Die Schatzkarte

1.

 

Die See war ruhig. Zufrieden stellte Ben fest, dass die Meeresoberfläche glatt wie ein Spiegel aussah. 

 

Wenn jetzt aber ein Sturm aufkäme, dachte er, wäre er rettungslos verloren. Mit meterhohen Wellen würde dieses kleine, halb verrottete, wurmstichige Ruderboot nur einen kurzen, aussichtslosen Kampf führen. Da würde es auch keine Rolle spielen, dass keine Ruderblätter an Bord waren. 

 

Noch konnte Ben am Horizont kein Wölkchen entdecken, und das galt für alle vier Himmelsrichtungen.Was ihm allerdings Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass die große Korbflasche, die sie ihm in einem Anflug von Menschlichkeit mitgegeben hatten, mittlerweile leer war. Dass er sich die letzten, brackigen Wassertropfen gierig in seinen trockenen Mund geträufelt hatte, lag jetzt auch schon eine halbe Ewigkeit zurück.

 

Erbarmungslos brannte die Südsee-Sonne vom strahlend blauen Himmel herab, so dass Ben das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden. Um seinen Kopf zu schützen und keinen Sonnenstich zu bekommen, hatte er sich die fleckige, kleine  Stofftasche, in der sich ein trockenes, inzwischen verzehrtes Weißbrot befunden hatte, übers Haupt gezogen. Die nicht zu öffnende Dose mit Sardinen, die ebenfalls in der Tasche lag, hatte Ben wütend über Bord geworfen. 

 

Trotz seines Kopfschutzes war Ben überzeugt, es würde nicht mehr lange dauern, bis sein Gehirn Kochtemperatur erreicht hätte und ihm siedende Hirnflüssigkeit aus den Ohren schießen würde. Er war gespannt darauf zu erfahren, zu welchen Gedanken sein Steuermodul noch fähig sein würde, wenn es in den Verdampfungsprozess übergegangen wäre. 

 

Ben war klar, dass die Tragetasche sein Gesicht nicht vor der brutalen Sonne schützen konnte. Sonnenschutzfaktor Null, dachte er und musste grinsen. Weniger lustig fand er es, dass seine Nase und Wangen bereits vor längerer Zeit begonnen hatten, sich zu pellen, und er regelmäßig kleine, getrocknete Hautfetzen vom Gesicht zog und ins Meer schnippte. 

 

Wenigstens sein Hals blieb vor der heftigen Sonneneinstrahlung verschont, da er sich einen ausgefransten, schmierigen Schal, den im Boot gefunden hatte, umgebunden hatte. Doch seine Arme und nackten Füße waren schonungslos der Sonne ausgeliefert und hatten bereist einen knallroten Farbton angenommen. 

 

Warum man ihm Socken und Schuhe ausgezogen hatte, bevor er bewusstlos in diesen Kahn gelegt, der Meeresströmung anvertraut und auf eine ungewisse Reise geschickt wurde, war ihm immer noch ein Rätsel – und sein Zorn darüber keineswegs verrauscht. Diese blöden Idioten, murmelte er. 

 

Dann hielt er einmal mehr Ausschau nach irgendwelchen Vögeln, deren Auftauchen, wie er einmal gelesen hatte, darauf schließen ließ, dass sich in nicht allzu weiter Entfernung Land befinden musste. Doch leider, wie Ben feststellte, ließ sich immer noch kein gefiederter Freund blicken, und so war die nächste Küste wohl noch sehr weit entfernt. 

 

Verdammter Bockmist, fluchte er, und fühlte sich so durstig, wie noch nie in seinem Leben. Er sehnte sich nach Regen, der aus prall gefüllten Wolken gleichmäßig und ohne Wind auf ihn strömen würde, so wie ein Landregen, der den Boden stetig sättigte. Bloß kein Gewitterguss, dachte er, der zusammen mit heftigen Orkanböen den Ozean zum Schäumen und Tosen bringt und mich mitsamt dem alten, abgewrackten Boot in Richtung Meeresboden schickt.

 

Ben wünschte sich einen leichten aber ergiebigen Regen, den sein T-Shirt und seine Jeans aufsaugen würden, so dass er sie ausziehen und die kostbaren Himmelstropfen über seinem weit geöffneten Mund herauspressen könnte. Auch die Stofftasche könnte da helfen, den Durst zu löschen. 

 

Aber ohne Wolken kein Regen, dachte Ben, und er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet für ihn dieses uralte Naturgesetz einmal außer Kraft gesetzt würde, auch wenn es nur für kurze Zeit sein sollte. Und so legte er sich auf den harten Boden des hölzernen Bootes, fühlte sich kraft- und saftlos und dachte, dass ihn nur noch ein Wunder aus dieser misslichen, hoffnungslosen Lage befreien konnte.

 

Allerdings glaubte Ben nicht an Wunder, und während er eine erste Welle der Resignation auf sich zuströmen spürte, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Punkt, an dem diese ganze, verdammte Misere begann, dem Zeitpunkt, von dem an das Verhängnis seinen Lauf nahm. Es war der Vormittag vor drei Tagen. 

 

2.

 

Wie immer um elf Uhr öffnete Ben seine Strandbar. Er schaltete seine Musikanlage an, so dass die rhythmischen Reggae-Klänge mit dem Rauschen der Wellen, die auf den breiten Sandstrand schwappten, eine harmonische Einheit bildeten. Dann stieg er auf eine Trittleiter und wischte mit einem feuchten Tuch über das von Staub und Sand bedeckte Schild, damit man den Namen seines kleinen Lokals wieder besser lesen konnte. „BBB“ prangte dort groß Weiß auf Blau, und – etwas kleiner darunter – „Ben’s Beach Bar“.

 

Anschließend stellte er die große Schiefertafel neben den Outdoor-Tresen, der von einem breiten Baldachin aus einem dichten Geflecht von Maracuja- und Passionsblumen-Ranken überragt wurde, so dass auch auf Bambus-Barhockern sitzende Gäste im Schatten essen und trinken konnten.

 

Auf der Tafel hatte Ben die in seiner Bar angebotenen Drinks und Snacks sowie die jeweiligen Preise mit Kreide aufgelistet. Zu den dauerhaften Angeboten schrieb er den aktuellen Tages-Snack dazu, einen Ananas-Käse-Zwiebel-Salat mit Curry-Dressing und Fladen-Brot. Den Salat hatte er bereits am Morgen zubereitet und die große Glasschüssel in seinem XXL-Kühlschrank hinter demTresen verstaut. 

 

Da sich im BBB vor zwölf Uhr Mittags in der Regel nur wenige Gäste blicken ließen, managte Ben seine Bar die erste Stunde  allein, bis seine Mitarbeiterin Lola kam, um ihn zu unterstützen. 

 

Auf die hölzernen Kabeltrommeln, die als Tische dienten, stellte Ben jeweils eine Schale mit Cashew-Kernen und Mandeln. Dann platzierte er die Hocker richtig vor den Trommeln und wollte gerade damit beginnen, die Standorte der kleinen, schilfbedeckten Sonnenschirme zu optimieren, als die ersten Gäste auftauchten. 

 

Die zwei Typen, die sich grußlos an den Tresen setzten, hatte er hier noch nie gesehen. „Hallo, bin gleich da“, rief Ben, während er eine Baseball-Kappe, die ein Barbesucher hier wohl auf der Kabeltrommel liegen gelassen hatte, in seinen breiten Ledergürtel steckte. Von den frühen Gästen kam keine Reaktion. 

 

„Schönen guten Morgen“, begrüßte Ben das Duo, als er hinter den Tresen trat, und knipste dabei sein legendäres Lächeln an, das bisher jedes Eis gebrochen hatte, doch mehr als ein Grunzen vom dickeren der beiden Männer kam nicht zurück. 

 

Ben legte eine neue CD in den Player, und während Toots & The Maytals aus den kleinen Lautsprecherboxen, die über dem Tresen hingen, ertönten, schnappte er sich ein hohes Longdrink-Glas, polierte es mit einem Baumwolltuch ausgiebig und musterte seine Gäste etwas genauer.

 

Der Grunzer sah aus wie ein ehemaliger Schwergewichtsboxer, der ziemlich aus dem Leim gegangen war und eine komplette Glatze zur Schau stellte. Seine deformierte Nase saß schief im aufgedunsenen, roten Gesicht und war wohl nicht nur einmal gebrochen worden. 

 

Die buschigen Augenbrauen waren über dem maroden Riechorgan zusammen gewachsen, so dass Ben der verrückte Gedanke kam, ein billiger Schönheitschirurg hätte da seine Hände im Spiel gehabt. Auf jeden Fall sieht es ziemlich teuflisch aus, fand er – und wenig natürlich. Vielleicht könnte man ihm ja die Augenbrauen auf den kahlen Kopf verpflanzen.

 

Du ernährst dich ungesund, mein Freund, dachte Ben, als er sah dass der übergewichtige Zwei-Meter-Mann bereits die Schale mit den Nüssen leer gefuttert hatte und jetzt suchend seinen Blick über den Tresen schweifen ließ, um vielleicht Nachschub zu entdecken. Pech gehabt, dachte Ben, auf der Theke gibt es leider nur eine Schale. 

 

Der Kollege des Ex-Champions starrte wie in Trance auf den leeren Aschenbecher, der direkt vor ihm auf der Theke stand. Der Typ scheint der genaue Gegenpart seines Begleiters zu sein, dachte Ben. Anderthalb Köpfe kleiner, spindeldürr und mit einem faltigen, verkniffenen Gesicht wirkte er auf ihn wie jemand, der auf Verzicht programmiert war, Magengeschwüre hatte oder Dauerdiät schieben musste. 

 

Das I-Tüpfelchen seines Äußeren war eine dicke Warze, die mitten auf seinem schmalen, spitzen Kinn saß. Mehr noch ins Auge fiel allerdings die Tätowierung, die der Spargeltarzan rund um seinen Hals trug. Bei schlechtem Licht könnte man den Stacheldraht direkt für echt halten, dachte Ben. Und als ihm die exorbitanten Segelohren des Typs ins Auge fielen, überlegte er, ob er einen Dollar für eine Schönheitsoperation spenden solle. 

 

Er fand, es sei jetzt Zeit, sich bei seinen illustren Gäste zu erkundigen, was er ihnen denn anbieten könnte. „Was darf’s denn sein, Freunde?“, fragte er und bemühte sich dabei, gut gelaunt zu klingen. 

 

Der Dicke hatte sein Suche nach weiterer Nervennahrung eingestellt und schenkte ihm mit einem überheblichen Grinsen im feisten Gesicht erstmalig seine Aufmerksamkeit, während der Dünne anscheinend aus seiner Selbsthypnose erwacht war und ihn mit einem stechenden, aber leicht schielenden Blick mürrisch  anstarrte. 

