Garten Eden

 

 

1.

 

Anna war schnell, das hatte ihr sogar der Chef einmal bestätigt, was sie immer noch wunderte, denn Filialleiter Wonnemeier war nicht gerade bekannt dafür, Lob zu verteilen – im Gegenteil. Wenn er hin und wieder sein hochherrschaftliches Büro verließ und einen seiner berüchtigten Kontrollgänge unternahm, hatte er grundsätzlich immer etwas auszusetzen. 

 

Seine Kritik wurde nicht nur lautstark artikuliert, sondern grenzte in Wortwahl und Tonfall stark an eine handfeste Beleidigung. Und immer fand er einen Anlass, irgendjemanden aus seinem Team herunter zu putzen. 

 

Zum Beispiel hatte sein Adlerauge keine Mühe, in Sekundenschnelle eine Packung Hähnchenbrust-Filets mit gerade abgelaufenem Haltbarkeitsdatum zu entdecken. Oder er beanstandete die „illegale“ Nachbarschaft von Spinat und Erbsen im Tiefkühlregal. „Spinat gehört neben den Broccoli, wie oft muss ich das denn noch sagen“, schrie er dann hysterisch, so dass nicht wenige Kunden bestrebt waren, ihren Einkauf zu beschleunigen.

 

Vom schüchternen Azubi bis zur selbstbewussten Obst-und-Gemüse-Veteranin, die nur noch ein knappes Jahr bis zum Renteneintritt arbeiten musste, bekam jeder sein Fett weg, wenn der stets mies gelaunte Wonnemeier wieder einmal zeigen wollte, wer in diesem Discount-Laden das Zepter schwang und die Urlaubsanträge unterschrieb. 

 

An Annas Arbeit hatte Wonnemeier noch nie etwas auszusetzen gehabt. Im Kollegenkreis war das längst aufgefallen, und es ging das Gerücht um, der Chef hätte ein Auge auf Anna geworfen. Ihr selbst machte das nichts aus, sollen sie doch reden, dachte sie, konnte sich allerdings nicht vorstellen, warum Wonnemeier sich ausgerechnet zu ihr hingezogen fühlen sollte.

 

Mit Ende Dreißig, dachte sie, meiner nicht unbedingt mehr sportlich zu nennenden Figur sowie den ersten grauen Haaren im schwarzen  Schopf sollte ich eigentlich nicht dem Typus entsprechen, auf den ein zwei Mal geschiedener Midlife-Crisis-Macho steht. Da läge es viel näher, Wonnemeier würde Kathrin anbaggern, die blonde Kollegin, die seit ein paar Monaten für Getränke, Snacks und Süßwaren zuständig war. Noch keine Fünfundzwanzig, dachte Anna, aber mit einem tollen Hüftschwung und einem aufreizenden Dauerlächeln ausgestattet, das müsste dem alten Bock doch gefallen. 

 

Aber auch Kathrin blieb nicht von Wonnemeiers Schimpf-Attacken verschont. Erst kürzlich hatte er sich bei ihr lautstark darüber beschwert, dass die Hanuta-Packungen auf der gleichen  Höhe wie die Müsli-Riegel platziert waren. „Die gehören doch wirklich nicht dahin, wo die gesunden Sachen liegen“, hatte er geblökt. Und die arme Kathrin hatte einen hochroten Kopf bekommen und ihr Lächeln eingestellt.

 

An der Kasse konnte keine andere Kollegin Anna das Wasser reichen. Sie scannte die Waren so schnell ein, dass die meisten Kunden Mühe hatten, diese in einem adäquaten Tempo in den Einkaufswagen zu legen. Wer da nicht nervenstark oder gelassen genug war, geriet gehörig in Stress.

