich, seinen Fall so kontrolliert wie möglich durchzuführen.
Leon sah, dass die Oberfläche des Felsvorsprungs relativ eben zu sein schien und keine Felsbrocken oder größeren Steine auf ihr lagen, und das verlieh ihm ein wenig Hoffnung. Vielleicht habe ich ja Glück, machte er sich Mut, und versuchte sich daran zu erinnern, was er einmal über über die korrekte Körperhaltung bei einem Sturz gelesen hatte.
Er winkelte die gerade herunterhängenden Beine an, atmete tief durch, löste seine Hände von der Wurzel und legte sie noch im Fallen neben den Kopf.
Der Aufprall mit den Füßen war hart. Sofort nach seiner Landung fiel Leon um und schlug mit dem Kopf auf den harten Steinboden auf, so dass ihm die Sinne schwanden.
2.
Als Leon aus der Bewusstlosigkeit wieder aufwachte, brauchte er ein paar Sekunden, bevor er wusste, wo er sich befand und was passiert war. Er merkte, dass sein Schädel brummte, und ertastete eine dicke Beule an seinem Hinterkopf. Einen ernsthaften Schaden scheint mein Kopf Gott sei dank nicht genommen zu haben, dachte er
Auf dem Felsgestein liegend stellte er auch erfreut fest, sich nicht an Beinen oder Füßen verletzt zu haben. Lediglich sein gestauchter Rücken schmerzte ein wenig, so dass er sich ganz vorsichtig aufrichtete.
Da habe ich ja richtig Schwein gehabt, dachte Leon, während er in den Abgrund blickte, der sich zwei Meter von seinen Füßen entfernt vor ihm auftat. Er wusste aber auch, dass er hier, auf diesem Felsvorsprung, ausharren musste, bis Hilfe kommen würde. Ich sollte jetzt gleich mit meinem Smartphone die Bergrettung rufen, dachte er.
Zufrieden stellte er fest, dass der Regen aufgehört und sich auch das Gewitter verzogen hatte. Nur noch aus weiter Entfernung drang ein leises Donnerrollen an seine Ohren. Allerdings hatte sich die Luft spürbar abgekühlt, und der Wind blies immer noch heftig, so dass Leon in seiner feuchten Jacke fröstelte.
Um so wichtiger ist es, dachte er, dass ich möglichst schnell aus dieser unbequemen Lage befreit werde, und er holte sein Smartphone aus dem Rucksack. Fassungslos musste er feststellten, dass sein Handy keinen Mobilfunk-Empfang hatte.
Leons Zufriedenheit über den gut überstandenen Sturz war wie weggeblasen, stattdessen nahm ein Gefühl von Verzweiflung von ihm Besitz. Das darf doch nicht wahr sein, dachte er, bis man zu Hause merken wird, dass ich verschollen bin, die Bergrettung informiert ist und ich nach einer wie lange auch immer dauernden Suche gefunden und geborgen werde, könnte es sehr lange dauern. Bis dahin bin ich vielleicht längst erfroren.
Er versuchte sich zu beruhigen und probierte mehrmals, doch noch einen Handy-Empfang zu erhalten, indem er sich hin und her drehte und dabei das Smartphone hoch über seinen Kopf in verschiedene Richtungen hielt, allerdings ohne Erfolg. Entmutigt gab er seine Versuche auf.
Während seines Manövers war ihm aufgefallen, dass sich in der Felswand, etwa einen halben Meter über dem Vorsprung, auf dem er stand, eine Spalte nach oben erstreckte. Die Felsspalte war etwa zwei Meter hoch und so breit, dass Leon annahm, ein nicht zu korpulenter Mensch könnte durch diese Öffnung passen.
Er bemerkte, dass es in der Spalte nicht dunkel war, sondern ein schwaches Licht herausströmte. Komisch, dachte Leon, und trat näher an die Öffnung heran. Der Hohlraum schien sich hinter der Spalte zu verbreitern. Vielleicht führt die Öffnung in der Felswand in eine Höhle, dachte er.
Jetzt war sein Interesse vollständig geweckt. Wenn da drin Licht ist, wird es wahrscheinlich Sonnenlicht sein, überlegte er, es sei denn, jemand mit einer Lampe hält sich in der Höhle auf. Das hielt Leon jedoch für ziemlich unwahrscheinlich.
Er schätzte die Breite des Spaltes, und als er sicher war, da durchschlüpfen zu können, fasste er einen Entschluss. Er wusste nicht, was dagegen sprechen sollte, einmal nachzuschauen, was sich hinter dieser merkwürdigen Felsspalte verbarg und die Quelle dieses Lichts war.
Vorsichtig stieg Leon durch die Öffnung. Nach wenigen Schritten führte der schmale Gang in eine hallenähnlichen Raum. Staunend blieb Leon stehen. Er erkannte jetzt, woher das Licht in der immens großen Höhle stammte. Hoch oben in der gewölbten Decke befand sich eine Öffnung, durch die helles Sonnenlicht flutete.
Wie ist das möglich, fragte sich Leon, draußen ist die Sonne hinter dunklen Wolken verborgen und hier scheint sie durch dieses Loch herein. Es war ihm ein Rätsel.
Obwohl es in der Höhle wärmer als draußen war, überlegte Leon, ob er nicht besser wieder auf den Felsvorsprung zurückkehren sollte. Ihm war klar, dass ihn hier drinnen kein Mensch sehen konnte, und auch einer zufälligen Entdeckung, zum Beispiel durch Bergsteiger oder Flugzeugpiloten, wollte er eine Chance geben.
Aber es war das seltsame, bedrückende Gefühl, welches ihn in dieser riesigen Höhle mit einem Mal erfüllte, das ihn zum Umkehren bewog. Leon hatte sich schon halb umgewandt, als sein Blick auf eine runde Öffnung im hinteren Teil der Höhle fiel.
Wenn ihn nicht alles täuschte, strahlte dort hinten, wo es relativ dämmrig war, ein schwaches, gelbliches Licht aus dem Loch. Leons Neugierde war erwacht, und sie war stärker als sein Drang, diesem merkwürdigen Ort möglichst schnell den Rücken zu kehren.
3.
Leon durchquerte die Höhle, bis er er vor der Öffnung stand. Er hatte nicht den Eindruck, das kreisrunde, mindestens zwei Meter hohe Loch in der Felswand könne natürlichen Ursprungs sein, zu gleichmäßig und glatt waren seine Ränder. Es erschien ihm, als habe es eine Maschine exakt aus der Felswand heraus gestanzt. Das ist verrückt, dachte er.
Das aus dem Inneren des runden Lochs dringende gelbliche Licht ließ nicht erkennen, was sich hinter diesem Eingang verbarg, denn dass es sich nur um einen Eingang handeln konnte, davon war Leon überzeugt. Einen Moment zögerte er noch, dann atmete er tief durch und schritt durch die Öffnung.
Sofort befand er sich in einem Nebel, der zu leuchten schien – und ihm doch die Sicht nahm. Eine Beklommenheit senkte sich auf Leon, doch dieses ängstliche Gefühl beschleunigte nur seine Schritte. Nichts wie raus aus diesem merkwürdigen Gewaber, dachte er.
Erleichtert stellte er fest, dass sich der leuchtende Nebel nach nur wenigen Metern lichtete, und er dann wieder eine klare Sicht hatte. Er fand sich in einem tunnelartigen Gang wieder, in einer Röhre von mindestens fünf Metern Durchmesser.
Die Wände dieses Ganges schienen aus einer Art Milchglas gefertigt zu sein. In regelmäßigen Abständen hinter dem Glas angebrachte Strahler sorgten für eine angenehme, unaufdringliche Beleuchtung.
Leon konnte sich nicht erklären, was ihn dazu antrieb, weiter zu gehen. Es erschien ihm, als ob ihn irgendeine mysteriöse Kraft vorwärts schob. Aber was es auch war, er musste unbedingt herausfinden, wohin diese seltsame gläserne Röhre führte, egal ob er sich dabei in Gefahr begab.
Er fühlte sich wie ein Forscher, der kurz vor einer bahnbrechenden Entdeckung stand. Er genoss dieses Gefühl, und seine Bedenken von vorhin wichen einer Zufriedenheit und der Zuversicht, dass auf ihn etwas Großartiges wartete. Und so ging er weiter, bis sich der röhrenartige Gang verengte, und Leon vor einer Art Schranke stehen blieb.
Er erkannte, dass sich hinter der Schranke eine Rolltreppe befand, die nach unten führte. Allerdings hatte er Skrupel, einfach über die recht niedrige Schranke zu steigen, da er nicht wusste, ob dies vielleicht einen Alarm auslösen würde. Da er keine Ahnung hatte, wie sich die Schranke öffnen ließ, zögerte er, doch da kam aus irgendeinem Lautsprecher eine Ansage.
„Drücken Sie bitte mit beiden Daumen gleichzeitig auf das blau leuchtende Sensorfeld neben der Schranke und nennen Sie anschließend den vollständigen Namen Ihrer Großmutter väterlicherseits“, fordert ihn eine freundliche, junge Frauenstimme auf.