 

„Erstens sind wir nicht deine Freunde“, sagte der Dicke mit tiefer Stimme und einem gefährlich aussehenden Funkeln in seinen kleinen Augen, „und zweitens servierst du uns ruckzuck zwei doppelte Jamaika-Rum, aber den guten, mindesten dreizehn Jahre alten Plantation Rum – und nicht diesen billigen Fusel, wenn ich bitten darf. Und dass die Drinks auf’s Haus gehen, sollte dir doch klar sein, oder …?“

 

Ben war zwar kurz verblüfft, reagierte dann aber cool. „Okay, meine Herren, ich fülle euch gern zwei Gläser mit meinem besten Rum, aber erstens ist das nur ein zehn Jahre alter Appleton Estate Jamaica Rum, und zweitens wird euer Taschengeld vielleicht gar nicht reichen, um diese Drinks zu bezahlen.“ 

 

Der Glatzkopf stieß ein dröhnendes Lachen aus, und wie auf Kommando stimmte sein Partner in den Heiterkeitsausbruch mit ein und ließ ein hohes Meckern hören. Dann haute der Ex-Champ mit seiner rechten Faust auf den Tresen, dass die leere Nussschale einen Hüpfer machte. Augenblicklich verstummte das Gelächter.

 

Mit wutverzerrtem Gesicht beugte sich der Dicke vor, so dass Ben Sorge hatte, der Zweieinhalb-Zentner-Kerl würde ihm gleich mitsamt dem selbstgezimmerten Bambusholz-Tresen vor die Füße krachen. 

 

„Deine Dreistigkeit wirst du noch bereuen, Cocktail-Panscher“; stieß der Koloss zischend hervor. „Ich gebe dir genau eine Minute, dann stehen hier gut gefüllte Gläser mit edlem Rum vor uns und du hast uns die Schatzkarte von deinem Kumpel John ausgehändigt.“ Demonstrativ blickte er auf seine monströse, goldene Armbanduhr und fügte noch hinzu: „Die Zeit läuft, Surfer Boy.“ 

 

Ben war irritiert. „Soll das ein Scherz sein?“, fragte er, „von welcher Schatzkarte redest du denn hier?“ „Tu nicht so scheinheilig“, erwiderte der Dicke, und eine tiefe Zornesfalte tauchte in seinem fleischigen Gesicht auf. „Ich meine natürlich die Schatzkarte, die dir dein Freund John in Verwahrung geben hat. Also los, beweg deinen Hintern und verarsch’ mich nicht länger.“ 

 

„Aber dallidalli, Barkeeper“, blökte der Dünne mit zitternder Stimme, „unsere Zeit ist kostbar, und mein Partner wird gleich ungemütlich werden, und das willst du nicht erleben, glaube mir.“

 

Bens Hirn arbeitete auf Hochtouren. „Sachte, sachte, Jungs“, versuchte er die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern. Und um noch ein wenig Zeit zum Nachdenken herauszuschinden, fügte er hinzu: „Ich gieße euch erst einmal einen exzellenten Tropfen ein, und dann schauen wir einfach mal, worum es hier eigentlich geht.“

 

Er füllte zwei Longdrink-Gläser zur Hälfte mit seinem billigsten Rum, in der Gewissheit, dass diese beiden aufgeblasenen Kerle einen spanischen Osborne-Veterano-Brandy aus dem Supermarkt nicht von einem edlen Armagnac vom Chateau de Laubade unterscheiden können – und sich beim Rum genauso wenig auskennen. 

 

Ben sollte Recht behalten, denn seine Gäste leerten die Gläser in einem Zug, ohne sich über die mindere Qualität der Drinks zu beschweren, und der Dicke forderte ihn auf, noch einmal von dem ausgezeichneten Tropfen nachzuschenken. „Und dann rück endlich die verdammte Schatzkarte heraus“, fügte er grollend hinzu. 

 

Ben hatte inzwischen Zeit genug gehabt, um eine Ahnung von dem zu bekommen, um das es hier gehen könnte. Er erinnerte sich, dass John, ein Stammgast, mit dem er zwar nicht eng befreundet war aber hin und wieder, wenn in der Bar nicht viel los war, eine Partie Backgammon spielte. 

 

Manchmal unterhielt er sich mit ihm auch über Gott und die Welt, und vor einiger Zeit hatte der etwa 50-jährige, Rasta-Locken und einen Vollbart tragende Reggae-Fan, der stets eine ausgewaschene Latzhose trug, einmal etwas von einer Schatzkarte erzählt – und der Möglichkeit, die ganz große Kohle zu machen, wenn man über ein bestimmtes Startkapital verfügte. Ein alter, schwerkranker Fischer, dem er hin und wieder einen Korb mit Lebensmitteln in seine Hütte brachte, hätte ihm kurz vor seinem Tod diese Schatzkarte zum Geschenk gemacht.

 

3.

 

Ben hatte Johns Geschichte nicht viel Beachtung geschenkt, wusste aber noch, dass der Rasta Man, der mit der Konstruktion von Surfbrettern seinen Lebensunterhalt verdiente, erwähnt hatte, diese ominöse Karte zeige angeblich den genauen Punkt an, wo in Küstennähe vor langer Zeit ein britisches Handelsschiff gesunken war. Und dieses Schiff soll mit Gewürzen, Gold und Edelsteinen beladen sein. 

 

„Ich bin überzeugt davon“, hatte John zu Ben gesagt, „dass der Fischer nicht gelogen hat, als er meinte, bislang habe noch keine Menschenseele auch nur versucht, den Schatz zu bergen, obwohl das Wrack der Bark aus dem 18. Jahrhundert in maximal zwanzig Metern Tiefe liegen würde. Weil erstens niemand wüsste, dass dieses gesunkene Schiff solch eine wertvolle Ladung an Bord hatte, und zweitens der Ort des Untergangs völlig unbekannt sei.“ 

 

Für John klang es wie ein Märchen oder eine alte Piratenlegende, und auch die verwitterte, an den Rändern zerschlissene Karte, die ihm John unter die Nase gehalten hatte, konnte ihn nicht überzeugen, dass an dieser Story ein Fünkchen Wahrheit haftete. 

 

Zunächst war John wegen Bens Desinteresse eingeschnappt gewesen, doch schon bald darauf hatte sein Gast ihn mit dieser Angelegenheit nicht mehr behelligt – und Ben die Geschichte wieder vergessen. Doch jetzt tauchte sie wieder auf, in Gestalt dieser  zwei üblen Typen, die hier seinen Rum soffen und Stress machten. 

 

Nach dem zweiten dreifachen Schnaps hatte das ohnehin schon rote Gesicht des Dicken einen Alarm-Farbton angenommen, und der Dünne schaute Ben mit seinem Silberblick aus blassen, wässrigen Augen verwirrt an, als sehe er ein Gespenst vor sich. 

 

„Was ist denn nun mit der Schatzkarte, Sonnyboy?“, herrschte der korpulente Glatzkopf Ben an, „muss ich dir erst ein paar Kopfnüsse und Leberhaken verpassen, bis du endlich in die Gänge kommst? Und erzähl mir bloß nicht, du hättest die Karte nicht. Dieser Dreadlock-Typ hat hoch und heilig geschworen, dir persönlich die Schatzkarte ausgehändigt zu haben, und weil ich ihn ein bisschen in den Schwitzkasten genommen habe, glaube ich nicht, dass er mich angelogen hat.“

 

„John hat mir keine Karte gegeben, egal was er behauptet“, erwiderte Ben, während er die Gläser seiner Gästen noch einmal auffüllte, in der Hoffnung, die Typen würden vielleicht bald sturzbetrunken von den Hockern kippen. „Das ist die ganze Wahrheit, und wenn ihr mir nicht glauben wollt, ist das euer Problem.“

 

Schneller als Ben es für möglich gehalten hatte, beugte sich der Dicke vor, packte mit seiner riesigen rechten Hand den Kragen von Bens Hawaii-Hemd und zog den Barkeeper mit einem Ruck über die Theke, so nah zu sich heran, dass sich ihre Nasen fast berührten. 

 

Ben stieg der nach Rum stinkende Atem des Glatzkopfes unangenehm in die Nase, während dieser leise aber eindringlich meinte: „Nun hör mir mal gut zu, Freundchen, wenn hier jemand ein Problem hat, dann bist du das. Es ist mir scheißegal, was hier die Wahrheit ist oder nicht. Ich gebe dir genau 48 Stunden Zeit, dann kommen wir wieder auf einen Drink vorbei. Und wenn du bis dahin die Schatzkarte nicht besorgt hast und sie uns aushändigst, dann werden mein Partner Henry und ich deinen Laden ein bisschen aufmischen, und ich garantier dir: Bereits nach kurzer Zeit wird er so aussehen, als hätten hier ein Taifun und ein Hurricane Hochzeit gefeiert. Ich hoffe, du hast mich verstanden.“

 

Angesichts des Klammergriffs an seinem Hals entwich Bens Mund nur ein Röcheln, aber es gelang ihm, mit dem Kopf eine nickende Bewegung zu machen, die der Koloss als Zustimmung wertete und Bens Hemd los ließ. 

 

„Also gut, mein Junge, ich glaube, du hast es kapiert. Wir sehen  uns in …“, der Dicke schaute auf seine protzige Armbanduhr, „in genau 23 Stunden und 56 Minuten. Ach ja, fast hätte ich es vergessen, die Rechnung für die hundsmiserablen Drinks kannst du an den Gouverneur dieser verkommenen Insel schicken, denn der hat noch Schulden bei mir.“

 

Bei Freddy, dem Kompagnon des Glatzkopfes, schien diese Bemerkung wie ein Spitzenwitz zu zünden, denn er begann so schrill und grenzdebil zu kichern, dass es John in den Ohren schmerzte. Als der Dünne sich wieder eingekriegt und sich mit einem löchrigen Taschentuch die Freudentränen von den Wangen gewischt hatte, krächzte er „adios, muchacho, so long, good old fellow“, und strich wie zum Abschied mit der rechten Hand über seine struppige Igelfrisur. 

 

Ben, der das Gefühl hatte, als behindere ihn sein Kehlkopf beim Luftholen, sah, dass weitere Gäste eingetroffen waren, zwei junge Frauen in luftigen, knallbunten Strandkleidern. Das sind bestimmt Touristinnen, dachte Ben und bemerkte, wie sich das Paar an das Kabeltrommel-Tischchen setzte, von dem aus sie den besten Blick auf den Strand hatten. Er hoffte, dass ihre Anwesenheit Dick und Dünn jetzt dazu bewegen würde, endgültig die Biege zu machen. 

 

Seine Hoffnung schien sich zu erfüllen, denn der Dicke meinte: „Wir sehen uns, Barkeeper.“ Doch dann überraschte er Ben. Obwohl er mitbekommen haben musste, das zwei weitere Gäste aufgetaucht waren, ließ er es sich nicht nehmen, mit einer schnellen Armbewegung die beiden bis zum Rand gefüllten Longdrinkgläser vom Tresen zu wischen. 

 

„Das nächste Mal, Sportsfreund, servierst du uns den besten Rum der Welt“, sagte er mit einem drohenden Unterton, „und sei bitte nicht so knauserig mit den Nüssen, wenn du nicht willst, dass ich meine Hand an deine Nüsse lege und kräftig zudrücke.“

 

Unter den fragenden, verunsicherten Blicken der beiden jungen Ladies schwangen sich die üblen Typen von den Hockern und stapften in ihren Trekking-Boots durch den feinen Sand, bis Ben sie nicht mehr sehen konnte. 

 

Er atmete ein paar Mal tief durch und sammelte die Scherben der zerbrochenen Gläser ein. Während er die Theke säuberte, überlegte er, ob sich hier vor wenigen Minuten nicht eine Szene aus einem irren Traum abgespielt hatte, oder ob der Besuch des schrägen Duos wirklich statt gefunden hatte. 