 

Anna war das egal. Ihr war es wichtig, dass die Kundenschlange an ihrer Kasse nicht zu lang wurde. Mehr als ein halbes Dutzend ungeduldiger oder gar gehetzter Menschen hinter prall gefüllten Einkaufswagen, Kunden, die nur darauf warteten, ihre Zwiebelnetze, Tiefkühlpizzen und Ketchup-Flaschen aufs Band zu schleudern, das konnte sie nervös machen. Und bis der Chef das Signal geben würde, eine zweite Kasse zu öffnen, da musste die Schlange schon bis ans Ladenende reichen, vorausgesetzt, einer von Annas Kolleginnen oder Kollegen hätte den Mut aufgebracht, Wonnemeier in seinem Büro bei der Zeitungslektüre zu stören und auf die Situation hinzuweisen. 

 

Anna war nicht nur schnell, sondern hatte auch ein gutes Gedächtnis. Preisänderungen waren ruckzuck in ihrem Kopf gespeichert, mit den fünfzig Produkten aus der Backtheke kannte sie sich bestens aus. Sonderposten, falsch deklarierte Waren oder Reklamationen – das alles bereitete ihr null Probleme. Wenn jemand aus dem Team eine Frage hatte oder nicht weiter wusste, wandte er oder sie sich an Anna. In den allermeisten Fällen konnte sie helfen. 

 

Das änderte allerdings nichts daran, dass sie ausschließlich an der Kasse arbeitete. Anna hatte sich schon längst damit abgefunden, dass der Boss ihr eine andere Aufgabe mit einer größeren Verantwortung in seiner Filiale verweigerte. Vielleicht, weil sie dann besser bezahlt werden müsste, vielleicht auch aus einem ganz anderen Grund – sie wusste es nicht, regte sich aber auch nicht darüber auf. 

 

Immerhin betrug ihre Wochenarbeitszeit nur dreißig Stunden, das war für sie auszuhalten. Auch wenn sie sich an diesem Mittwochvormittag bereits nach knapp drei Stunden danach sehnte, Feierabend machen zu können. 

 

Eventuell liegt es an dem windigen Regenwetter, dass sich heute nur so wenige Kunden blicken lassen, dachte Anna. Oder die ab morgen geltenden, neuen Sonderangebote sind so attraktiv, dass viele Leute ihren Einkauf um einen Tag verschieben. Wie auch immer, so ging die Zeit jedenfalls kaum um, fand sie, und freute sich zu sehen, dass eine junge Frau einen randvoll gefüllten Einkaufswagen in Richtung ihrer Kasse schob.

 

2.

 

In ihrer Mittagspause setzte sich Anna in den kleinen, ungemütlichen Aufenthaltsraum und knabberte lustlos an der Käsestange, die sie sich aus der Backtheke geholt hatte. Ab und zu nahm sie einen Schluck von ihrem Kakao-Drink. Mit am Tisch saß ihr Kollege Michael, der nur kurz aufgeblickt und ihr zugenickt hatte, als Anna herein gekommen war, um sich dann gleich wieder in seine Auto-Illustrierte zu vertiefen. 

 

Michael war ein nicht gerade gesprächiger Mittzwanziger, der, wie Anna von Kathrin wusste, nach zehn Semestern sein BWL-Studium abgebrochen hatte, hoch verschuldet war und mit Handkuss diese zunächst auf drei Monate befristete Aushilfsstelle angenommen hatte. Er war die Vertretung für Annas Kollegin Sabine, die sich nach einem schweren Ski-Unfall in der Reha befand. Wann sie wieder zurück zur Arbeit käme, stand in den Sternen. 

 

Anna war schon öfter aufgefallen, dass Michael sich beim Einräumen der Ware nicht nur ausgesprochen ungeschickt anstellte, sondern auch noch sehr langsam war. Es wunderte sie, dass Wonnemeier ihn sich nicht schon längst zur Brust genommen hatte, schließlich war er schon fast zwei Monate hier, und die Lücken in den Regalen wurden eher größer als kleiner. 

 

Der Big Boss hat halt nichts im Griff, dachte sie, er regt sich nur über unbedeutende Kleinigkeiten auf und schikaniert gern Mitarbeiter, aber die wirklich wichtigen Dinge entgehen ihm oder sind ihm piepegal. 

 

Anna hatte gerade die Hälfte von ihrem Pausensnack verzehrt, da sprang Kollege Michael urplötzlich auf und verließ eiligst den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Ihr fiel auf, dass er seine Illustrierte auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Seltsamer Typ, dachte Anna, wenigstens Tschüss hätte er sagen können. 