Wie abgedreht ist das denn, dachte Leon und starrte ungläubig auf die wie ein Tablet-Display aussehende Fläche, deren blaues Leuchten jetzt in ein schnelles Blinken überging. Aber dann entschied er sich, den Abweisungen der Computerstimme zu folgen, brauchte allerdings einen Moment, bis ihm der Mädchenname seiner Großmutter einfiel.
Nachdem er beide Daumen auf das Display gedrückt und den Namen seiner Oma laut ausgesprochen hatte, ertönte eine Fanfare, und die hüfthohe Schranke hob sich. Leon ging bis zum Beginn der Rolltreppe – und blieb abrupt stehen. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, während er in die Tiefe schaute.
Die gläserne Röhre, in der die Rolltreppe in einem, wie er fand, sehr steilen Winkel in die Tiefe führte, war hier wesentlich enger, und er nahm an, dass er gerade noch aufrecht stehen konnte, wenn er sich auf eine Stufe der jetzt still stehenden mechanischen Treppe stellte.
Obwohl auch die nach unten führende Röhre beleuchtet war, konnte Leon das Ende der Rolltreppe nicht erkennen. Irgendwie unheimlich dachte er. Es kostete ihn einige Überwindung und dauerte eine Weile, bis er sich entschließen konnte, beide Füße auf die erste Stufe zu setzen.
Sofort nahm die Treppe mit einem lauten Quietschen ihren Betrieb auf und beschleunigte auf ein enormes Tempo. So schnell hat mich bislang keine andere Rolltreppe transportiert, dachte Leon, weder in einem Bahnhof noch in einem Flughafen, und erst recht nicht in einem Kaufhaus.
Überrascht und auch ein wenig erschrocken klammerte sich Leon an den schwarzen Laufgriff. Während er bemüht war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, schloss er nicht aus, dass es ein Fehler war, sich dieser Rolltreppe anzuvertrauen. Und mit ihr, wer weiß wohin, in die Tiefe zu rauschen.
Was ihn zunehmend irritierte, war die Tatsache, dass die rasante Abwärtsfahrt kein Ende zu nehmen schien. Was ist das bloß für eine gigantische Konstruktion, ging ihm durch den Kopf, und er fragte sich, wer so etwas bloß konstruiert hatte – und zu welchem Zweck.
4.
Als Leon das Gefühl hatte, schon mindestens zehn Minuten unterwegs zu sein und seine Hände und Arme vom permanenten Festhalten am Laufgriff schmerzten, fiel ihm auf, dass die Luft in der Röhre nicht nur wärmer geworden war, sondern auch einen anderen Geruch angenommen hatte. Er hatte auf einmal einen Duft in der Nase, als befinde er sich auf einer Bergalm im späten Frühling, wo Blumen und Kräuter um die Wette blühten.
Und dann spürte er, wie die Rolltreppe allmählich ihre Geschwindigkeit verringerte, und während sie sich jetzt viel langsamer bewegte, erblickte er gleich hinter ihrem Ende eine Drehtür, wie er sie aus dem Eingangsbereich eines großen Möbelhaus kannte. Allerdings waren die Zwischenwände dieser Drehtür nicht durchsichtig, sondern sahen milchig aus – wie die Wände der engen Röhre, durch die er auf dieser seltsamen Reise gerauscht war.
Bevor die letzte Metall-Stufe im Boden versank, stoppte die Rolltreppe, und Leon stieg herunter. Er verharrte einen Augenblick vor der hohen Drehtür, die in gemächlichem Tempo ihre Runden drehte, und passte dann einen geeigneten Moment ab, um hinein zu gehen.
Im Drehtür-Raum hatte Leon gerade drei Schritte gemacht, da hielt die Konstruktion zur seiner Überraschung plötzlich an. Was soll das denn jetzt, fragte er sich irritiert – und hoffte, dass dies nichts Schlimmes zu bedeuten hatte. Er fühlte sich alles andere als wohl, schließlich steckte er jetzt in dieser Drehtür fest. Ein wenig kam er sich wie ein Gefangener vor.
Leon überlegte gerade, ob er mit seiner Körperkraft versuchen sollte, die Drehtür zu bewegen, als aus einem an der Decke angebrachten Lautsprecher eine ihm bekannte weibliche Stimme ertönte. „Um die Blockade der Drehtür aufzuheben, teilen Sie mir bitte ihre Schuhgröße, ihr Sternzeichen und die Marke ihres Smart-TVs mit.“
Das ist ja völlig absurd, dachte Leon, irgend jemand treibt hier ein abgedrehtes Spiel mit mir, das ich allerdings nicht lustig finde. Trotzdem hielt er es in dieser Situation für besser mitzuspielen und die geforderten Angaben zu machen. „Dreiundvierzig, Steinbock, Samsung“, sagte er leise.
Prompt meldete sich die jung klingende Damenstimme wieder. „Bitte sprechen Sie etwas lauter, ich habe sie nicht verstanden.“ Mehr schreiend als sprechend wiederholte Leon die drei Worte – und fügte noch, hörbar aufgebracht hinzu: „War das jetzt laut genug?“
Es folgte keine Antwort, dafür setzte sich die Drehtür wieder in Bewegung. Leons Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er konnte immer noch nicht erkennen, was sich hinter den Milchglasscheiben der sich gemächlich drehenden Tür verbarg. Und dann trat er heraus – und war völlig überrascht.
Er blickte auf eine Reihe schlanker, groß gewachsener Bäume, die von einem milden Sonnenlicht angestrahlt wurden. Als er ein paar Schritte auf die Bäume zumachte, löste sich ein Schwarm kleiner Vögel aus den Kronen und stieg lärmend hoch in den Himmel.
Aus den Augenwinkeln nahm Leon eine Bewegung wahr und drehte sich zur Seite. Er sah, dass eine Frau auf ihn zu kam. „Herzlich willkommen, lieber Leon“, sagte sie lächelnd, blieb einen Meter vor ihm stehen und blickte ihn mit smaragdgrünen Augen selbstbewusst an. „Es warten spannende Abenteuer auf dich.“
Leon war perplex. „Woher kennen Sie mich?“, fragte er die junge, hochgewachsene Frau. Sie trug einen eng anliegenden, ihre sportliche Figur betonenden, hellblauen Overall und hatte ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Ich kenne dich schon sehr lange“, sagte sie, „aber es wundert mich nicht, dass du dich nicht an mich erinnern kannst. Im übrigen spielt das keine Rolle, das Wichtigste ist, dass du dich jetzt den Herausforderungen, die auf dich zu kommen, stellen kannst. Ich hoffe übrigens, dass du bereit dafür bist.“
„Bereit wofür?“, fragte Leon, der sein Gegenüber verwirrt anstarrte. „Und wo bin ich hier überhaupt ?“ Er merkte, dass er unter seiner Jacke zu schwitzen begann und öffnete den Reißverschluss.
„Es ist mir leider nicht gestattet, dir den Ort zu nennen, an dem wir uns gerade befinden“, sagte die Lady, setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf und zuckte entschuldigend mit ihren Schultern. Doch dann erstrahlte wieder das umwerfende Lächeln in ihrem hübschen, sommersprossigen Gesicht, und sie meinte: „Entspann dich ein wenig, Leon. Ich kann ja verstehen, dass du ein bisschen durcheinander bist, aber du solltest dir nicht allzu viele Gedanken machen, sondern mutig, gelassen und selbstbewusst dem entgegen treten, was dich gleich erwartet.“
Leon versuchte, die Fassung zu bewahren, allerdings fiel ihm das nicht leicht. „Was soll mich um Himmelswillen denn gleich erwarten?“, fragte er aufgeregt. „Beruhige dich, Leon“, antwortete die junge Frau, machte noch einen Schritt auf ihn zu und legte ihm ihre rechte Hand auf die Schulter.
Dann setzte sie eine erste Miene auf und sagte: „Mein Name ist übrigens Magdalena – und ich bin die Wettbewerbs-Managerin. Entschuldige bitte, dass ich mich erst jetzt vorstelle.“
Leon hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. „Von welchem Wettbewerb sprechen Sie?“, fragte er. „Aber natürlich“, meinte Magdalena, „das kannst du ja noch gar nicht wissen. Ich rede von einem Wettbewerb, der – und das klingt jetzt ziemlich hart – über dein Schicksal entscheiden wird. Oder anders ausgedrückt, bei diesem Wettbewerb, der eigentlich ein Zweikampf ist, geht es um Leben und Tod.“
Leon brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Dann meinte er: „Und warum soll ich an einem solchen Zweikampf teilnehmen und mein Leben riskieren?“
„Weil unsere Gesetze das so vorsehen“, antwortete Magdalena. „Es gibt da es eine ganz klare Regelung, wie mit Menschen zu verfahren ist, die den geheimen Weg zu uns gefunden haben, wie auch immer sie es schaffen konnten. Wir nennen diese Menschen übrigens Eindringlinge, allerdings räumen wir diesen unliebsamen Besuchern eine faire Chance ein, weiterhin am Leben zu bleiben.“
Leon starrte Magdalena ungläubig an, doch unbeirrt fuhr die Managerin fort. „Ist so ein Eindringling in zwei Wettbewerben siegreich, so gilt er als begnadigt, und sein Leben wird verschont. Er darf sich unserer Gemeinschaft anschließen und mit seiner Arbeitskraft einen Beitrag zu ihrem Wohl leisten.“
„Aber ich bin doch nicht absichtlich in eure Welt vorgedrungen“, protestierte Leon, „nach meinem Sturz habe ich ja in der Höhle nur Schutz gesucht. Und dann hat mir dieses Licht den Weg gewiesen, und irgendeine fremde Kraft hat mich gezwungen, immer weiter zu gehen und auf die Rolltreppe zu steigen. Ich bin kein Eindringling, es war alles nur purer Zufall, das müssen Sie mir glauben.“
Eine Spur Mitleid spielte in ihrem Lächeln mit, als Magdalena antwortete, doch der Ton ihrer Stimme war jetzt eisig. Energisch sagte sie: „Ob ich dir glaube oder nicht, das ändert nichts an der Tatsache, dass du ohne eine Einladung oder Erlaubnis zu uns gekommen bist. Somit gelten für dich die gleichen Regeln wie für jeden anderen Eindringling. Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als das zu akzeptieren.“
Wo bin ich hier bloß hinein geraten, dachte Leon, während er weiterhin Magdalena anstarrte, die jetzt ein Smartphone aus einer Overall-Tasche zog und ein paar Tasten drückte.