 

„Okay“, sagte er zu sich selbst und murmelte: „So ein verdammter, verrückter Unsinn.“ Aber er musste sich eingestehen, dass dieser Unsinn Wirklichkeit war und er ein Problem am Hals hatte. 

 

Dann fielen ihm wieder die neuen Gäste ein. Er setzte sich in Bewegung, um sich den Touristinnen zu widmen und sie nach ihren Wünschen zu fragen. Nach wenigen Schritten blieb er allerdings wieder stehen, denn er sah, dass die beiden jungen Damen verschwunden waren.

 

4.

 

Am nächsten Morgen stand Ben bereits kurz nach Sonnenaufgang auf, um John einen Besuch abzustatten. In der Nacht hatte er geträumt, er sei Kapitän eines Piratenschiffs, und sein Zweimaster wäre bei stürmischer See während eines harten Kampfes mit einer britischen Fregatte versenkt worden. Er selbst wäre kurz vor dem Ertrinken von den Briten gerettet, an Bord gezogen und unter Deck in Ketten gelegt worden. 

 

Eine Viertelstunde nach dem Aufwachen hatte Ben, während er einen starken Kaffe trank, um endgültig wach zu werden, immer noch die höhnische Stimme des britischen Ersten Offiziers im Kopf. „Wenn du Glück’ hast, Halunke, wartet der Galgen auf dich, aber vielleicht hast du auch Pech und wirst gevierteilt.“ 

 

Nach einer zweiten Tasse Kaffee machte Ben sich mit seinem Fahrrad auf den Weg zum alten, stark restaurierungsbedürftigen Haus des Surfbrett-Bauers, das sich in etwa drei Kilometern Entfernung hinter einem Bambuswäldchen unweit des Strandes befand. 

 

Vor ein paar Wochen war er schon einmal bei John gewesen, um ihm sein Smartphone zu bringen, das er in der Strandbar liegen gelassen hatte. Es hatte ihm allerdings viel Mühe bereitet und reichlich Zeit gekostet, Johns Haus mit angeschlossener Werkstatt zu finden, weil er sich nur vage an die Wegbeschreibung des Surfboard-Konstrukteurs erinnern konnte und dessen Zuhause ziemlich versteckt lag. Vom Strand aus konnte man Haus und Schuppen überhaupt nicht sehen. 

 

Mit seinem Mountainbike brauchte Ben jetzt nur noch knappe zwanzig Minuten bis zu Johns Haus. Wie viele ältere, traditionell gebaute Häuser und Hütten bestand das Dach aus Palmwedeln, die, wie er bemerkte, einen Austausch verdienen würden. Doch dann fiel sein Blick auf die hölzerne Eingangstür, oder das, was noch von ihr übrig war. Jemand schien sich mit einer Axt gewaltsam Einlass in Johns Haus verschafft zu haben. 

 

Ben beschlich ein mulmiges Gefühl. Er lehnt sein Bike an den Eukalyptusbaum, der vor dem Gebäude stand, stieg vorsichtig über die Reste der zerschlagenen Holztür, rief ein paar Mal laut Johns Namen und ging dann mit klopfendem Herz hinein. 

 

Da Johns Wohnung im Grunde nur aus einem einzigen, aber relativ großen Raum bestand, fand sich Ben gleich im kombinierten Wohn- und Schlafzimmer wieder, in dessen rechter Ecke sich noch ein kleiner Elektroherd und eine Spüle befanden. Ein Badezimmer gab es nicht, aber Ben wusste, dass John hinter dem Haus eine Freiluftdusche installiert und ein Klo-Häuschen errichtet hatte. 

 

Schockiert betrachtete Ben das Chaos, dass sich ihm bot. Ein Bücherregal war umgekippt worden, aus Kommoden hatte man  die Schubladen herausgerissen und ihre Inhalte waren jetzt verstreut im Raum verteilt. Die Matratze von Johns selbst gezimmertem Bambus-Bett lag auf dem Boden und war an vielen Stellen aufgeschlitzt, so dass Stroh herausquoll. Überall lagen zerschlagenes Geschirr und zerbrochenes Glas sowie von den Wänden gerissene, zerstörte Bilderrahmen herum. 

 

Den massiven Esstisch hatte man auf den Kopf gestellt, in der Mitte des Raumes lag die kompakte Stereoanlage, mit der John immer seine geliebte Reggae-Musik hörte, und die Glasvitrine, in der er seine selbstgebastelten Modelle von historischen Segelschiffen aufbewahrte, die er Ben stolz gezeigt hatte, war ein einziger Trümmer- und Scherbenhaufen.

 

Ben rief noch einmal laut nach John, doch er hatte keinen Zweifel mehr daran, dass sein Backgammon-Partner nicht zu Hause war. Plötzlich befiel Ben der schreckliche Gedanke, John könnte hier irgendwo bewusstlos und verletzt liegen, doch nachdem er sich noch einmal gründlich überall im Raum umgesehen hatte, beruhigte er sich wieder. Da fiel ihm Johns Werkstatt im Schuppen neben dem Haus ein. 

 

Ben war erleichtert, John nicht in dem hohen, geräumigen Schuppen aufzufinden, doch das, was die Eindringliche hier angerichtet hatten, bot einen schlimmen Anblick. Das Surfboard, was John wohl gerade in Bearbeitung hatte, war von dem Arbeitsgestell gerissen worden, und die fertigen Boards, die normalerweise übereinander in langen Regalen an den beiden Außenwänden aufbewahrt wurden, lagen auf dem Boden und sahen aus, als wäre jemand mit Messer und Axt über sie hergefallen. 

 

Wenn Ben das Chaos im Wohnhaus mit einer hektischen Suche nach etwas Bestimmten in Verbindung gebracht hatte, so sah es hier für ihn so aus, als habe jemand aus Wut und Enttäuschung gehandelt und sich ganz seiner Zerstörungslust hingegeben.

 

Das ist alles schrecklich, dachte Ben, als er die verwüstete Werkstatt verließ, aber was ist bloß mit John passiert? Er lief noch einmal suchend um Haus und Schuppen herum, weil er nicht sicher sein konnte, dass der Surfbrett-Bauer hier nicht noch irgendwo herumlag, doch von John war keine Spur zu sehen.

 

Während er wieder auf sein Mountain-Bike stieg, brannte sich   ein Gedanke in Bens Hirn ein, und dieser Gedanke löste einen plötzlichen Kopfschmerz aus – und auch ein leichtes Angstgefühl. Er musste jetzt davon ausgehen, dass an diesem Gerede von einer Schatzkarte, die John ihm angeblich geschenkt haben soll, viel mehr dran war, als er vermutet hatte. 

 

Nun war ihm auch klar, wonach in Johns Haus gesucht worden war, und dass diese Suche sich augenscheinlich als vergeblich erwiesen hatte. Und er zweifelte nicht daran, dass hinter der zerstörerischen Suchaktion nur der Dicke und der Dünne stecken konnten, dieses irre Duo, das viel gefährlicher war, als er es sich vorgestellt hatte. 

 

Auf der Fahrt zu seiner Bar überlegte Ben fieberhaft, welche Konsequenzen eine vergebliche Suche der beiden nach der Schatzkarte für ihn haben könnte – und da liegt die Antwort eigentlich auf der Hand, dachte er: Jetzt werden die Kerle vollkommen überzeugt davon sein, dass ich im Besitz dieser Karte bin, und das bedeutet nichts Gutes. 

 

Vielleicht haben sie die Schatzkarte ja doch bei John gefunden, überlegte er, doch das schien ihm nicht sehr wahrscheinlich zu sein. Aber wenn sie John nicht hat– und er sie mir auch nicht gegeben hat, wo soll sie denn dann sein? 

 

Ben wusste es nicht. Er merkte, dass die ganze Geschichte ihn mittlerweile überforderte. Und er fragte sich, wo John eigentlich steckte. Die Vorstellung, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, löste einen schmerzhaften Druck in seiner Magengegend aus.

 

Ich muss mich wieder beruhigen, dachte Ben, und trotzdem damit rechnen, dass die Typen wieder bei mir auftauchen, vielleicht morgen ja schon. Für diesen Fall muss ich mir etwas Schlaues überlegen – oder mich für den Ernstfall vorbereiten. Ihm fiel der Revolver ein, den sein verstorbener Vater, ein passionierter Jäger, ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. 

 

Mit der Waffe hatte er damals ein paar Schießübungen absolviert, sie aber seitdem nicht mehr angerührt. Allerdings war er sicher, dass der Revolver samt Patronen immer noch in einer lederbezogenen Holzschachtel lag – und zwar in der untersten Schublade seiner Schlafzimmerkommode, zwischen seinen Socken. 

 

Auf jeden Fall muss ich cool bleiben, nahm Ben sich vor. Und wenn irgend jemand Dick und Dünn ein Märchen erzählt hat – und diese Schatzkarte überhaupt nicht existiert? Doch das zu glauben fiel ihm schwer. 

 

5.

 

Als Ben an seiner Bar angekommen war, hatte er noch eine gute Stunde Zeit bis zur Öffnung. Ihm fiel ein, dass er noch seinen speziellen Tages-Snack zubereiten musste, er hatte sich für ein Curry-Reisgericht mit Mango, Kokosmilch, Paprika und Zwiebeln entschieden. 

 

Während er an seiner kleinen Arbeitsplatte neben dem Gasherd das Gemüse schnitt und aus den Lautsprechern Bob Marleys „Buffalo Soldier“ den Rhythmus vorgab, entspannte sich Ben ein wenig. Sollen sie morgen ruhig kommen, dachte er, ich werde vorbereitet sein. 

 

Doch der Gedanke an John ließ ihm keine Ruhe. Und als sein fertig zubereitetes Reisgericht sich genügend abgekühlt hatte, dass er die große Schüssel in den Kühlschrank stellen konnte, hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde Lola bitten, heute Nachmittag für zwei oder drei Stunden den Laden allein zu managen, und sich bei Johns Nachbarn erkundigen, ob sie etwas von ihm gehört oder gesehen hätten. 

 

Ben wusste, dass John zu einigen Nachbarn, die im Umkreis von wenigen hundert Metern in ihren Hütten lebten, einen guten Draht hatte, und sie sich oft gegenseitig halfen oder Werkzeuge und andere Dinge ausliehen.

 

Mit seinem Fahrrad klapperte Ben vier Hütten ab, die sich in der Nähe von Johns Haus befanden, doch die Tour brachte nichts ein. Keiner der Nachbarn hatte John in den letzten 24 Stunden gesehen, auch war niemandem etwas Außergewöhnliches oder Verdächtiges aufgefallen. Alle reagierten allerdings schockiert auf die Nachricht, dass irgendjemand in Johns Haus eingebrochen war und große Verwüstungen hinterlassen hatte. 

 

Eine ältere Frau, die mit ihren zahlreichen Katzen und zwei Ziegen allein in einer kleinen Hütte lebte, berichtete, dass sie am gestrigen Vormittag an Johns Tür geklopft hätte, um ihm einen Korb mit selbst gezogenen Zwiebeln und Tomaten zu bringen, doch er sei nicht zu Hause gewesen. Auch in seiner Werkstatt habe sie ihn nicht angetroffen, was sie schon ein wenig gewundert habe. 