 

Sie bemerkte, dass Michael auch sein Handy vergessen hatte, von dem eine Ecke unter dem Heft hervorlugte. Einem schnellen Impuls, ihm mit dem Smartphone hinterher zu laufen, konnte sie widerstehen. Soll der unfreundliche Kerl doch selbst sein Handy holen, dachte sie und schaute auf ihre Armbanduhr. Es blieben ihr noch sieben Minuten, bis sie sich wieder hinter die Kasse setzen musste, genug Zeit, um in Ruhe ihre Käsestange aufzuessen. 

 

Während Anna den Rest von ihrem Kakao trank, meinte sie, ein seltsames Geräusch zu hören, das aus dem Verkaufsraum zu kommen schien, eine Art Summen. Wahrscheinlich hat einer der Kunden nur einen komischen Klingelton auf seinem Handy ausgewählt und das Smartphone auf Laut gestellt, dachte sie. 

 

Anna verließ den Aufenthaltsraum und ging gemächlich zwischen den Warenregalen in Richtung der Kassen. Plötzlich beschlich sie ein seltsames Gefühl. Doch erst, nachdem sie auf ihrem Sitz hinter der Kasse Nummer Eins Platz genommen hatte, erkannte sie, was die Ursache für dieses Gefühl war. 

 

Eigentlich hätte hier noch Helena setzen müssen, ihre Kollegin, die sie während der Pause vertreten hatte. Aber was Anna noch merkwürdiger vorkam: Es war weit und breit keine Kunde zu sehen. 

 

Ungewöhnlich, um diese Uhrzeit, dachte Anna. Und dann fiel ihr die Stille auf, eine absolute Stille, wie Anna sie hier noch nie erlebt hatte. Kein Laut drang an ihre Ohren. Irgendwie gespenstisch, dachte sie. Sie stand von ihrem Kassenstuhl auf und ließ ihren Blick durch den weiträumigen Supermarkt streifen.

 

Niemand war zu sehen, kein Kunde, keine Kollegin. Anna überlegte, ob sie vielleicht während ihrer Pause im Aufenthaltsraum am Tisch eingeschlafen war und den Ladenschluss verpasst hatte. Eigentlich nicht möglich, dachte sie, dann hätte ich ja fast acht Stunden geschlafen haben müssen. Außerdem wäre es mir ja spätestens beim Aufwachen klar geworden, ein Nickerchen gemacht zu haben, wie lange dieses Schläfchen auch immer gedauert haben mag.

 

Anna fragte sich, was hier eigentlich los sei. Während sie sich auf den Weg zur Eingangstür machte, spürte sie einen unangenehmen Druck auf ihren Schläfen.

 

3.

 

Dass sich die Schiebetür nicht öffnen ließ, war für Anna keine Überraschung, obwohl sie keine Erklärung dafür hatte. Doch ihr Blick nach draußen jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Wo sich normalerweise ein hell beleuchteter Parkplatz befand, herrschte jetzt absolute Dunkelheit. 

 

Das ist verrückt, dachte Anna und starrte verwirrt durch die Glasscheiben. Dann gab sie sich einen Ruck, drehte sich um und ging mit wackligen Knien in Richtung des Büros ihres Chefs, das sich im hinteren Teil der Filiale befand. Niemand begegnete ihr, es schien fast so, als sei sie im Moment der einzige Mensch in diesem Supermarkt. 

 

Zaghaft klopfte sie an die Tür von Wonnemeiers Büro. Keine Antwort. Sie klopfte erneut, dieses Mal weitaus kräftiger, doch wieder erfolgte keine Reaktion. Anna wartete noch einen Moment, überlegte kurz, was sie tun sollte, und drückte dann mit ihrer leicht zitternden rechten Hand die Klinke herunter.

 

Die Tür war nicht verschlossen. Anna nahm ihren ganzen Mut zusammen, rief laut „Entschuldigung“, öffnete die Tür und betrat das Büro. Was sie erblickte, versetzte ihr einen Schock. 