Keine drei Sekunden später hatte Leon das Gefühl, als ob sich irgend jemand hinter ihm befand. Er blickte sich um und sah einen uniformierten, stämmigen Mann, der einen Schritt hinter seiner rechten Schulter stand und einen dunklen, länglichen Gegenstand in der Hand hielt.
Als er eine leichte Berührung an der linken Schulter spürte, zuckte er zusammen und wandte sich erschrocken zur anderen Seite um. Auch dort stand ein groß gewachsener, breit gebauter Kerl in Uniform, der allerdings einen schwarzen Vollbart trug. Mit festem Griff packte er Leons Oberarm und sagte mit dunkler Stimme: „Es wird Zeit, Eindringling, gleich beginnt der erste Wettbewerb. Wir führen dich jetzt zum Startpunkt.“
Leon merkte, wie der andere Uniformierte mit einer kräftigen Hand seinen rechten Arm umklammerte und ihn nach vorn drückte. „Also vorwärts, mein Freund, und versuch nicht zu fliehen“, sagte sein Kollege mit einem drohenden Unterton in der schneidigen Stimme. „Wir kriegen dich, verlass dich drauf. Und dann kommst du sofort in die Strahlenkammer.“
Leon wollte nicht wissen, was in der Strahlenkammer mit ihm passieren würde. Resigniert und willenlos ließ er sich von den beiden Männern in Richtung der dichten Baumreihe vorwärts stoßen. Von der Managerin war nichts mehr zu sehen. Leon hatte den Eindruck, als habe sie sich plötzlich in Luft aufgelöst.
Energisch drängten ihn die Uniformierten durch eine enge Lücke zwischen zwei Bäumen, so dass sich ein spitzer Zweig schmerzhaft in seine rechte Wange bohrte. „Au“, schrie Leon auf, „immer langsam, Freunde.“
Doch die Kraftpakete reagierten nicht und schoben ihn weiter, bis sich alle drei durch das dichte Geäst gekämpft hatten und plötzlich im gleißenden Sonnenlicht standen. Geblendet schloss Leon die Augen.
Als er sie wieder öffnete, blickte er auf einen Fluss, dessen Ufer vielleicht noch hundert Meter entfernt war. „Weiter geht’s“, herrschte ihn der Uniformierte rechts hinter ihm an und drückte ihm das Ende seines Schlagstocks – oder was immer es für ein Gegenstand war – unangenehm in die Nierengegend.
Als sie am grasbedeckten Ufer angekommen war, erkannte Leon, dass die Strömung des sehr breiten Flusses sehr stark war. An einigen Stellen sah er Strudel, und dort, wo das Wasser in hohem Tempo auf größere Felsbrocken traf, spritze es hoch und schäumte wild um das Gestein herum.
Während ihn seine Begleiter an beiden Armen fest hielten, als befürchteten sie, er könne sich gleich in die Fluten zu stürzen, sagte der Mann auf Leons linker Seite: „Ein herrlicher Anblick, meinst du nicht?…“ Leon schwieg.
Erst jetzt fiel ihm ein lautes Rauschen auf, das an seine Ohren drang. Sein Blick ging in Richtung des tosenden Geräuschs, und er erkannte, dass der Flusslauf in einer dichten Nebelwand verschwand.
Das kann eigentlich nicht sein, überlegte er, und dann wurde ihm klar, was es mit dem Tosen und dem Nebel auf sich hatte. Dort muss ein Wasserfall sein, dachte er, und der Nebel ist die empor steigende Gischt.
Weil die herab stürzenden Wassermassen so eine große Lautstärke erzeugten, vermutete er, dass es sich um einen gigantischen Wasserfall handelte.
5.
„Du solltest dich für den Zweikampf noch umziehen“, meinte der Größere von Leons Wächtern, „denn dein Rivale steht schon bereit am Startpunkt und macht einen ungeduldigen Eindruck.“
Leon folgte dem Blick des Uniformierten und entdeckte einen Mann in Badehose, der vielleicht fünfzig Meter weiter auf einem kleinen Felsplateau stand, das sich direkt am Uferrand befand. Der Mann schien noch recht jung zu sein und hatte einen muskulösen, durchtrainierten Körper. Zu ihm gesellte sich jetzt die Managerin, die auf ihn einzureden schien und ihm auf die Schulter klopfte.
Der Kleinere seiner Aufpasser knuffte Leon unsanft in die Seite und hielt ihm eine dunkelblaue Badehose hin. „Los, anziehen“, sagte er im Kommando-Ton. Leon schaute ihn verwundert an, und es dauerte einige Herzschläge, bis er begriff. Doch dann war er entsetzt.
„Das kann nicht euer Ernst sein“, meinte er, und Fassungslosigkeit stand in seinem Gesicht geschrieben. „Und ob“, entgegnete der Uniformträger grinsend, „aber jetzt mach schnell, sonst wirst du disqualifiziert und landest ganz schnell in der Strahlenkammer. Und dort erwartete dich ein nicht gerade gemütliches Ende.“
Um der Aufforderung seines Kollegen Nachdruck zu verleihen, hieb der größere Wächter Leon den Schlagstock in die rechte Kniekehle, so dass ein brennender Schmerz durch seinen Körper schoss, er umknickte und auf dem Rücken landete. „Steh auf“, herrschte ihn der kleinere Uniform-Mann an, „und komm endlich in die Gänge“.
Stöhnend richtete sich Leon auf und begann mit schmerzverzerrtem Gesicht, seine Kleider abzulegen. Bevor er seine Unterhose auszog, verharrte er einen Moment, doch der strenge Blicks seines Begleiters zur Rechten sowie die Bemerkung seines Kollegen „Vorschrift ist Vorschrift, und stell dich nicht so an“ veranlassten ihn, sich auch der Shorts zu entledigen.
Dann zog er die Badehose an, die ihm der bärtige Aufpasser reichte. Leon bemerkte, dass sie ein wenig zu groß war. Er befürchtete, dass sie ihm herunterrutschen oder er sie gar verlieren könnte, falls er wirklich in diesem wilden Fluss schwimmen musste.
Er wollte schon protestieren, doch da sah er die Wettbewerbs-Managerin auf ihn zu eilen. „Wie ich sehe, hast du dich mittlerweile umgezogen“, sagte sie, als sie vor ihm stand. Leon war es unangenehm, wie sie seinen Körper von oben bis unten zu mustern schien, und er fragte sich besorgt, ob sie ihn vor einer Minute ganz nackt gesehen hatte.
„Unsportlich siehst du nicht gerade aus“, bemerkte Magdalena, „doch ob du gegen Sergio das Wettschwimmen gewinnen kannst, werden wir sehen.“ Leon konnte ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie glaubte, er habe überhaupt keine Chance auf den Sieg.
„Aber wir wollen keine Zeit mehr verlieren“, meinte Magdalena und wies die Uniformierten in strengem Ton an, Leon sofort zum Start-Plateau zu bringen – ein Kommando, was diese auch umgehend befolgten, indem sie Leon mit Hilfe des Schlagstocks und eines Fausthiebs in den Rücken zu einem Schnellstart veranlassten.
Während die Managerin das Trio begleitete, erklärte sie Leon die Wettkampf-Regeln, und die waren recht einfach. „Auf mein Startzeichen hin springt ihr von der Felserhöhung in den Fluss, und wer als erster das gegenüber liegende Ufer erreicht, ist der Sieger und darf am zweiten Wettbewerb teilnehmen.“
„Ihnen ist doch klar“, meinte Leon zu Magdalena, „dass es mehr als gefährlich ist, sich in die reißenden Fluten dieses Flusses zu begeben.“ Die Managerin reagierte mit einem spöttischen Lächeln und erwiderte: „Das kann schon sein, aber besteht darin nicht gerade der Reiz dieses Wettkampfes?“
Leon schüttelte ungläubig den Kopf. Dann blickte er auf den Mann namens Sergio, der bereits auf dem Startplatz stand und den Eindruck machte, als könne er es nicht mehr abwarten, dass es endlich los ginge. Sein Rivale drehte jetzt den Kopf zu ihm und grinste ihn an. Die Siegesgewissheit stand ihm förmlich im Gesicht geschrieben.