 

Normalerweise arbeite John jeden Vormittag fleißig an seinen Surfboards, nur am Sonntag nicht, sagte sie. Als sie vor Johns Haustür gestanden hätte, erzählte sie noch, sei diese übrigens noch unversehrt gewesen. 

 

Bei den Gesprächen mit Johns Nachbarn berichtete er ihnen auch von den beiden schrägen, unverschämten Typen, die in seiner Bar aufgetaucht waren. Er erwähnte auch, dass er das Duo verdächtigte, in Johns Haus eingedrungen zu sein, doch niemand hatte Dick und Dünn zu Gesicht bekommen. Auch von einer Schatzkarte, die vielleicht in Johns Besitz gewesen sein könnte, hatte niemand etwas gehört. 

 

Einer der Nachbarn, ein junger Mann mit Rastazöpfen, der John ab und zu bei seiner Arbeit zur Hand ging, meinte, John habe ihm mit Sicherheit nie etwas von einer derartigen Karte erzählt. 

 

Nicht schlauer als zuvor und ziemlich ratlos radelte Ben wieder zu seiner Bar zurück. Lola war froh, dass ihr Chef wieder da war, denn während seiner Abwesenheit hatte sie Mühe, die überraschen zahlreich erschienenen Nachmittags-Gäste mit Drinks und Snacks zu versorgen. 

 

Der rege Betrieb, der Ben bis in den späten Abend hinein kaum eine Atempause ermöglichte, lenkte ihn von der Schatzkarten-Geschichte und Johns rätselhaftem Verschwinden ab. Doch als der letzte Gast verabschiedet war, Ben nach dem Wegräumen der Gläser und dem Säubern der Theke seine Strandbar schloss und sich auf sein Bike schwang, um nach Hause zu radeln, kehrten seine Sorgen schlagartig zurück, und er hatte wieder das überhebliche Grinsen im Gesicht des fetten Glatzkopfes vor Augen. 

 

In seinem kleinen Appartement, das Ben günstig gemietet hatte, weil es sich nicht in Strandnähe befand und ziemlich abseits vom Touristenrummel lag, ging Ben nicht gleich zu Bett, obwohl er sich erschöpft fühlte. Trotz seiner Müdigkeit war er irgendwie aufgedreht und spürte eine Ruhelosigkeit in ihm arbeiten. Deshalb gönnte er sich einen Schlummertrunk und hörte sich eine alte Westcoast-Rock-Platte an, doch auch das entspannte ihn nicht. 

 

Später brauchte er lange, um einzuschlafen, und in der Nacht nahm ihn ein düsterer Traum gefangen. Bevor er schweißgebadet aufwachte, hatte er geträumt, in einem großen Touristen-Jet zu sitzen, um nach einem kurzen Nickerchen schockiert festzustellen, dass bereits Nacht war, sich außer ihm keine Menschenseele   mehr im Passagierraum befand und die Flugzeugmotoren einen schrillen Pfeifton erzeugten, der in seinen Ohren schmerzte. Dann ging die Beleuchtung aus, und das Motorengeräusch erstarb …

 

6.

 

Am Morgen fühlte sich Ben alles andere als ausgeruht, doch nach einem dreifachen Espresso war er wach genug, um sich daran zu erinnern, dass er ja seinen Revolver mitnehmen wollte. Er holte die Waffe aus der Kommode, überprüfte und lud sie – und hoffte stark, dass es nicht nötig sein würde, sie zu benutzen. In ein Tuch eingewickelt steckte er den Revolver in seinen Rucksack und machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Arbeit.

 

Früher als gewöhnlich traf er in seiner Bar ein. Er nutzte die Zeit bis zur Öffnung, um alle Möbel, den Küchenbereich und die Theke besonders intensiv zu reinigen. Dann erstellte er eine Liste mit Lebensmitteln und anderen Dingen, die er einkaufen musste.

 

Als der Einkaufszettel fertig war, fiel ihm ein, dass er gestern vergessen hatte, sich zu überlegen, was er seinen Gästen als Snack des Tages anbieten solle. Angesichts der knappen Zeit  muss das Gericht schnell und praktisch zuzubereiten sei, dachte er, und für eine aufwändige Vorbereitung ist es jetzt zu spät. Er schaute in seinen Vorräten nach, was sich für einen Blitz-Snack eignen würde. 

 

Ben entschied sich für einen Klassiker, der ihm bei der Überprüfung der Bevorratungs-Lage eingefallen war. Dann müssen meine Gäste heute halt einmal mit einem Toast Hawaii Vorlieb nehmen, wenn sie der kleine Hunger plagt, dachte er. Er stellte Ananas-Dosen und Toastbrot bereit, schnitt Käse und Schinken in Scheiben, um sie in Plastikbehälter zu schichten und diese im  Kühlschrank zu deponieren. 

 

Nach einer zufrieden stellenden Überprüfung des Sauberkeitszustandes seines Elektrogrills ging er zur großen Schiefertafel, überlegte sich einen Preis für einen Toast Hawaii, und während er die Angebote auf der Tafel mit Kreide aktualisierte, fiel ihm der Revolver ein. 

 

Er schaute auf die Uhr, die über seiner kleinen Küche hing, und beeilte sich, die Waffe zu entsichern und sie vorsichtig auf das oberste Board eines kleinen Regals zu legen, das – für Gäste nicht einsehbar – hinter der Theke stand. 

 

In der Mitte hinter dem Tresen stehend probierte Ben ein paar Mal, ob er die Waffe schnell greifen könnte, korrigierte ihre Lage noch einmal, und warf dann wieder einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte drei Minuten nach Elf an, und Ben rechnete damit, dass die beiden Schatzsucher in wenigen Minuten auftauchen würden. 

 

Wenn sie überhaupt kommen, dachte er, hatte aber das unangenehme Gefühl, dass der Dicke seine Ankündigung höchstwahrscheinlich wahr machen würde. Und so war es dann auch. 

 

Wieder waren die Zwei die ersten Gäste des Tages, und während das Duo gleich schnurstracks auf die Theke zusteuerte, schaute der Dünne mit seinem Silberblick auf den Sandboden, so als habe er Angst, einen Käfer zu zertreten. Der Dicke hingegen grinste Ben, der gerade ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank gestellt hatte, selbstgefällig an. Schnell machte Ben ein paar Schritte in die Mitte des Tresens.

 

„Entschuldigung, dass wir zwei Minuten zu spät sind“, sagte der Glatzkopf mit seiner Bariton-Stimme, „aber wir mussten unterwegs kurz halten, um einen unachtsamen Papagei von der Windschutzscheibe unseres Vans zu kratzen.“

 

Ben wusste nicht, ob der Glatzkopf es ernst meinte oder ihn bloß veralbern wollte. Er entschloss sich, cool zu bleiben und fragte höflich, ob die Herrschaften einen Wunsch hätten, er könnte ihnen zum Beispiel heute gut gekühltes bayerisches Bier anbieten oder, falls sie noch nicht gefrühstückt hätten und Hunger verspürten, einen Toast Hawaii zubereiten.

 

„Bayerisches Bier klingt nicht schlecht“, meinte der Glatzkopf, „und dazu trinken wir ein Glas von deinem Spitzen-Rum, den du uns das letzte Mal vorenthalten hast. Aber anstatt uns einen elenden Toast aufzutischen, legst du die Schatzkarte neben die Getränke hier auf den Tresen, denn ich weiß, dass du sie hast. Und rate mal, warum ich das weiß?“ 

 

Der bisher freundliche Ton des Dicken klang auf einmal bedrohlich. „Ich weiß das, weil wir deinem Kumpel John einen Besuch abgestattet und in ein bisschen in die Mangel genommen haben. Dein Freund hat dann hoch und heilig geschworen, dir den Lageplan für das versunkene Schiff ausgehändigt zu haben. Und nachdem wir sicherheitshalber in seiner gemütlichen, kleinen Hütte alles gründlich nach der Karte durchsucht und sie nicht gefunden haben, sind wir zu der Auffassung gelangt, dass er sie wirklich nicht hat – und dass sie stattdessen bei dir ist.“

 

„Das ist nicht wahr“, erwiderte Ben aufgebracht, „John hat euch angelogen. Ich habe die Schatzkarte nicht. Und außerdem, was habt ihr eigentlich mit John gemacht? Niemand weiß, wo er ist. Sein Haus habt ihr auch total verwüstet.“

 

„Soso, mein Lieber, dann bist du also da gewesen, na gut“, meinte der fette Glatzkopf und grinste hämisch. „Ich kann nur sagen, wo gehobelt wird, fallen in der Regel auch Späne. Und wo John jetzt steckt, weiß ich wirklich nicht. Nach unserer kleinen Unterhaltung hat er irgendwie Panik bekommen und ist abgehauen. Wahrscheinlich hat ihn die ganze Sache ziemlich aufgeregt und er brauchte einfach einen schnellen Ortswechsel. Aber wo und bei wem er sich jetzt ausheult und seine Wunden leckt, kann ich dir leider nicht sagen.“ 

 

Urplötzlich haute der Dicke mit seiner stattlichen Faust so kräftig auf die Theke, dass die Erdnüsse aus der Keramikschale sprangen und der Zuckerstreuer umfiel. „Und jetzt, verdammt noch mal,“ grollte er, und eine tiefe Zornesfalte erschien mitten auf seiner breiten, speckigen Stirn, „jetzt wird es langsam Zeit für unsere Drinks, Sunnyboy. Und wenn du nicht gleich mit der Schatzkarte rausrückst, wird es für dich sehr ungemütlich werden.“

 

„Sehr sehr ungemütlich“, bekräftigte der dünne Henry meckernd die Drohung seines fetten Partners und grinste dabei dümmlich. 

 

Bei dem unvermittelten Ausbruch des Dicken war Ben zusammenzuckt, doch schnell hatte er sich wieder im Griff. Bleib cool, ermahnte er sich, und sagte so lässig wie möglich. „Okay, Jungs, jetzt beruhigen wir uns mal wieder – und ich serviere euch die gewünschten Drinks, die selbstverständlich auf’s Haus gehen.“ 

 

Er machte ein paar Schritte auf den Kühlschrank zu, um die Bierflaschen herauszuholen, doch als er den Dicken plötzlich „Stop, jetzt reicht’s“ brüllen hörte, blieb er abrupt stehen. „Ich frag dich jetzt zum letzten Mal, Freundchen“, die Stimme des Glatzkopfes war nun wieder gedämpft und klang bedrohlicher denn je, „und wage es nicht, mich anzulügen. Wo ist die gottverdammte Schatzkarte?“ 

 

„Ich habe keine Ahnung“; antwortete Ben, „ihr müsst mir einfach glauben.“ „Ist das dein letztes Wort?“, fragte der Dicke knurrend. „Sorry, aber ich kann wirklich nichts anderes sagen“, erwiderte Ben. 

 

„Wenn das so ist, dann wirst du jetzt leider die Konsequenzen tragen müssen, Barkeeper“, sagte der Dicke – und Ben meinte, eine finstere Entschlossenheit aus dessen Stimme herauszuhören.  

 

Er merkte, dass es jetzt ernst wurde, und wollte schnell zurück zur Mitte der Theke eilen, um an seinen Revolver zu kommen, doch blitzschnell und völlig unerwartet hechtete der Dünne auf einmal um den Tresen herum und schlang von hinten seine affenartigen Arme um Ben, so dass er nicht weiterkam. 