Leon betrachtete Sergios durchtrainieren Körper. Er hat nicht die Statur eines Bodybuilders, dachte Leon, eher die eines Zehnkämpfers – stark, sehnig und ausdauernd. Gegen den bin ich völlig chancenlos.
Während Leon den Befehl der Managerin befolgte und sich neben seinen Gegner auf das kleine Felsplateau stellte, kämpfte er gegen das Gefühl von Hoffnungslosigkeit an. Obwohl ihm ein warmer Wind um die Ohren pfiff, fröstelte es ihn.
Er erinnerte sich daran, dass er eigentlich ein guter Schwimmer war und in seiner Jungend nicht nur mehrere Schwimmabzeichen erworben hatte, sondern auch bei einigen Schulwettkämpfen als Sieger aus dem Becken gestiegen war. Aber das reichte jetzt nicht, um ihm Mut einzuflößen. Vielleicht ist wenigstens das Wasser nicht zu kalt, dachte er, doch ob das eine Rolle spielen würde, glaubte er nicht.
„Macht euch bereit, Eindringlinge“, rief die Wettbewerbs-Managerin, die sich ein paar Meter vom Startplatz entfernt an den Uferrand wegstellt hatte. Leon sah, dass sie eine Pistole in der rechten Hand hielt. „Wenn ihr den Schuss hört, beginnt der Wettkampf“, ließ Magdalena verlauten, „und macht euch klar, dass ihr von niemandem Hilfe erhaltet, wenn einem von euch die Kraft ausgehen oder er ein anderes Problem haben sollte.“
Diese Info hätte sie sich sparen können, dachte Leon und nahm sich vor, im Wasser vor allem auf die Strudel zu achten, die er gesehen hatte. Er konnte sich gut vorstellen, dass es für ihn schon das Aus bedeuten würde, sollte er in einen solchen Strudel hinein geraten. Auch die gefährliche Nähe des Wasserfalls war ihm natürlich bewusst.
Während er ein wenig verkrampft etwa zwei Meter neben Sergio auf dem Felsen stand und mit flatternden Nerven auf den Startschuss wartete, warf ihm Sergio einen arroganten Seitenblick zu und sagte dann halblaut, so als spräche er mit sich selbst: „Dieser Typ wird Fischfutter werden, da gehe ich jedeWette ein.“
Dieser Satz war es, der Leon aus seiner Lethargie und Hoffnungslosigkeit riss. Dem überheblichen Kerl werde ich es zeigen, dachte er wütend, und sein Zorn erweckte die Kampfeslust in ihm. Vielleicht habe ich ja doch eine Außenseiter-Chance, dachte er, oder es geschieht ein Wunder, wer weiß das schon.
6.
Leon wollte jetzt nicht länger warten, sondern den Wettkampf schnell hinter sich bringen, wie immer er ausgehen würde. Doch als Magdalena den Startschuss abfeuerte, war es sein Rivale, der schneller reagierte. Ehe Leon sich unsportlich mit den Füßen voran in den Fluss fallen ließ, hatte Sergio, nach einem eleganten Kopfsprung, kraulend bereits eine Strecke von mindestens fünf Metern zurückgelegt.
Leon spürte sofort, dass die Wassertemperatur niedriger war als erhofft, und merkte die enorme Kraft der Strömung. Da Kraulen nicht seine Königsdisziplin war, verfolgte er seinen Konkurrenten mit kräftigen Brustschwimm-Stößen, aber trotz aller Anstrengung registrierte er, dass sich der Abstand zwischen ihnen schnell weiter vergrößerte.
Jetzt aufzugeben ist keine Option, dachte Leon und erinnerte sich an seinen Vorsatz, auf eventuelle Strudel zu achten, allerdings konnte er vor sich noch keine kreisförmigen Wirbel im Wasser erkennen.
In Leons Schwimmrichtung ragte ein kleiner Felsen aus dem Wasser, und während er ihn umrundete, verlor er Sergio für kurze Zeit aus den Augen. Doch als er das Hindernis hinter sich gelassen hatte, entdeckte er seinen Wettkampf-Gegner wieder. Weit voraus voraus setzte dieser unermüdlich seinen athletischen Kraulstil fort.
Leon schätzte, schon bald würde Sergio die Mitte des Flusses erreicht haben, da fiel ihm auf, dass sein Kontrahent vom geraden Kurs auf das gegenüberliegende Ufer abgewichen war. Mehr und mehr driftete er zur linken Seite, genau in Richtung des Wasserfalls, dessen Tosen Leon hier noch lauter erschien als vorhin am Ufer.
Leon hatte nur einer Erklärung für Sergios Kurswechsel: In der Flussmitte muss die Strömung noch viel stärker ein, dachte er, und wahrscheinlich ist mein Wettkampf-Gegner davon überrascht worden.
Er sah, dass Sergio verzweifelt versuchte gegenzusteuern, doch trotz seiner Bemühungen bewegte er sich immer schneller auf den Wasserfall zu, ohne sich deutlich dem rettenden Ufer zu nähern.
Leon reagierte sofort auf das, was er sah. Er schwamm weiter, aber nicht mehr direkt und gerade auf das andere Ufer zu, sondern in einem schrägen Kurs nach rechts, um mehr Abstand zum Wasserfall zu bekommen.
Ihm war klar, dass er damit die Schwimmstrecke verlängerte, doch nach einem weiteren Blick zu Sergio, der jetzt nicht mehr weit vom Wasserfall entfernt verzweifelt gegen die Strömung ankämpfte, wusste er, dass sich ihm keine andere Chance bot.
Er hatte jetzt auch die Mitte des Flusses erreicht und spürte am eigenen Leib, wie hier die Fluten an Geschwindigkeit und Power zunahmen. Immer wieder korrigierte er seinen Kurs flussaufwärts, also noch mehr gegen die Strömung, was ihn natürlich viel mehr Kraft kostete. Bang fragte er sich, ob seine Energiereserven ausreichen würden, um zu überleben.
Um ein Haar hätte Leon die trichterförmige Vertiefung auf der Flussoberfläche übersehen, um die herum sich das Wasser spiralförmig drehte. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig auszuweichen und am Rand des Strudels vorbei zu schwimmen. Noch mal Glück gehabt, dachte er.
Doch sein Glücksgefühl war nur von kurzer Dauer, denn er bemerkte, dass er trotz seiner Kurskorrektur dem Wasserfall ein Stück näher gekommen war. Sein Blick suchte nach Sergio, und dann sah er ihn.
Sergio befand sich nur noch wenige Meter von der Gischt-Wand und dem Abgrund entfernt und hatte das Schwimmen anscheinend aufgegeben. Leon sah noch, wie er beide Arme aus dem Wasser in Richtung Hummel streckte, so als sei dies ein Signal seiner Kapitulation. Und dann war er im Wassernebel verschwunden.
Leon war schockiert, obwohl er ja eigentlich froh über das Scheitern seines Rivalen sein musste. Die Angst, vom Wasserfall in die Tiefe gerissen zu werden, war brutal und drohte ihn zu lähmen, doch er kämpfte dagegen an und weigerte sich aufzugeben. Ich muss mich noch mehr anstrengen, dachte er, und versuchen, den Abstand zum Wasserfall nicht noch größer werden zu lassen.
Nach ein paar Minuten erkannte er, dass er dies nicht schaffte. Wieder war der neblige Gischt-Vorhang etwas näher gerückt, und das Tosen der herab stürzendenWassermassen noch lauter geworden. Allerdings fiel Leon auf, dass er die Flussmitte mittlerweile hinter sich gelassen hatte und die Strömung ein wenig schwächer geworden war.
Er schöpfte neue Hoffnung, doch im war kalt, und seine Arme und Beine fühlten sich zunehmend taub und kraftlos an. Jetzt bloß nicht schlapp machen, dachte er. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Rhythmus seiner Schwimmzüge immer langsamer wurde.
Und doch rückte das rettende Ufer näher. Der Wasserfall aber auch. Leon hatte keine Ahnung, was er eher erreichen würde, aber sein eiserner Wille sorgte dafür, dass er weiter schwamm.
Ein Schutzengel wachte über Leon– oder vielleicht hatte er einfach auch nur verdammtes Glück, denn als er sicher die schmale Gasse zwischen zwei Strudeln passierte, war ihm überhaupt nicht bewusst, dass er sich in größter Gefahr befand.
Immer wieder schaute er ängstlich zur Seite, um zu sehen, wie weit er noch vom Wasserfall entfernt war. Er konnte die Entfernung schlecht schätzen, erkannte aber, dass er sich der Nebel-Wand wieder etwas genähert hatte. Zu seiner Erleichterung war der Abstand zum Ufer jetzt deutlich geringer geworden, aber er musste doch noch ein ganzes Stück zurücklegen und merkte, dass ihm allmählich die Energie ausging.
Leons schräger Schwimmkurs, bei dem er fast Flussaufwärts gegen die Strömung ankämpfen musste, war äußerst kraftraubend, und er zweifelte jetzt ernsthaft daran, dass er es so schaffen würde.
Vielleicht sollte ich die restliche Strecke einfach gerade auf’s Ufer zu schwimmen, dachte er, und hoffen, dass ich es erreiche, bevor mich die Strömung auf die Wasserfall-Kante getrieben hat.
Leon taxierte noch einmal den Abstand zum Ufer und die Entfernung zum jetzt ohrenbetäubend dröhnenden Wasserfall, dann beschloss er, alles auf eine Karte zu setzen.
Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven und hielt direkt auf das Ufer zu. Je näher er der von hohem Gras und niedrigen Sträuchern bewachsenen Böschung kam, um so schwacher wurde die Strömung. Er schätzte, dass es vielleicht noch fünfzig Meter bis zum rettenden Ufer war. Das könnte ich schaffen, dachte er.
Doch als Leon sah, dass der Abstand zum Wasserfall stark zusammen geschrumpft war und die Gischt-Wand eine bedrohliche Nähe erreicht hatte, hatte sich sein Hoffnungsschimmer in Luft aufgelöst.
Er hatte das Gefühl, seine Rettung nicht mehr selbst in der Hand zu haben . Irgendjemand anderes wird über mein Schicksal entscheiden, dachte er. Es scheint jetzt ein reines Glücksspiel zu sein, bei dem der Einsatz allerdings teuflisch hoch ist.
Leon blieb nichts anderes übrig, als sich auf ein baldiges Ende gefasst zu machen. Er nahm sich vor, in den vielleicht letzten ihm verbleibenden Sekunden nicht mehr in Richtung des Wasserfalls zu schauen, und blickte stur geradeaus.
Das Tosen erreichte einen schwer erträglichen Lautstärkepegel, und Leon spürte schon die wirbelnden Tropfen der aufsteigenden Gischt im Gesicht, da erkannte er, dass er das Ufer erreicht hatte.
7.
Direkt vor ihm wuchs ein dichter Busch am Uferrand, dessen Zweige zum Teil ins Wasser ragten. Sofort griffen seine Hände nach dem Geäst, und es gelang ihm, einen stabilen Zweig zu packen und sich daran fest zu klammern, doch die auch am Flussrand noch vorhandene Strömung versuchte, ihn mit sich zu reißen.
Für einen Moment dachte er, er würde angesichts der an seinem Körper zerrenden Kräfte den Halt verlieren, aber dann schafft er es, sich Stück für Stück an dem Zweig aus dem Wasser zu ziehen. Völlig erschöpft ließ er sich in den Busch fallen und spürte nicht, wie Zweigspitzen sein Gesicht und seinen Oberkörper zerkratzen.
Die Kälte und seine unbequeme Lage veranlassten Leon, sich nach kurzer Zeit aufzurichten und aus dem Gebüsch zu klettern. Zitternd stand er im hohen Gras und fühlte sich wie erschlagen. Doch als er dann zum Fluss blickte, erkannte er, wie knapp er dem Tod entronnen war.
Vielleicht zwanzig Meter von ihm entfernt stürzte das Wasser dröhnend in die Tiefe, und die dichte Gischt-Wand reichte fast bis an ihn heran.
Leon war zu erschöpft, um angesichts seiner Rettung Glücksgefühle zu empfinden. Doch aus seiner lethargischen Müdigkeit wurde er jäh heraus gerissen. Irgendetwas umklammerte seine rechte Schulter, so dass er erschrocken zusammen zuckte und herum wirbelte.
Vor ihm stand die Wettbewerbsmanagerin, grinste ihn an und sagte etwas zu ihm, was er wegen des lauten Wasserfall-Geräuschs nicht verstehen konnte. Erst als sie ganz nah an ihn heran trat und ihm direkt ins Ohr sprach, hörte er sie. „Herzlichen Glückwunsch, Leon“, sagte sie, „das war wirklich eine starke Leistung.“
Dann reichte sie ihm einen langen, flauschigen Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte. Der am ganzen Körper schlotternde Leon hatte Mühe, das Kleidungsstück anzuziehen, so dass Magdalena ihm dabei half. Dann ergriff sie seine Hand und zog ihn vom Flussufer weg.
Als sich beide weit genug vom dröhnenden Wasserfall entfernt hatten, blieb Magdalena stehen und ließ Leons Hand los. „Damit du bis zum Beginn des zweiten Wettbewerbs wieder ein wenig zu Kräften gekommen bist, wirst du dich ausruhen müssen“, sagte sie – und es klang so bestimmt, als würde sie keine Widerrede dulden.
„Ein Stück die Wiese hinauf steht eine kleine, beheizte Hütte“, fuhr sie fort, „dort kannst du dich aufwärmen, ein wenig Energie auftanken und etwas Stärkendes essen, bis in vier Stunden der entscheidende Wettkampf startet.“
„In vier Stunden schon?“, fragte Leon, sichtlich erschüttert über diese Information. „Bis dahin kann ich unmöglich wieder fit sein, für was auch immer.“ „Wir werden sehen“, antwortete die Managerin, „aber so sind nun mal die Wettbewerbsregeln, und ich bin nicht befugt, sie zu ändern.“
Magdalenas entschlossener Gesichtsausdruck veranlasste Leon, nicht weiter zu protestieren. Und so folgte er ihr schweren Schrittes und immer noch barfuß einen kleinen Hügel hinauf, bis sie ein kleines Holzhaus erreichten.
Leon wurde von der Managerin ins Innere geführt, wo ihm die Hitze aus einem Kaminofen wohlig entgegen strömte. Als er die große Couch entdeckte, die an der Rückwand des mit rustikalen Möbeln einfach eingerichteten Raumes stand, steuerte er wie automatisch auf sie zu und ließ sich noch im Mantel darauf fallen. In Sekundenschnelle war er eingeschlafen.
Nach drei Stunden und fünfundvierzig Minuten wurde Leon von der Managerin unsanft geweckt und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. „Genug ausgeruht, Leon“, sagte sie, und als er tief seufzte und die Augen wieder schloss, gab sie ihm eine Ohrfeige.
Erschrocken riss Leon die Augen auf und starrte Magdalena an. Zunächst war nur Verwirrung in seinem Blick, doch dann wich diese einer ernüchternden Gewissheit. „Okay“, murmelte er und erhob sich schwerfällig von der Couch. Er sah, dass hinter der Managerin der groß gewachsene Uniformierte stand, seinen Schlagstock einsatzbereit in der rechten Hand haltend.
Leons Magen begann zu knurren, worauf er Magdalena darauf hinwies, dass er Hunger habe. „Zu spät“, meinte sie, „dafür ist jetzt keine Zeit mehr. In wenigen Minuten beginnt der zweite Wettkampf, und du musst dich noch umziehen.“
Mit ihrem rechten Arm wies sie auf einen Holzstuhl neben der Couch. Leon sah, dass eine kurze Sporthose und ein T-Shirt darauf lagen, unter dem Stuhl entdeckte er ein Paar Laufschuhe.
„Los Leon, mach dich bereit für den entscheidenden Zweikampf“, forderte ihn Magdalena auf. „Bei diesem Duell wird es sich um einen Laufwettbewerb handeln“, erklärte sie, „allerdings werden wir dich und deinen Kontrahenten nicht für einen gewöhnlichen Wettlauf antreten lassen, sondern euch auf einen ganz besonderen Hindernislauf schicken. Und der wird einige Tücken und Überraschungen bereit halten, das verspreche ich dir.“
Die Managerin grinste erwartungsvoll, doch dann verfinsterte sich ihre Miene, und sie wies noch einmal auf den Stuhl mit der Sportkleidung hin. „Gib mit deinen Mantel“, sagte sie in harschem Ton, „den brauchst du jetzt nicht mehr.“
Leon zog den Mantel aus und reichte ihn Magdalena. Dann fiel ihm auf, dass er immer noch seine nasse Badehose trug, und er forderte die Managerin auf, sich umzudrehen, damit er diese ausziehen könne. „Vergiss es“, sagte sie, „meinst du etwa, ich hätte noch nie einen nackten Mann gesehen? Und jetzt beeil dich, sonst wird dir mein Partner Harry ein bisschen nachhelfen.“
Leon sah keine andere Möglichkeit, als sich der Badehose zu entledigen, während er der Managerin den Rücken zukehrte. Schnell schlüpfte er in die Sport-Shorts und zog das T-Shirt an. Dann prüfte er, ob die Laufschuhe passten, und musste feststellen, dass sie eine Nummer zu klein waren.
Bevor er sich darüber beklagen konnte, sagte Magdalena: „Die musst du schon anziehen, wir haben keine anderen. Also los!“ Während Leon murrend seine Füße in die Schuhe quetschte, meinte die Managerin: „Dein Gegner im Laufduell wird übrigens Sergej sein, ein drahtiger Kerl, der über eine unglaubliche Kondition und Ausdauer verfügt. Es wird dir alles andere als leicht fallen, ihn zu schlagen. Aber du wirst ihn ja gleich zu Gesicht bekommen.“
Magdalena und der große Uniformierte namens Harry geleiteten Leon aus der Hütte. Sie liefen über eine Wiese und überquerten einen kleinen Hügel, der locker von dornigen Büschen bewachsen war, bis sie einen kleinen Bach erreichten, den auf der gegenüber liegenden Uferseite hohe Pappeln säumten.