 

Vergeblich versuchte Ben sich aus der überraschend festen Umklammerung zu befreien, und dann war auch schon der Dicke neben ihm und verpasste ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass er Sterne sah und keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte. 

 

Ben spürte, wie die Beiden ihn ins Hinterzimmer zerrten und ihn dort auf seinen Bürostuhl setzten. Obwohl sich alles um ihn herum drehte, versuchte Ben aufstehen, aber der Dicke drückte seinen kraftlosen Körper auf den Stuhl zurück und gab ihm noch eine heftige Ohrfeige. „Bleib bloß sitzen, Freundchen“, herrschte er ihn an.

 

Und dann ging alles so schnell, dass der völlig benommene Ben kaum mitbekam, was mit ihm passierte. Während der Dicke an seinem Täschchen nestelte, das er wie ein Tourist an seinem breiten, ledernen Hosengürtel befestigt hatte, und eine kleine Schachtel herausholte, drückte Henry Bens rechten Arm fest auf die Lehne des Bürostuhls. 

 

Und dann hielt der Glatzkopf eine Spritze und eine Ampulle mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in seinen Händen. Schnell und geschickt, als ob er so etwas häufig machte, zog er die Spritze mit der Substanz auf, ließ prüfend ein paar Spritzer herausschießen und versenkte die Nadel in Bens Armbeugenvene. Wenige Sekunden später war Bens Bewusstsein ausgeknipst. 

 

7.

 

Nachdem Ben im Ruderboot mit heftigen Kopfschmerzen aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte er zunächst keine Ahnung, wo er war. Erst nach und nach realisierte er, dass er in einem Ruderboot lag und dieses Boot irgendwo auf hoher See in leichter Dünung hin und her schaukelte. 

 

Fassungslos fragte Ben sich, warum er plötzlich mitten im Meer herum schipperte – und wer ihn in dieses Boot verfrachtet hatte. Und dann begann er, sich zu erinnern. 

 

Er spürte wieder, wie der dünne Kerl ihn mit seinen Affenarmen festgehalten und dessen fetter Kollege ihm diese Monsterohrfeige verpasst hatte. Doch was anschließend geschah, wusste Ben nicht. Da war sein Erinnerungsvermögen in dichten Nebel gehüllt. Allerdings vermutete er, dass die beiden ihn betäubt und irgendwie in dieses Boot transportiert haben mussten. 

 

Erst viele Stunden später, als bei völliger Windstille immer noch kein Land in Sicht war und Ben einen quälenden Durst verspürte, hatte er die verrückte Schatzkarten-Geschichte in seinem schmerzenden Kopf wie ein Puzzle mit tausend Teilen mühsam zusammengesetzt. Doch ob diese Schatzkarte, die ja eigentlich eher der Lageplan eines Schiffswracks auf dem Meeresboden war, wirklich existierte, wie Dick und Dünn beharrlich behaupteten, da war er sich alles andere als sicher. 

 

Sicher erschien es ihm allerdings, dass ihn die beiden Ganoven mit seiner Aussetzung in einem gammligen Ruderboot ohne Ruderblätter bestraft hatten, weil er ihnen die Schatzkarte nicht ausgehändigt hatte. Warum in Teufelsnamen, fragte sich Ben, war das Duo nur so felsenfest überzeugt davon, dass der Plan in seinem Besitz war? Es ist alles verdammt schief gelaufen, dachte er, und im Grunde völlig irre.

 

Während er sich erschöpft auf den harten Brettern des Bootes ausstreckte, sehnte er sich nach einer sprudelnden Gebirgsquelle, aus der er kühles, glasklares Wasser mit beiden Händen schöpfen und seinen Durst löschen konnte. 

 

Bens Rücken begann zu schmerzen, und er setzte sich wieder auf. Da sah er, dass am Horizont eine dunkle Wolkenwand aufgetaucht war und sich schnell näherte. Gleichzeitig wehte ihm ein frischer Wind um die Ohren, und er merkte, wie sein Boot, das bislang ruhig im Wasser gelegen hatte, jetzt hin und her schaukelte. 

 

Ben verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Da braut sich etwas zusammen, dachte, und ich hocke hier hilflos in diesem alten, klapprigen Kahn. Wenn ich Pech habe, endet dieses unfreiwillige Bootspartie mit einer Seebestattung. 

 

Eine plötzliche, kräftige Brise wehte Ben die Tasche vom Kopf, doch er nahm den Verlust mit Fassung hin, schließlich vermutete er, dass schon bald schwarze Gewitterwolken den Himmel bedecken würden – und so sein Schädel nicht länger der mörderischen Sonne ausgesetzt sein würde. 

 

Das Boot schaukelte jetzt heftiger, so dass Ben sich mit beiden Händen an der Bordwand festklammerte. Die Sonne war inzwischen hinter einem dunklen Wolkengebirge verborgen, und Ben fiel auf, dass sich direkt über ihn ein rabenschwarzer Wolkenturm geschoben hatte. 

 

Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken, und während weiteres Donnergrollen ertönte, ergoss sich ein Schwall Meerwasser ins Ruderboot. Immer wieder erhellten grelle Blitze für Sekundenbruchteile die Dunkelheit, die sich über dem Meer ausgebreitet hatte. 

 

Ben war mittlerweile völlig durchnässt und fror. Weil ihn eine Welle von der Seite getroffen und umgeworfen hatte, saß er jetzt nicht mehr im Boot, sondern lag auf dem Boden, das Gesicht im hin und her schwappenden Wasser.

 

Er hob den Kopf, hustete und prustete, weil Meerwasser bereits in seine Nase und seinen Mund eingedrungen war. Als er versuchte, sich wieder aufzurichten, passierte es. 

 

Eine große Welle kippte das Ruderboot um, Ben wurde ins Meer geschleudert und untergetaucht. Unter großer Anstrengung schaffte er es, zurück zur Oberfläche zu kommen, doch die nächste Welle drückte ihn wieder unter Wasser. 

 

Erneut gelang es ihm, sich nach oben zu kämpfen. Heftig mit seinen Beinen im brodelnden Meer strampelnd atmete er gierig den Sauerstoff ein und musste dabei salziges Wasser schlucken.

 

Ben sah, dass wieder eine große Welle auf ihn zu rollte. Er fühlte sich völlig ausgepumpt und befürchtete, zum Auftauchen nicht mehr genug Kraft zu haben, wenn ihn diese Welle tief nach unten stoßen würde. Und dann spürte er, wie etwas Hartes gegen sein rechtes Bein stieß. 

 

Er drehte sich im schäumenden Wasser, fast hätte das Ding seinen Kopf getroffen. Er erkannte jetzt, dass es sich um ein großes, flaches Stück Holz handelte, und auf einmal wusste er, was da neben ihm Wasser schwamm. Es war das Sitzbrett seines Ruderbootes, das die Wellen wohl herausgerissen hatten. 

 

Ben erkannte seine Chance und packte mit beiden Händen zu, doch das Brett entglitt seinen eiskalten, steifen Fingern. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, das glitschige Ding festzuhalten. 

 

Mit letzter Kraft schaffte er es, sich auf das Brett ziehen, gerade noch rechtzeitig, denn während er mit seinen Armen die Seiten des hölzernen Bootssitzes umklammerte, stürzte sich die Welle auf ihn. Doch dank seines Rettungsbretts wurde er nicht in die Tiefe gerissen, sondern war nach einem kurzen Untertauchen wieder an der Wasseroberfläche. 

 

Glück gehabt, dachte Ben, das war knapp. Und dann war er so erschöpft, dass er für eine ganze Weile gar nichts mehr dachte. Während er den Launen von Wind und Wellen ausgeliefert war, hatte er das Gefühl, als sei das Sitzbrett ein Körperteil von ihm. 

 

Nach einer Weile merkte Ben, dass der stürmische Wind an Intensität stark nachgelassen und sich das Meer deutlich beruhigt hatte. Ihm kam es so vor, als habe er eine Zeitlang geschlafen oder sei bewusstlos gewesen – und war deshalb heilfroh, sich trotzdem automatisch weiter an das Brett geklammert zu haben. Allerdings waren seine Gliedmaßen jetzt so kalt, dass er gar kein Gefühl mehr in ihnen hatte. 

 

Plötzlich spürte er die Sonne in seinem Gesicht, und auf einmal schöpfte er wieder Hoffnung, dieses Abenteuer zu überleben. Zur neuen Zuversicht gesellte sich ein Glücksgefühl, denn als Ben in den mittlerweile wieder blauen Himmel blickte, entdeckte er einen Vogel. Er meinte, eine Möwe zu erkennen, und mit einer Drehung seines Kopfes verfolgte er für einen Moment ihren Flug. 

 

Und dann sah er einen dunkelgrünen Streifen am Horizont, auf den die Möwe anscheinend zuflog. Das muss Land sein, schoss es ihm durch den Kopf, und er wurde auf einmal ganz aufgeregt.  Nun blieb ihm nur noch zu hoffen, dass die Strömung ihn und das Brett dorthin trieb. 

 

8.

 

Kraftlos und im Halbschlaf sich weiterhin an das Brett klammernd, bekam Ben nicht mit, wie die Meeresströmung ihn mehrere Stunden lang in Richtung Land schob, bis seine Reise endlich an einem flachen Sandstrand endete. 

 

Eine kleine Welle spülte ihn mitten in einen Haufen Seegras hinein, das die Flut angeschwemmt hatte. Das Brett war ihm kurz vorher entglitten, so dass es jetzt ein paar Meter weiter auf einer kleinen Muschelbank lag.

 

Zunächst wurde Ben überhaupt nicht bewusst, dass er dem Meer entronnen war. Seinen Kopf auf das Seegras gebettet, schlief er und träumte, er sei der einzige Passagier in einem Fesselballon hoch über dem Meer, und riesige Vögel stießen ihre langen, spitzen Schnäbel unermüdlich in die Ballonhülle. Als die vom Wind aufgewühlte Meeresoberfläche in rasendem Tempo immer näher kam, wurde er wach und war ein paar Herzschläge lang ohne Orientierung. 

 

Dann erkannte er, dass der Ozean ihn an einen Strand gespült hatte, und erleichtert murmelte er: „Verdammt noch mal, ich hab’s geschafft, einfach unglaublich.“ Allerdings war ihm auch klar, dass er noch nicht gerettet war, schließlich wusste er nicht, wo es ihn hin verschlagen hatte. 

 

Falls er sich auf einer menschenleeren Insel ohne Süßwasser befinden sollte, wären seine Überlebenschancen gleich Null. Ich sollte es herausfinden, beschloss Ben. 

 

Mühsam richtete er sich auf und zog Seegras aus seinen Haaren. Mit wackeligen Beinen stand er im feuchten, feinen Sand und schaute sich um. Zu beiden Seiten schien sich der Strand über mehre Kilometer zu erstrecken. Doch als er in Richtung Landesinnere blickte, erkannte er, dass nach dem breiten Sandstrand und einem schmalen Streifen mit dichtem Gestrüpp eine steile, hoch aufragende Felswand jegliches Weiterkommen verhinderte. Und diese Felswand bildete eine Barriere entlang der Küste, soweit er schauen konnte. 

 

Nirgendwo konnte Ben ein Haus oder eine Hütte sehen. Es bleibt mir nur übrig, dachte er, am Strand entlang zu laufen, ich muss mir nur überlegen, in welche Richtung ich gehe. Er entschied sich für die Richtung, in der sich die Sonne befand. Ihrem Stand nach zu urteilen muss es später Nachmittag oder früher Abend sein, dachte er. 

 

Ben kämpfte gegen seine Erschöpfung an und versuchte, seinen Durst zu verdrängen, während er mühsam Fuß vor Fuß setzte, doch die Fortbewegung im Sand war eine Quälerei, auch wenn er auf dem schmalen Streifen ging, wo der Sand nass war. Da er barfuß marschierte, musste er höllisch aufpassen, nicht in eine scharfkantige Muschel oder auf einen spitzen Stein zu treten.

 

Um ein Haar wäre er in eine große, rote Qualle hineingelaufen. Das hätte mir noch gefehlt, dachte er, und wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn, denn die Abendsonne hatte noch erstaunlich viel Kraft. 

 

Ben sah den Zeitpunkt näher rücken, an dem er einfach hier an diesem schönen Strand zusammenbrechen und nie wieder aufstehen würde, da fiel sein Blick auf etwas, das wie ein flaches Gebäude aussah. Ein Hoffnungsschimmer, dachte er und mobilisierte noch einmal letzte Energiereserven. 

 

Wenige Minuten später meinte er, vor dem Gebäude, das sich mitten auf dem Strand befand, Sonnenschirme erkennen zu können. Ihm fiel auf, dass ein paar hundert Meter dahinter nicht mehr die Felswand empor ragte, sondern sich ein Wald erstreckte. 

 

Menschenskind, dachte Ben, wo Sonnenschirme sind, könnte doch glatt ein Hotel oder Strandrestaurant sein. Unglaublich, aber meine Rettung scheint ganz nah zu sein. 

 

Allerdings merkte er, dass seine Beine immer schwerer wurden – und sein Körper, trotz aller Willensstärke, unmittelbar davor stand, den Dienst einzustellen. 

 

Ben schafft es noch bis wenige Meter vor dem ersten Sonnenschirm, der neben zwei Korbstühlen stand, dann brach er bewusstlos zusammen.

 

9.

 

Als Ben aufwachte, blinzelte er, denn die tief stehende Sonne blendete ihn. Dann schob sich ein Schatten über ihn. Ben riss die Augen auf. Das darf nicht wahr sein, dachte er – und konnte nicht glauben, was er sah. 

 

Den Schatten warf ein großer, korpulenter Mann, den Ben in unguter Erinnerung hatte. Es war der dicke Glatzkopf, der Schatzkarten-Jäger. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille, stand leicht über Ben gebeugt und grinste ihn an.

 

„Das ist ja eine Überraschung. Hat dich das Meer wieder ausgespuckt, Barkeeper?“, sagte der Dicke und sein Grinsen wurde noch breiter. Ben hörte ein meckerndes Lachen und erkannte, dass es vom dünnen Partner des Dicken kam, der zwei Meter hinter seinem Kumpel stand. 

 

„Ich hab bisher nicht an Wunder geglaubt“, meinte der Dicke, „aber jetzt könnte sich das glatt ändern. Und dass du ausgerechnet hier auftauchst, wo Henry und ich ein bisschen relaxen, bevor wir übermorgen in See stechen, das ist schier unglaublich.“

 

Bens Erwiderung bestand nur aus einem Wort, das er mühsam aus seiner trockenen Kehle presste: „Wasser.“ „Aber klar“, erwiderte der Dicke, „natürlich, du musst ja einen Mordsdurst haben.“ Er forderte seinen Partner auf, eine große Flasche Mineralwasser zu holen. 

 

„Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass aus dir Fischfutter wird, aber jetzt, wo dich anscheinend Poseidon persönlich gerettet hat, habe ich vielleicht eine Verwendung für dich. Und dabei wärest  du mir lebendig wesentlich nützlicher als mausetot.“

 

Ben war zu schwach, um etwas zu erwidern. Zwei MInuten später reichte der Dicke Ben, der sich mühsam im Sand aufgesetzt hatte, eine Wasserflasche, die Henry gebracht hatte.

 

„Jetzt trink erst einmal“, forderte der Dicke ihn auf, „aber nicht zu hastig, mein Lieber“, doch Ben trank gierig und verschüttete dabei die Hälfte des Wassers. Dann seufzte er laut, sank wieder um und blieb im Sand liegen.

 

„Ich glaube, unser Freund braucht dringend eine Erholungspause, seine Seereise scheint ihn viel Kraft gekostete zu haben“, meinte der Dicke und wandte sich seinem Partner zu. „Wir sollten ihn in den Schatten verfrachten. Pack mal mit an, Henry, wir betten ihn auf die Relaxliege, die der Bar am nächsten steht. Und wenn er später wieder zu sich kommt, möchte ich, dass du ihm etwas zu essen anbietest, vielleicht was Kräftigendes, zum Beispiel Spiegeleier mit Speck und Würstchen. Und Toast dazu“ 

 

Henry verzog das Gesicht, sagte aber „geht in Ordnung, Boss“. Es ärgerte ihn, dass er jetzt, wo das komplette Service-Team inklusive Koch Urlaub hatte und er und sein Chef im Grunde die einzigen Gäste in diesem Strandlokal waren, das Kindermädchen für diesen Looser spielen musste. Nicht dass ich für diesen Blödmann auch noch ein Gästezimmer für eine Übernachtung herrichten muss, dachte er. 

 

Er fragte sich, was der Boss mit diesem Kerl, der längst auf dem Meeresboden liegen sollte, eigentlich vor hatte. Das Beste wäre doch, ihm in dem Pool neben der Terrasse eine Erfrischung zu gönnen, und seinen Kopf so lange unter Wasser zu halten, bis er nicht mehr atmet. Aber Henry traute sich nicht, dies seinem Chef vorzuschlagen. Ich werde bestimmt bald erfahren, dachte er, wofür der Typ noch gebraucht wird. 

 

10.

 

Zwei Stunden später erfuhr Henry es. Nach einem üppigen Abendessen, das er und sein Boss am Rande des Pools mit Blick auf den Sonnenuntergang im Meer eingenommen hatten, kam auf einmal der Barkeeper auf sie zugewankt und ließ sich ächzend in einen Clubsessel sinken, der unweit des Tisches stand, an dem das Duo saß und sich einen Verdauungsschnaps gönnte. 

 

„Aber hallo“, meinte der Dicke und setzte wieder sein schräges Grinsen auf, „schon ausgeschlafen?“ Ben ersparte sich eine Antwort und blickte auf den großen Teller des Dünnen, wo die Reste einer Pizza lagen. Auf einmal verspürte er einen Mordshunger. 

 

„Bist wohl noch nicht ganz wach, mein Freund“; stellte der Dicke fest, „aber das macht nichts. Wenn ich dir erzähle, welchen Job du für uns zu erledigen hast, wirst du bestimmt gleich ganz munter werden.“

 

Jetzt reagierte Ben, der immer noch aussah, als habe man ihn gerade halb ertrunken aus dem Wasser gezogen. „Was faseltet du da von einem Job für mich, wie du weißt habe ich einen Job, nämlich in meiner eigenen Bar. Im übrigen hätte ich gern gewusst, wo ich hier eigentlich gelandet bin. Ist das hier eine Insel,  oder befinde ich mich auf dem Festland?“

 

Der fette Glatzkopf schüttelt den Kopf und verzog missbilligend seinen fleischigen Mund. „In Anbetracht deines erbärmlichen Zustandes hast du einem ganz schön dreisten Tonfall drauf, mein Lieber“, sagte er. „Eigentlich solltest du dankbar sein, dass wir dich hier so fürsorglich aufgenommen haben, aber was soll’s.“

 

Er machte eine Pause, deutete mit seinem wurstigen Zeigefinger auf den Cognac-Schwenker neben seinem Teller, so dass der Dünne ihm sofort aus einer bauchigen Flasche nachschenkte, trank einen Schluck und fuhr dann fort. 

 

„Ich will hier kein Drama daraus machen. Du willst wissen, wo wir sind? In einem kleinen Hotelrestaurant, das einem guten Freund von mir gehört. Aber den Namen der Insel möchte ich dir lieber nicht verraten. Und was meine Verwendung für dich angeht, so steht die in direktem Zusammenhang mit der Schatzkarte, die wir bei dir gefunden haben.“ 

 

Ben schaute ihn ungläubig an. „Ja da staunst, was?“, meinte der Dicke und lächelte. „Wir mussten deinen ganzen Betrieb gründlich durchsuchen, regelrecht auf den Kopf stellen. Du hattest dir wirklich ein cleveres Versteck ausgesucht, Hut ab. Aber mein Partner Henry ist halt eine alte Naschkatze, und Eis liebt er über alles. So war es nicht sonderlich schwer für ihn, die Karte im Gefrierschrank unter den Eiscreme-Behältern zu finden. Und weil du sie schlauerweise in einen Gefrierbeutel gesteckt hattest, war das kostbare Stück noch unversehrt.“

 

Ben war so verblüfft, dass er darauf nichts erwidern konnte. Wenn das stimmt, dachte er, wie kann diese verdammte Karte dann in meinen Eisschrank gelangt sein? Ein Verdacht regte sich in ihm. Sollte etwa John …? Aber da fuhr der Dicke bereits fort. 

 

„Und da wir nun im Besitz dieser tollen Karte sind, haben wir uns überlegt, sie dazu verwenden, den Schatz aus dem alten Schiffswrack zu bergen. Denn wir wissen ja jetzt, an welcher Stelle des Meeresgrundes der alter Kahn liegt. Und so haben wir bereits das Nötigste organisiert. Übermorgen stechen wir mit einem gecharterten Schiff in See, um uns das Gold und die Juwelen zu holen. Zwei vertrauenswürdige und erfahrene Taucher sind übrigens auch an Bord. Da staunst du, Barkeeper, oder?“

 

Ben staunte in der Tat und hatte Mühe, diese Informationen zu verarbeiten. Er wollte gerade fragen, welche Rolle er in diesem Unternehmen spielen solle, da sagte der Glatzkopf: „Und wenn du jetzt wissen willst, wie du uns bei dem Projekt nützlich sein kannst, so will ich dich nicht länger auf die Folter spannen: Du wirst unser Koch an Bord sein – und uns während der Seereise und Bergungsaktion mit leckeren Speisen und süffigen Cocktails verwöhnen. Na, was sagst du, das ist doch viel besser als Fischfutter zu sein, oder?“

 

„Und was ist mit meiner Bar?“, fragte Ben, hörbar erregt. „Jetzt bleib mal auf dem Teppich, mein Lieber“, antwortete der Dicke, „Du hast doch eine tüchtige Aushilfe, die wird den Laden bestimmt ein paar Tage lang allein schmeißen können, oder?“ 

 

„Ausgeschlossen“, meinte Ben, „so funktioniert das nicht.“ „Ach so“, erwiderte der Dicke, „ist es dir vielleicht lieber, wenn wir dich noch einmal auf hoher See aussetzen, diesmal vielleicht in einem löchrigen Schlauchboot?“ 

 

„Natürlich nicht“, antwortete Ben, „aber mit wie vielen Tagen rechnet ihr denn für euer Bergungsmanöver?“

 

„Wenn alles wie geplant klappt, könnten wir vielleicht in vier bis fünf Tagen zurück sein“, antwortete der Dicke. „Sieh doch diese Zeit einfach als Urlaub vom stressigen Barbetrieb an.“ „Genau“, pflichtete ihm der Dünne bei und klatschte in die Hände.