Leon sah, dass auf ihrer Seite ein Trampelpfad am Bach entlang verlief. In ein paar hundert Metern Entfernung entdeckte er zwei Menschen, die auf diesem Pfad standen auf irgendetwas oder irgendjemanden zu warten schienen. Näher herangekommen erkannte er den anderen Uniformierten sowie daneben einen hageren Mann, der wie er Jogging-Dress trug war. Das muss Sergej sein, mein Rivale, dachte Leon.
Ihm fiel jetzt auch auf, dass neben der Stelle, wo die beiden standen, ein großer Mühlstein im Gras lag. Als könnte Magdalena seine Gedanken lesen, sagte sie: „Dieser Mühlstein markiert den Startpunkt für den Wettlauf. Und ein weiterer Mühlstein wird euch auch das Ziel anzeigen, wenn ihr es bis dahin überhaupt schaffen solltet. Denn ihr werdet auf dieser ganz speziellen Strecke einige schwierige Hindernisse überwinden müssen.“
Bei Sergej und dem Uniform-Mann angelangt sagte Leon „Hallo“, aber keiner von beiden erwiderten seinen Gruß. Leon musterte Sergej, der ihn nicht anschaute, sondern stur auf den Bach starrte, als gebe es da etwas Besonderes zu sehen.
So ein arroganter Kerl, dachte Leon. Er stellte fest, dass Sergej die typische Statur eines Langstreckenläufers hatte. Er war groß gewachsen, schlank und drahtig. Und er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, schätzte Leon.
Er war sich bewusst, dass dieser Wettlauf ein mehr als harter Kampf werden würde, nicht zuletzt, weil er sich immer noch erschöpft und ausgelaugt vom Schwimmen fühlte.
„Wie lang ist eigentlich unsere Laufstrecke?“, fragte er Magdalena. „Das weiß ich gar nicht so genau“, antwortete sie, „aber ihr werdet schon eine ganze Zeit lang unterwegs sein.“ Dann wies sie Leon und Sergej an, sich mit einem Meter Abstand neben den Mühlstein zu stellen und nach dem Startschuss los zu sprinten.
„Die Wettkampf-Regel ist wieder ganz simpel“, erklärte sie, ihre Pistole bereits einsatzbereit in der Hand. „Wer als Erster beim nächsten Mühlstein angekommen ist, hat gewonnen. Was mit dem zweiten Sieger geschieht, wisst ihr ja. Und falls die Situation eintreten sollte, dass einer von euch unterwegs tragisch aber tödlich verunglückt und der Überlebende es nicht schaffen sollte, das Ziel zu erreichen, so hat er Pech gehabt und landet in der Strahlenkammer.“
Leon bemerkte, dass nach Magdalenas Bemerkung ein heftiges Zucken über Sergejs bislang maskenhaft starres Gesicht lief, und er den Blick jetzt auf seine Füße gerichtet hatte. Was für ein seltsamer Kerl, dachte Leon und überlegte ob er diesem Typen nach dem Start vielleicht einen soliden Vorsprung geben sollte. So würde ich ihn in Sicherheit wiegen, dachte er, und meine eigenen Kräfte schonen. Natürlich war ihm klar, dass diese Strategie auch verdammt schief gehen konnte.
Während Leon noch über sein Vorhaben nachdachte, wies Magdalena die Läufer darauf hin, dass die Strecke zwar immer geradeaus ging, sie aber nicht die ganze Zeit am Bach entlang führte. „Manchmal ist der Pfad vielleicht nicht unbedingt als Weg zum Ziel zu erkennen“, erklärte sie. „Aber in solch einem Fall zeigen euch Holzpfähle mit grünen Wimpeln an, wo ihr weiter laufen müsst.“
Und dann war es soweit. Leon stellte sich neben Sergej, der sich bereits während Magdalenas Hinweisen beim Mühlrad positioniert hatte und dort in gebückter Haltung verharrte. Leon fiel auf, dass Sergej die Augen geschlossen hatte, was er äußerst merkwürdig fand.
Beim Startschuss schnellte Sergej nach vorn und nahm sofort Tempo auf. Gib du ruhig richtig Gas, dachte Leon, wir werden ja sehen, ob du langstreckentauglich bist oder doch nur über ein Sprinter-Talent verfügst. Er selbst ließ es gemächlich angehen.
8.
Während der Abstand zwischen Sergej und Leon stetig größer wurde, dachte Leon an Magdalenas Bemerkung über die Hindernisse, die sie auf der Laufstrecke überwinden mussten. Wer weiß, überlegte er, vielleicht haben diese Hindernisse ja einen großen Einfluss auf den Ausgang des Wettkampfes, und der Außenseiter bekommt eine echte Chance auf den Sieg. Auf jeden Fall nahm er sich vor, während des Laufens besonders aufmerksam zu sein.
Die Laufstrecke entfernte sich jetzt vom Bach, und der Pfad, der bislang überwiegend von niedrigem Gras bewachsen war, wurde zunehmend sandiger. Leon sah, dass sein Gegner jetzt schon einen beträchtlichen Vorsprung hatte, und er beschleunigte sein Tempo, damit der Vorsprung nicht bald uneinholbar werden würde. Gleichzeitig wollte er verhindern, dass sein Sichtkontakt zu Sergej abbrach.
Schon kurz nach dem Start hatte Leon in den zu kleinen Laufschuhen einen unangenehmen Druck auf seine Zehen gespürt, doch mittlerweile sandten die Gliedmaßen heftige Schmerzsignale an sein Gehirn. Von seiner Pein abgelenkt wurde er, als er bemerkte, dass sich der Abstand zu Sergej deutlich verringert hatte, – was ihn wunderte, denn er hatte sein Tempo nur leicht angezogen.
Sekunden später ahnte er, was der Grund für sein Aufholen sein könnte. Der Sand auf dem Weg, der kaum mehr als solcher zu erkennen war, war feiner und tiefer geworden, und Leon versank bereits bis zu den Knöcheln darin. Natürlich hatte das Auswirkungen auf die Geschwindigkeit, und bald konnte von Laufen keine Rede mehr sein.
Es ging jetzt leicht bergauf, was Leon auf den Gedanken brachte, er durchquere eine Dünenlandschaft. Mühsam stapfte er durch den Sand, und das Vorwärtskommen erschien ihm nur noch wie ein Durchwühlen. Bei aller Anstrengung tröstete ihn jedoch die Gewissheit, dass sein Kontrahent ebenfalls mit diesem Problem zu kämpfen hatte, vielleicht ja sogar mehr als er selbst.
Vom Bach war jetzt nichts mehr zu sehen, und die vorher grasbedeckte Landschaft glich mittlerweile eher einer Wüste. Da kein Weg mehr zu erkennen war, sorgten die von Magdalena erwähnten Holzpfähle mit den grünen Wimpeln für Orientierung, in welche Richtung der Lauf weitergehen sollte.
Leon sah, dass Sergej jetzt nur noch etwa fünfzig Meter von ihm entfernt war. Er erkannte, dass sein Gegenspieler inzwischen bis zu den Knien im Sand steckte und angestrengt versuchte, wieder heraus zu kommen. Spontan beschloss er, vom Kurs abzuweichen und die Streckenwimpel zu ignorieren. Wenn ich in diesen tiefen Sand hinein gerate, dachte er, schaffe ich es höchstwahrscheinlich nicht wieder heraus.
Leon steuerte nach rechts und stellte erfreut fest, dort bei jedem Schritt etwas weniger einzusinken. In der Annahme, so die besonders tiefe Stelle umgehen zu können, bewegte er sich parallel zu den Streckenpfosten weiter voran.
Seine Hoffnung, Sergej würde im Sand stecken bleiben und sich nicht mehr daraus befreien können, erfüllte sich nicht. Er war fast schon auf der Höhe seines Gegners, da sah er, dass dieser sich aus der Düne frei gekämpft hatte und seinen Lauf auf anscheinend festem Boden fortsetzte.
Leon war enttäuscht – und es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die vorgesehene Strecke zurück zu kehren und die Verfolgung aufzunehmen. Er war froh, auf dem federnden, grasbedeckten Boden wieder normal laufen zu können, doch das sollte sich schon bald ändern.
9.
Erneut veränderte die Landschaft ihr Gesicht. Auf beiden Seiten waren jetzt Teiche zu sehen, an deren Ufern Schilf und Rohrkolben wuchsen. Nach und nach verwandelte sich die feuchte Wiese in einen flachen, bräunlichen See, aus dem die Gerippe von abgestorbenen Bäumen und Sträuchern ragten.
Wir scheinen hier in ein Moorgebiet hinein geraten zu sein, dachte Leon und bemerkte, dass der Untergrund, auf dem er lief, nachgab. Ein Schreck durchfuhr ihn, und besorgt schaute er nach vorn zu Sergej, der sich wieder einen Vorsprung von mindestens fünfzig Meter erkämpft hatte. Leon fragte sich, ob sein Kontrahent wohl Probleme mit dem Weg hätte.
Und die hatte er, denn Sergej war anscheinend mitten in ein Moorloch hinein gelaufen und steckte bereits bis zu den Oberschenkeln in einer dunklen, dicken Brühe.