 

„Dann ist die Sache also abgemacht, Barkeeper, oder?“, fragte der Dicke. „Wenn nicht, dann könnte dir mein Kumpel zeigen, wie geschickt und schnell er mit seinem Klappmesser umgehen kann, oder was meinst du, Henry?“

 

Die Augen des Dünnen begannen erwartungsvoll zu leuchten, und während er zustimmend nickte, lief ein dünner Speichelfaden aus seinem leicht geöffneten Mund. 

 

„Das wird nicht nötig sein“, meinte Ben. Er sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als dem schrecklichen Duo zu Diensten zu sein, schließlich wusste er ja, zu was Dick und Dünn fähig waren. 

 

Bens laut knurrender Magen signalisierte ihm, dass er dringend etwas essen musste. „Wenn ich für euch arbeiten soll,“ sagte er, „dann dürft ihr mich nicht verhungern lassen.“ „Da hast du recht, mein Freund“, erwiderte der Dicke, „also Henry, schwing die Hufe und mach’ dem Barmann etwas zu essen, damit er wieder zu Kräften kommt.“ 

 

Murrend erhob der Dünne sich von seinem Stuhl und schlurfte in Richtung Restaurantküche. 

 

„Und du, Partner“, meinte der dicke Glatzkopf zu Ben, „denk’ nicht einmal im Traum daran abzuhauen. Erstens ist es bis zum nächsten kleinen Fischerdorf ein Fußmarsch von mindestens fünf Kilometern, und die Bewohner würden sowieso nicht glauben, was du ihnen erzählst. Wahrscheinlich würden sie dich für einen Touristen halten, der zu viel Sonne abbekommen hat. Zweitens wäre deine Chance, das Dorf zu erreichen, nur theoretischer Natur, denn wir würden dich mit unserem Landrover garantiert vorher schnappen. Und dann ginge es dir endgültig an den Kragen, da kannst du Gift drauf nehmen.“

 

11.

 

Nach einer guten Viertelstunde, Ben war nach der Drohrede des Glatzkopfes im Sessel eingeschlafen, servierte Henry ihm einen Teller mit einem sehr scharf gewürzten Reis-Geflügel-Gericht, das Ben gierig verschlang. Wahrscheinlich hatte der Dünne es aus der Tiefkühltruhe geholt und in der Mikrowelle erhitzt, vermutete Ben, während ihm beim Essen die Augen tränten, aber das war ihm egal, Hauptsache er bekam etwas in den Magen.

 

Obwohl Ben nach dem Essen hundemüde war, beschloss er, sich erst unter der Dusche am Pool das Meersalz vom Körper zu spülen, bevor er auf einer der Strandliegen seinem dringenden Schlafbedürfnis nachgeben wollte.

 

Ben wählte eine Liege aus, die nah am Strand stand, und streckte sich gähnend darauf aus. Es war mittlerweile dunkel geworden. Ein paar Sekunden lang blickte er in den üppigen Sternenhimmel und lauschte den Wellen, dann schlief er ein. 

 

Als er am nächsten Tag erwachte, war es fast Mittag. Er schätzte, dass er mindestens vierzehn Stunden geschlafen haben musste. Weil er Lust auf einen Kaffee verspürte, machte er sich auf den Weg zum Restaurantbereich. An der Frühstücksbar traf er auf den dicken Glatzkopf, der auf einem Barhocker saß und an einem Croissant knabberte. 

 

„Mann, du siehst so aus, als könntest du einen starken Kaffee vertragen“, meinte der Dicke gut gelaunt. „Hinter mir steht ein Automat, bediene dich einfach. Du musst dich nur entscheiden, ob du Espresso, Cappuccino oder Latte Macchiato willst. Und aus dem Körbchen mit den Croissants hier auf der Theke kannst du dir auch was nehmen. Leider sind sie nicht frisch gebacken, sondern nur aufgetaut.“ 

 

„Okay, vielen Dank“, sagte Ben und wunderte sich über die Freundlichkeit des Dicken. Während er an der Bar frühstückte, war der korpulente Glatzkopf ganz in eine Recherche auf seinem Smartphone vertieft, doch als Ben den letzten Schluck seines Kaffees getrunken hatte und überlegte, ob er einen kleinen Strandspaziergang machen sollte, legte der Dicke sein Handy auf den Tresen und wandte sich ihm zu.

 

„Jetzt, wo du dich gestärkt hast“, sagte er, „könntest du dich eigentlich schon nützlich machen und uns zeigen, wie gut deine Kochkünste sind. Ich schätze, dass Henry mit seinen Arbeiten am Landrover in spätestens zwei Stunden fertig sein müsste, dann würde er sich bestimmt über eine leckere, frisch zubereitete Mittagsmahlzeit freuen – und ich natürlich auch. Also, mein Junge, zeig uns, was du drauf hast. Im Kühlschrank und in der großen Tiefkühltruhe wirst du bestimmt etwas Passendes für ein schmackhaftes Gericht finden. Wir stehen übrigens auf Geflügel, aber Fisch mögen wir auch. Und vergiss bitte das Dessert nicht, und damit meine ich nicht Obst.“

 

Bens Erwiderung, dass er kein gelernter Koch sei und eigentlich nur unkomplizierte Snacks zubereiten könne, nutzte nichts. „Wir werden ja sehen“, bellte der Dicke, und sein Ton war jetzt alles andere als freundlich, „streng dich halt an. Und jetzt ab in die Küche, mach deinen Job.“

 

Ben verspürte Lust, darauf hinweisen, dass sie ja noch gar nicht auf dem Schiff seien, doch er verkniff sich die Bemerkung und setzte sich in Bewegung, um die Vorräte zu inspizieren. 

 

Nach dem Mittagessen, Dick und Dünn hatten sich zumindest nicht unzufrieden über seine Kochkünste geäußert, hatte Ben sich wieder auf die Liege gebettet und den ganzen Nachmittag geschlafen – bis der Dicke ihn unsanft weckte, indem er ihm ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht schüttete. „Höchst Zeit, um wieder die Küche aufzusuchen“, plärrte er. „Wir freuen uns auf ein zauberhaftes Dinner. Also los, komm in die Gänge, Freundchen.“

 

12.

 

Am nächsten Tag fuhren Dick und Dünn mit Ben im Landrover auf einer schmalen, sandigen Küstenstraße , bis sie nach fast einer Stunde einen unscheinbaren Ort erreichten, der über einen kleinen Hafen verfügte. Am Pier entdeckte Ben eine mittelgroße Yacht, die aussah, als hätte sie ihre besten Zeiten bereits hinter sich. 

 

„Das ist die Moonshine Queen“, sagte der Dicke und wies mit seiner Pranke in Richtung des Schiffes, „diese Lady wird für ein paar Tage unser Zuhause sei. Wenn alles nach Plan gelaufen ist, müssten Billy und Johnny mit der kompletten Taucherausrüstung bereits an Bord sein.“

 

Ben fiel auf, dass außer der betagten Yacht nur ein paar kleinere Fischerboote am Pier lagen. Er fand es seltsam, dass von irgendwelchen Menschen überhaupt nichts zu sehen war, doch dann gingen sie auch schon an Bord der „Moonshine Queen“.

 

Billy und Johnny waren zwei muskelbepackte, athletische Typen in den Dreißigern, die keine Miene verzogen, als sie Ben mit schmerzhaftem Druck die Hand schüttelten. Sie machten sich nicht die Mühe, seinen Gruß zu erwidern, und Ben war fest entschlossen, sich während der Tour von diesen arroganten, tätowierten Kerlen möglichst fernzuhalten. Die können mich mal, dachte er, die beachte ich am besten gar nicht. Allerdings ärgerte es ihn, dass er sie auch mit bekochen musste. 

 

Na, all zu große Mühe will ich mir in der Bordküche sowie nicht geben, tröstete er sich. Diese Ganovenbande wird schon essen müssen, was ich ihnen vorsetze. 

 

Die nächsten fünf Tage zogen sich ziemlich zäh dahin, zumindest kam es Ben so vor. Während der fast einen ganz Tag dauernden Fahrt bis zur Stelle, wo sich das Wrack befinden sollte, hatte er den Wind und die grenzenlose Aussicht an Deck genossen, wenn er nicht in der engen Kombüse mit Kochen beschäftigt war. Nachdem das Schiff allerdings geankert hatte und die Taucher mit ihren Bergungsarbeiten begonnen hatten, war ihm oft langweilig. 

 

Als der Dicke am zweiten Tag Ben mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht aufforderte, eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank zu holen, war ihm klar, dass Billy mit einer guten Nachricht von seinem ersten Tauchgang zurückgekehrt sein musste. Anscheinend hatte die Karte exakt den richtigen Liegeplatz des Schiffswracks angezeigt. 

 

Die folgenden Tagen waren die Taucher emsig damit beschäftigt, alles, was von Wert sein konnte, aus den Lagerräumen des versunkenen Handelsschiffs an die Meeresoberfläche zu holen. Es muss sich wirklich gelohnt haben, dachte Ben, denn die ausgesprochen gute Laune von Dick und Dünn war schon bezeichnend. 

 

Einmal konnte Ben sehen, wie der Dünne schwer schnaufend einen zylinderförmigen, vergitterten Behälter an Bord zog, der zahlreiche Kelche und andere Gegenstände enthielt, die in der Sonne golden glänzten. Doch dem dicken Glatzkopf gefiel wohl nicht, dass Ben aufmerksam zuschaute, und so scheuchte er ihn schimpfend unter Deck. 

 

Am sechsten Tag erreichte die Bergungsaktion ihr Ende, und Ben fiel auf, dass die beiden athletischen Taucher müde und ausgepumpt wirkten. Aus ihren Gesprächen hatte er etwas von „riesigen Diamanten“ und „goldenen Kreuzen“ herausgehört und malte sich aus, was für ein gewaltiges Vermögen Billy und Johnny wohl vom Meeresgrund geborgen hatten. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, dass Dick und Dünn ihnen einen größeren Anteil vom Schatz überlassen würden. 

 

Während Ben der Crew das Abendessen servierte, war er schon darauf gefasst, dass der dicke Glatzkopf wieder etwas zu meckern hatte, so dass er die lautstark geäußerte Bemerkung, er habe halbgare Bratkartoffeln allmählich statt, mit Gelassenheit entgegennahm. Er wartete, bis der Dicke sich etwas beruhigt hatte, und fragte dann: „Sehe ich es richtig, wenn ich davon ausgehe, dass wir, jetzt wo der Schatz ja gehoben ist, morgen wieder zur Insel zurückkehren – und ich mich auf den Weg zu meiner Bar machen kann? Vorausgesetzt, ihr verratet mir, wie ich am besten und schnellstens dort hin gelange …“

 

Der Dicke nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und  rülpste leise, bevor er antwortete. „Aufgrund deiner miesen Kochkünste hast du es eigentlich nicht verdient, dass wir dich laufen lassen, Barkeeper, doch da wir Menschenfreunde sind, wollen wir noch einmal ein Auge zudrücken. Aber du hast recht, morgen früh werden wir Kurs auf unseren Heimathafen nehmen.“

 

„Falls meine Insel zufälligerweise auf eurem Kurs liegen sollte, könntet ihr mich dort absetzen?“, fragte Ben. „Da bin ich jetzt überfragt“, antwortetet der Dicke, „Henry müsste einmal auf der Seekarte nachschauen.“ 

 

Ben sah, dass der Dünne missmutig sein Gesicht verzog und ansonsten nicht reagierte. Da werde ich den Blödmann später noch einmal direkt ansprechen müssen, dachte Ben. 