Sofort stoppte Leon seinen Lauf. Er sah, wie Sergej verzweifelte Bewegungen machte, um aus dem Sumpf wieder herauszukommen, doch je heftiger er mit den Armen ruderte und mit seinem Körper hin und her ruckte, umso tiefer sank er ein. Jetzt war er bereits bis zur Hüfte von Moor umgeben.
Leon wusste nicht, wie er reagieren sollte. Natürlich wäre es ein Vorteil, dachte er, wenn sein Gegner auf der Strecke umkommen würde, vorausgesetzt, er selbst würde es bis ins Ziel schaffen. Andererseits würde es bedeuten, dass er einem Menschen in höchster Not dabei zusah, wie er starb – und das auf eine schreckliche Weise.
Nein, das kann ich nicht, dachte Leon, ich werde versuchen, ihm zu helfen. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, immer genau auf den nassen, teils schon etwas sumpfigen Untergrund des Pfades achtend. Er war froh, nicht tiefer als bis zu den Knöcheln einzusinken.
Als er am Wegrand einen langen, stabil aussehenden Ast liegen sah, hob er ihn auf. Er hoffte, dass dieser Ast helfen könnte, Sergej aus dem Morast zu befreien.
Er schaffte es, bis zu der Stelle zu gelangen, an der sein Laufgegner inzwischen bis zum Bauch im Moor steckte und jegliche Bewegung aufgegeben hatte. Leon hörte, wie Sergej etwas murmelte, vielleicht spricht er ein Gebet, dachte er.
Das Moorloch, in dem Sergej mehr und mehr versank, erschien Leon nicht sehr groß zu sein, er schätzte es auf drei mal drei Meter. Ihm fiel auf, dass hinter dem Loch der Pfad wieder begehbar aussah, auch wenn die Grasfläche von etwas Wasser bedeckt war.
Am Rand des Moorloches stehend, hielt Leon Sergej den Ast hin, doch als der das Ende ergriff und sich daran festklammerte, brachte das Leon fast zu Fall. Er überlegte, dass es wahrscheinlich besser sei, sich beim Rettungsversuch hinzuknien.
Nach und nach kam Sergej mit Hilfe des Astes immer näher zum Rand des Moorloches, bis Leon sich wieder halb aufrichtete und ihn, in der Hocke und vor Anstrengung ächzend, das letzte Stück herauszog.
„Danke“, sagte Sergej, doch sein Gesichtsausdruck ließ weder aufrichtige Dankbarkeit noch Freude über die Rettung vor einem grausamen Tod erkennen. Während Leon erschöpft, mit zitternden Händen und gebeugtem Rücken da stand, richtete sich Sergej zu seiner vollen Größe auf, atmete tief durch und sah Leon an, wobei tiefe Entschlossenheit in seinem Blick lag.
„Wir müssen weiter laufen, sonst sind wir beide verloren“, sagte er, und ehe Leon etwas darauf erwidern konnte, hatte sich der bis zum Bauch mit schwarzem Morast bedeckte Sergej umgedreht und ging mit vorsichtigen Schritten um das Moorloch herum.
„Warte“, rief Leon, doch Sergej begann bereits los zu rennen, und bei jedem Laufschritt spritzte bräunliches Wasser auf. Der Kerl ist verrückt, dachte Leon, aber dann wurde ihm schnell klar, dass sein Gegner einfach nur seine Chance nutzen wollte, am Leben zu bleiben. Und dafür musste er als Erster am Mühlstein ankommen.
Allerdings wollte Leon ebenfalls nicht sterben. Und da weder er noch Sergej wussten, welche Fallen oder Hindernisse noch auf der Strecke lauerten, durfte er jetzt nicht aufgeben, obwohl er sich völlig verausgabt hatte und kein Quäntchen Energie mehr in sich fühlte.
Trotzdem gab er sich einen Ruck, umrundete das tückische Moorloch und nahm die Verfolgung seines Kontrahenten wieder auf. Dabei war sein Tempo kaum höher als Schrittgeschwindigkeit.
10.
Während der nächsten Minuten wurde der immer wieder von Pfützen bedeckte Pfad zunehmend trockener, und bald lief Leon auf einem festen, steinigen Untergrund, dessen mehr oder minder breite Risse und Spalten seine besondere Aufmerksamkeit erforderten.
Der kurvige Weg wurde steiler, und einmal mehr hatte sich die Landschaft verändert. Während auf der linken Seite hohe Felswände aufragten, säumten zur rechten Hand dichte, dornige Büsche die Strecke.
Von Sergej war nichts mehr zu sehen. Kein Wunder, dachte Leon, bei meinem Schneckentempo hat er wahrscheinlich schon einen Riesen-Vorsprung. Allmählich neigten sich seine allerletzten Kraftreserven dem Ende zu und ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit begann in ihm zu keimen.
Er wünschte sich, dass es nicht noch weiter bergauf ging, denn immer häufiger musste er stehen bleiben, um kurze Pausen einzulegen und durchzuschnaufen.
Nach einer erneuten Biegung blickte Leon auf eine gerade, lange Strecke und eine bunte Blumenwiese, die rechts vom mit Geröll und Schotter bedeckten Weg durch einen mindestens vier Meter hohen Gitterzaun mit oben angebrachtem Stacheldraht geschützt wurde.
Und dann entdeckte er, gar nicht so weit vor sich, Sergej. Er wunderte sich darüber, dass sein Kontrahent ihm nicht längst völlig enteilt war, und fragte sich, was der Grund dafür sein mochte.
Auf jeden Fall gab die überraschende neue Situation Leon noch einmal einen kleinen Schub, und es gelang ihm, etwas schneller zu laufen. Wer weiß, wie lange noch, dachte er.
Nach einer Weile stellte er erfreut fest, Sergej wieder ein Stück näher gekommen zu sein. Auf einmal hielt er es für möglich, seinen Gegner, den anscheinend langsam die Kräfte verließen, doch noch einholen zu können.
Allerdings wusste Leon nicht, wie weit es noch bis zum Ziel war. Sollte der Mühlstein in den nächsten Minuten auftauchen, würde er höchstwahrscheinlich nur zweiter Sieger werden, mit den bekannten, schrecklichen Konsequenzen.
Ein seltsames Verhalten Sergejs riss Leon aus seinen Gedanken. Er sah, wie sein Gegner plötzlich die Arme in die Luft schleuderte und dann wie wild um sich schlug. Sergejs Lauf glich jetzt einem Zick-Zack-Kurs, und während er sich hektisch hin und her bewegte, griff er sich immer wieder in die Haare und anscheinend auch ins Gesicht.
Leon fielen auf einmal die blauen Kästen auf, die dort, wo Sergej gerade lief, in einer Reihe vor dem Gitterzaun am Wegesrand standen. Es sah so aus, als gebe es von diesen Kästen weiter oben am Weg noch viel mehr.
Und dann begriff Leon, warum Sergej beim Laufen so merkwürdige Verrenkungen machte, und augenblicklich blieb er stehen. Bei diesen Kästen neben dem Weg muss es sich um Bienenstöcke handeln, dachte er, und deren Bewohner stürzen sich wohl gerade auf einen vermeintlichen Aggressor und traktieren den schutzlosen Sergej mit unzähligen Stichen.
11.
Leon hörte, wie Sergej, der jetzt nur noch vor sich hin stolperte und die Hände vors Gesicht gepresst hielt, gellend schrie, und in diesem Schrei klang nicht nur Schmerz, sondern auch Verzweiflung mit. Dann sah Leon, der schockstarr auf der Stelle verharrte, wie Sergej stürzte.
Sergej wälzte sich noch einige Sekunden auf dem Schotterboden hin und her, dabei erbärmlich klingende Laute von sich gebend. Und schließlich regte er sich nicht mehr.
Das sieht nicht gut aus, dachte Leon, überhaupt nicht gut. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Würde er nicht weiter laufen, so könnte er auch nicht ins Ziel gelangen, was zweifellos sein Ende in der Strahlenkammer zur Folge hätte.
Doch von einem Bienenschwarm zu Tode gestochen zu werden, erschien ihm auch nicht gerade als gute Alternative. Je länger er allerdings nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er überhaupt nur eine Überlebens-Chance hatte, wenn er es riskierte, an den Bienenkästen vorbei zu laufen.
Vorher den Weg zu verlassen und die Bienenstöcke zu umgehen, das war, wie er erkannte, schlichtweg nicht möglich. Die steile Felswand auf der linken und der hohe Zaun vor der Wiese auf der rechten Seite verhinderten ein Ausweichen.
Also blieb ihm nur der gefährliche Bienenweg. Doch wie konnte er bloß vermeiden, dass die Insekten sich von ihm bedroht fühlten und in Scharen über ihn herfielen?
Auf einmal sah Leon eine Möglichkeit, unversehrt und vor allem lebendig die nächste Wegstrecke zu überstehen. Wenn er davon ausging, dass Sergej die Bienen nur deshalb aufgescheucht und aggressiv gemacht hatte, weil er schnell an ihren Behausungen vorbei gerannt war, dann wäre es vielleicht klug, dachte er, bewusst langsam an den Kästen vorbei zu gehen, sozusagen vorbei zu schlendern.
Leon wusste natürlich nicht, ob das wirklich funktionieren würde, aber er sah keine andere Möglichkeit, als es auszuprobieren.