 

13.

 

Nach dem Sonnenuntergang, Dick und Dünn sowie die beiden Taucher hatten es sich mit einigen Getränken und beim flackernden Licht einer Fackel auf Klappstühlen an Deck gemütlich gemacht, wartete Ben eine passende Gelegenheit ab, um mit Henry zu sprechen. 

 

Nach einer Weile wurde Henry von seinem Boss losgeschickt, um Biernachschub zu holen. Ben erhob sich aus der im Heck befestigten Hängematte, in der er Pläne für einige kleinere Umbauten in seiner Bar ausgetüftelt hatte, und eilte Henry hinterher, der die schmale Treppe in den kleinen Lagerraum hinunterstieg. 

 

Der Dünne wirkte erschrocken, als er ein paar Bierflaschen aus dem Kühlschrank nahm und Ben ihm auf die Schulter tippte. „Es sieht fast so aus“, meinte Ben, „als seid ihr so richtig in Feierlaune.“

 

Mit glasigen Augen starrte Henry ihn an, als wüsste er nicht, wovon hier die Rede sei. „Scheint ja alles wunderbar geklappt zu haben“, setzte Ben erneut an, „und jetzt seid ihr erfolgreiche Schatzjäger und habt bestimmt bis an euer Lebensende ausgesorgt.“

 

„Keine Ahnung“, erwiderte der Dünne, machte ein dümmliches Gesicht und zuckte mit den mageren Schultern. Dann verstaute er die Flaschen in einen Korb und wollte sich auf den Rückweg machen, doch Ben versperrte ihm den Weg zur Treppe. „Aber du weißt doch bestimmt, ob ihr auf der Heimfahrt an meiner Insel vorbei fahrt, und wenn nicht direkt, so wäre doch einer kleiner Umweg bestimmt kein großes Problem.“

 

„Ich glaube nicht, dass wir dort vorbeikommen“, sagte Henry. „Bis zu dieser Insel wäre es ja eine Weltreise, dafür haben wir keine Zeit. Außerdem weiß ich nicht genau, was für Pläne der Chef mit dir vielleicht noch im Hinterkopf hat.“

 

Ben war jetzt alarmiert. „Ich dachte, es sei abgemacht, dass ihr mich auf jeden Fall meiner Wege ziehen lasst, wenn wir den Hafen erreicht haben“, meinte er aufgeregt. „Äh, na ja, aber klar, das schon“, stammelte der Dünne, „so habe ich das auch verstanden, aber man weiß ja nie. Der Wind kann schnell seine Richtung ändern, gerade hier auf hoher See“, und dann verfiel er in sein meckerndes Lachen.

 

„Was soll das denn heißen?“, fragte Ben, jetzt ziemlich aufgebracht. Doch nach seiner Lachattacke blieb Henry stumm und kniff demonstrativ die Lippen zusammen. Ben gab es schließlich auf, den Dünnen zu weiteren Auskünften zu animieren, und ließ ihn mit seinem gefüllten Bierkorb an Deck zurückkehren. 

 

Er hatte ein ungutes Gefühl, und dieses Gefühl begleitete ihn noch den ganzen Abend, während die angeheiterte Crew Witze erzählte und er in der Hängematte im frischen Abendwind leicht hin und her schaukelte. Bevor er endlich einschlief, nahm er sich vor, gleich am nächsten Morgen den Dicken zur Rede zu stellen, auch wenn der höchstwahrscheinlich verkatert und unausgeschlafen sein würde. 

 

14.

 

Bens Erwachen am nächsten Morgen war mit einer Überraschung verbunden. Er hatte die laue Nacht in der Hängematte verbracht und wurde aus dem Schlaf gerissen, als ihn jemand unsanft an den Schultern rüttelte. 

 

„Was ist los?“, fragte er schlaftrunken, da fiel sein Blick auf den dicken Glatzkopf, der direkt neben seiner Hängematte stand und ihn angrinste. Ben richtete sich auf und sah, dass die beiden Taucher ihm ebenfalls Gesellschaft leisteten. Wie zwei Marmorstatuen hatten sie sich am Fußende der Matte aufgebaut. Sie trugen verspiegelte Sonnenbrillen und hielten ihre tätowierten Bodybuilder-Arme verschränkt. Auf Ben machten die Kerle einen bedrohlichen Eindruck.

 

„Menschenskind, was soll das denn?“, fragte er und schwang sich aus der Hängematte, doch sofort sprangen die Taucher vor und hielten ihn mit ihren starken Armen fest.

 

„Kein Grund, sich aufzuregen, Sonnyboy“, sagte der Dicke, „aber vielleicht hast du ja schlecht geträumt. Wir wollten dir nur die gute Nachricht überbringen, dass du schon heute Morgen auf freien Fuß gesetzt wirst. Dein Job ist erledigt, und wir haben keinen Grund, dich hier länger festzuhalten.“

 

Ben war verwirrt. „Was soll das denn heißen?“, fragte er. „Das soll heißen“, erwiderte der Dicke, „dass wir dich dich leider nicht bis zu deiner Insel bringen können. Und wir glauben, es wäre das Beste für uns alle, dich jetzt schon in die Freiheit zu entlassen. Außerdem ist der Zeitpunkt ideal. Das Meer ist ruhig, und Unwetter sind auch nicht in Sicht.“ 

 

Ben war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte, was der Glatzkopf meinte. „Ihr habt doch nicht etwas vor …“, begann er, doch der Dicke fiel ihm schelmisch lächelnd ins Wort. „Doch, haben wir. Aber ich wünsche dir eine gute Reise, und bei deinem Dusel will ich nicht ausschließen, dass du auch diesmal irgendwo lebendig an Land gespült wirst. Also Barkeeper, viel Glück. Allerdings rechne ich nicht damit, dass wir uns in diesem Leben noch einmal begegnen werden, und darüber bin ich, ehrlich gesagt, auch nicht besonders traurig.“

 

Damit drehte sich der Dicke um und entfernte sich, während die Taucher begannen, Ben mit Gewalt Richtung Backbord zu zerren. Ben war zu schockiert, um sich zu wehren, außerdem wusste er, dass er gegen die beiden Muskelprotze sowieso keine Chance hatte. 

 

An der Reling angelangt erblickte er unter sich ein Schlauchboot, das sich in einem sanften Rhythmus auf der Meeresoberfläche auf und ab bewegte. Die Taucher hatten ihn losgelassen, doch einer der beiden, Ben glaubte, dass es Johnny war, richtete plötzlich eine Pistole auf ihn. 

 

„Es wird Zeit für dich, dass du auf ein anderes Boot umsteigst“, sagte er, und Ben meinte, eine tiefe Genugtuung in der Stimme herauszuhören. „Also, beweg deinen Arsch und schwing dich auf die Strickleiter.“ 

 

„Falls du dich weigern solltest“, sagte jetzt Billy, der seine Sonnenbrille abgenommen hatte und Ben mit eiskalten, grauen Augen anstarrte, „dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als dir gleich hier an Deck eine Kugel in deinen Dickschädel zu jagen und deinen Körper über Bord zu werfen. Der Boss hat uns dafür extra grünes Licht gegeben. Also los, steig ins Schlauchboot hinab.“ 

 

Ben sah keine andere Möglichkeit, als der Aufforderung Folge zu leisten. Mit zitternden Beinen und feuchten Händen hatte er Mühe, sich auf der schmalen Strickleiter nach unten zu bewegen, ohne abzurutschen, einen Fehltritt zu machen und ins Meer oder direkt ins Boot zu fallen.

 

Als er sich ins Schlauchboot setzte, das die Größe und das Aussehen eines billigen Drei-Personen-Freizeitbootes aus dem Discounter oder Baummarkt hatte und wahrscheinlich nur über zwei Luftkammern verfügte, fiel ihm etwas schmerzhaft auf die Beine. Es war das Seil, mit dem das Boot an der Reling befestigt war und das die Taucher wohl gelöst hatten.

 

Ben blickte nach oben und sah, wie die Muskelmänner ihm zuwinkten. Er hörte, dass einer der beiden rief: „Genieß’ die Seereise, sie wird deine letzte sein.“ Diese Arschlöcher, dachte Ben und bemerkte, dass sein Boot sich schon ein ganzes Stück von der Yacht entfernt hatte. 

 

Barfuß und nur mit einem verschlissenen T-Shirt sowie dünnen Shorts bekleidet, hockte Ben unbequem auf der kleinen Erhöhung am Bootsende, die wohl als Sitz dienen sollte. Sein Blick fiel auf zwei Dinge, die auf dem gewellten Gummiboot-Boden vor ihm lagen. 

 

Trotz seiner fatalen Situation, in der er sich befand, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Einen Sinn für Humor haben sie schon, diese Halunken, dachte er, auch wenn diese Art von Humor nicht unbedingt meinem Geschmack entspricht. 

 

Er nahm die runde Dose mit Thunfisch in die Hand und schleuderte sie schwungvoll ins Meer. Dann widmete er sich dem zweiten Ding, dass Dick und Dünn ihm gönnerhaft für seine Fahrt zur Verfügung gestellt hatten. 

 

Er schraubte den Verschluss der kleinen Kunststoff-Mineralwasserflasche auf und trank den halben Liter Inhalt in einem Zug. Dann drehte er den Verschluss wieder auf die leere Flasche und legt sie neben sich ins Boot. Kurz überlegte er, sie auch über Bord zu werfen, entschied sich jedoch dagegen. Wer weiß, dachte er, ob ich die Flasche nicht noch einmal brauchen werde. 

 

Mittlerweile war die Yacht schon zu einem kleinen Punkt am Horizont geschrumpft, und dann konnte Ben das Schiff überhaupt nicht mehr sehen. Er merkte, dass die Morgensonne bereits so viel Kraft hatte, dass sich sein Kopf ganz heiß anfühlte. 

 

Es war vollkommen windstill. Wenn nicht bald eine frische Brise aufkommt, dachte Ben, bin ich bereits am Nachmittag gegrillt. 

 

Ihn war klar, dass er diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach nicht noch einmal so ein Riesenglück haben würde wie bei seiner Fahrt mit dem klapprigen Ruderboot, wo ein Holzbrett ihm das Überleben gesichert hatte. 

 

Er fragte sich, wie sein Ende aussehen würde. Er könnte verdursten oder ertrinken, an einem Hitzschlag sterben oder ein gefundenes Fressen für die Haie sein. Ich muss es so nehmen, wie es kommt, dachte er. 

 

Doch als er in den stahlblauen, wolkenlosen Himmel blickte und eine Möwe entdeckte – und dann noch eine und eine dritte, konnte er dieses Gefühl von Hoffnung und Zuversicht, das sich wohlig in ihm ausbreitete, nicht unterdrücken. Und plötzlich war er überzeugt davon, einmal mehr gerettet zu werden.