Er blickte wieder zu Sergej, der immer noch regungslos auf dem Weg lag. Die Bienen schienen sich wieder beruhigt zu haben und waren entweder in ihre Kästen zurückgekehrt oder gingen ihren Sammelgeschäften in der Blumenwiese nach.
Also, fragte sich Leon, worauf soll ich noch warten? Er nahm all seinen Mut zusammen und setzte sich ganz langsam in Bewegung. Behutsam, Schritt für Schritt steuerte er auf die Bienenstöcke zu. Er ging im Zeitlupentempo und bemühte sich, möglichst die Arme nicht zu bewegen sowie den Kopf starr und gerade auf dem Hals zu halten.
Als er am ersten Bienenstock angelangt war, schienen die Insekten unaufgeregt ihren Job zu erledigen. Ohne auf Leon zu achten, flogen sie in ihre Kästen hinein und wieder heraus. So langsam wie möglich ging Leon weiter, sein Herz schlug dabei wie wild.
Er hatte schon die Mitte der langen Bienenstock-Reihe erreicht, doch nichts war passiert. Allerdings traute er dem Frieden nicht. Sein T-Shirt war vollkommen durchgeschwitzt. Noch ein paar Meter weiter, und Leon stand direkt vor Sergej, der in der Mitte des Weges auf dem Rücken lag, die Arme ausgebreitet.
Der schreckliche Anblick des toten Laufgegners versetzte Leon einen Schock. Sergejs Gesicht war komplett entstellt, die Augen waren zu geschwollen. In seinen Armen und Beinen hatten hunderte Bienen ihre Stacheln versenkt, die Gliedmaßen wirkten wie aufgedunsen.
Erschüttert wandte sich Leon von Sergejs verunstaltetem Körper ab. Dem armen Kerl kann keiner mehr helfen, dachte er und setzte sich wieder in Bewegung. Er achtete noch mehr darauf, mit seinem Schleichgang auf die Bienen einen vertrauenswürdigen Eindruck zu machen.
Leon brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er den letzte Bienenstock passiert hatte. Bis zuletzt hatte er jede Sekunde mit einem Angriff der Insekten gerechnet, doch die Nektarsammler flogen zwar munter um ihn herum, stachen ihn aber nicht.
Als er genügend Abstand zu den Kästen gewonnen hatte und keine Attacke mehr von ihren Bewohnern befürchten musste, fühlte er eine große Erleichterung und beschleunigte seine Schritte. Doch zu mehr als einem gemäßigten Wandertempo fehlte ihm die Energie. Wozu auch rennen, dachte er, mein Gegenspieler existiert nicht mehr, und ich sollte mit meinen allerletzten Kräften haushalten.
Die Aussicht, einfach nur das Ziel zu erreichen, sich irgendwie bis zum Mühlstein zu schleppen, um so überleben zu können, stimmte ihn optimistisch, und er hoffte, nicht noch viele Kilometer zurücklegen zu müssen.
Jeder Schritt in seinen viel zu engen Schuhen war für Leon jetzt eine Qual, als er jedoch am rechten Wegrand, halb hinter einem hohen Strauch verborgen, ein Schild entdeckte, vergaß er für einen Moment seinen Schmerz. „500 Meter bis zum Mühlstein“ war auf dem verrosteten Schild zu lesen.
Hoch erfreut nahm Leon diesen Hinweis zur Kenntnis. Dann habe ich es ja fast geschafft, dachte er – aber beim Weitergehen auf dem jetzt wieder felsigen Weg hätte er um ein Haar die Spalte übersehen. Direkt nach einer scharfen Wegbiegung tat sich die tückische Öffnung plötzlich vor ihm auf.
Die Spalte war vielleicht zwei Meter breit, und beim Blick in die Tiefe schauderte es Leon, denn er konnte den Grund nicht erkennen. Das war knapp, dachte er. Ihm war klar, dass er das Hindernis überwinden musste, denn die Spalte reichte über den ganzen Weg bis zum unüberwindbaren Zaun.
Also muss ich springen, dachte er und war alles andere als glücklich über diese Erkenntnis, so erschöpft wie er sich fühlte. Leon wusste, dass es normalerweise kein Problem darstellen würde, über die Öffnung im Boden zu springen, doch jetzt verspürte er große Angst.
Lange zögerte er, bis er endlich Anlauf nahm und sprang. Er landete auf der anderen Seite, doch seine Füße prallten auf lose Kiesel, so dass er stürzte und ganz nah am Spaltenrand liegen blieb. Er konnte direkt hinunter in den Abgrund blicken.
Leons Herz schlug ihm bis zum Hals, und er wagte es nicht, sich in dieser Position aufzurichten. Wenn er jetzt stolpern würde, da war er sicher, würde er in die Tiefe stürzen. Ganz vorsichtig rollte er sich vom Spaltenrand weg, bis er glaubte, gefahrlos aufstehen zu können.
Leons Knie zitterten, als er wieder auf den Beinen war, und es bereitete ihm Mühe, weiter zu gehen. Er war davon überzeugt, in der nächsten heiklen Situation sein Glück vollständig aufgebracht zu haben, und versuchte deshalb, sich Mut zu machen, indem er immer wieder halblaut vor sich hin sprach: „Es ist nicht mehr weit, gleich habe ich es geschafft. Es ist nicht mehr weit …“
12.
Mit schweren Beinen und völlig ausgelaugt ging Leon weiter, bis ihn ein Geräusch abrupt stehen bleiben ließ. Das Geräusch kam von weit oben und klang so, als würden Steine auf einander schlagen und Felsen zerbersten, es prasselte und dröhnte.
In Sekundenschnelle kam das Geräusch näher. Himmel, ein Felssturz, dachte Leon und schaute panisch nach oben. Er sah, wie ein großer Gesteinsbrocken direkt auf ihn zu sauste. Und er wusste, dass ihm keine Zeit zum Ausweichen blieb …
Als Leon erwachte, spürte er ein unangenehmes Pochen im Schädel, doch viel schlimmer waren die Schmerzen in seinem rechten Bein. Er registrierte, dass er auf einem felsigen Untergrund lag, und als er auf das seltsam gekrümmte Bein blickte und versuchte, es zu bewegen, nahm ihm der brutal stechende Schmerz den Atem. Leon befürchtete, sich das Bein gebrochen zu haben, vielleicht sogar mehrfach. .
Irgend etwas drückte auf seinen Rücken, verblüfft stellte er fest, dass es sein Rucksack war, den er immer noch trug. Zusätzlich wunderte er sich darüber, nicht mehr im leichten Laufdress zu stecken, sondern mit seinen Wandersachen bekleidet zu sein, inklusive der durchnässten Softshell-Jacke und der Trekking-Boots. Das ist einfach irre, dachte Leon.
Er drehte seinen Kopf ein wenig, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen, doch was er dann sah, verwirrte ihn endgültig. Die mannshohe Felsspalte, die er in der Wand sah, kam ihm bekannt vor.
Da er nicht aufstehen konnte, drehte er seinen Körper unter enormen Schmerzen so, dass er in die andere Richtung schauen konnte, und das, was er dort erblickte, war ihm ebenfalls vertraut.
In zwei Metern Entfernung endete der glatte Felsboden, auf dem er lag, danach ging es steil nach unten ins Tal. Das reizvolle Bergpanorama, das sich seinen Augen in der Ferne bot, hatte er bereits bewundert, nachdem er auf den Felsvorsprung gestürzt war, wie er sich erinnerte.
Auf einmal glaubte er zu verstehen. Auch wenn es für mich schwer zu akzeptieren ist, dachte er, das hier ist die grausame Realität. Schließlich wusste er genau, dieses vorstehende, kleine Felsplateau nach seinem Absturz nie verlassen zu haben. Und jetzt liege ich immer noch hier, stellte er fest, hilflos, schwer verletzt und ohne Handy-Empfang.
Die einzige Erklärung, die Leon für seine unheimliche Reise durch den Glastunnel und die harten Wettkämpfe hatte, war für ihn, dass er das alles nur geträumt hatte. Aber verdammt, dachte Leon, was für Träume!
Als er versuchte, sein verletztes Bein ein wenig auszustrecken, stöhnte er vor Schmerzen auf. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, in welch´ hoffnungsloser Lage er sich befand. Niemand wird mich finden, dachte er, ich werde hier elendig verrecken.
Er brauchte lange und musste dabei die Zähne fest zusammenbeißen, um im Liegen den Rucksack von den Schultern zu streifen, damit er sein Handy heraus nehmen konnte. Die Schmerzen in seinem gebrochenen Bein waren jetzt kaum mehr auszuhalten, und vom bohrenden Kopfweh war ihm übel.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, und ein kalter Wind ließ Leon frösteln. In einem Gefühl der Wut, aber auch aus einer tiefen Resignation heraus schleuderte er sein Smartphone in die Tiefe.
Während der Himmel immer dunkler wurde und sich zu den Regentropfen dicke Hagelkörner gesellten, überlegte Leon, ob er seinen maroden Körper bis zum Rand des Felsvorsprungs schieben sollte – ganz langsam und behutsam, Zentimeter um Zentimeter, so wenig schmerzhaft wie möglich. Und dann könnte ich mich einfach fallen lassen, dachte er, und diesem Spuk ein Ende bereiten.