 

Ungläubig und entsetzt zugleich sah sie, wie ihr Chef mit nacktem Oberkörper kerzengerade hinter dem Schreibtisch in seinem komfortablen Bürosessel saß und sie mit weit geöffneten Augen anstarrte. In seinem bleichen Gesicht haftete ein irres Grinsen.

 

Seine Handflächen hatte Wonnemeier auf dem komplett leeren Schreibtisch abgelegt, die Finger weit auseinander gespreizt. Auf Anna wirkte es so, als seien sie angeklebt. 

 

Dann fiel ihr auf, dass sich ihr Chef überhaupt nicht rührte. Unentwegt starrte er sie an, kein Augenlid bewegte sich, kein Muskel zuckte im Gesicht, nicht die leichteste Atembewegung zeigte sich auf seiner unbehaarten Brust. 

 

Aufrecht, stocksteif und teuflisch grinsend thronte Wonnemeier im ledernen Schreibtisch-Sessel, so dass Anna dachte, sie stünde nicht einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüber, sondern einer künstlichen Kopie. Wonnemeier als Wachsfigur, schoss es ihr durch den Kopf, doch diese Vorstellung löste bei ihr keine Heiterkeit aus, sondern nur ein beklemmendes Angstgefühl.  

 

Wie angewurzelt stand Anna noch eine Zeitlang in der Nähe der Tür, bis sie sich traute, weiter in den Raum vorzudringen. Sie umrundete den Schreibtisch und blieb neben ihrem immer noch völlig unbeweglichen Chef stehen. Dann holte sie tief Luft und legte Wonnemeier ihre rechte Hand auf die Stirn, so als prüfe sie bei einem Kind, ob es Fieber haben könnte. 

 

Wonnemeiers Stirn war eiskalt und fühlte sich an wie Stein. Ungläubig starrte Anna auf ihre Hand, als könne sie darauf die Lösung dieses verrückten Rätsels ablesen. Sie entschied, den Filialleiter noch an einer anderen Stelle zu berühren, und drückte ihre Hand vorsichtig auf seinen nackten linken Unterarm, der ab dem Ellenbogen gerade auf dem Schreibtisch lag. Auch hier fühlte sie eiskalten, glatten Stein. 

 

Als hätte er sich in Marmor verwandelt, dachte Anna. Urplötzlich wurde sie von der Furcht erfüllt, sie könnte sich anstecken und selbst zu Stein werden. Abrupt riss sie ihre Hand von Wonnemeiers Arm los und verließ fluchtartig das Büro. 

 

Ich befinde mich in einem gottverdammten Alptraum, dachte sie, während sie hastig zum Aufenthaltsraum eilte. Vielleicht schafft es ja ein starker Kaffee, überlegte sie, dass ich aufwache und dieser Gruselfilm ein Ende findet. Doch auch ein doppelter Espresso aus dem Kaffee-Automaten änderte nichts an ihrer Befürchtung, alles, was sie in den letzten Minuten erlebt und gesehen hatte, sei völlig real und kein Traum. 

 

Aber warum nur, fragte sie sich, was hat das denn alles zu bedeuten? Und wo sind eigentlich die anderen? Was mit ihrem Chef Schreckliches passiert war, dafür hatte sie auch überhaupt keine Erklärung. 

 

Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihr Wonnemeiers Schicksal nicht besonders am Herzen lag, da machte sie sich um ihre verschwundenen Kolleginnen schon viel mehr Sorgen. 

 

Vielleicht sollte ich einmal im Lagerraum nachsehen, überlegte Anna, nicht dass sich die ganze Truppe dort versammelt hat. Doch im Grunde konnte sie sich das nicht vorstellen. Warum sollten alle dort sein, fragte sie sich, noch dazu, wenn der Laden geschlossen ist. 

 

Und dann hatte Anna auf einmal ein Bild vor Augen, so dass ihr für einen Moment die Luft weg blieb. Sie sah das ganze Team im Kreis auf dem Boden hocken, jeder hatte die Arme vor der Brust verschränkt und war versteinert. Und alle trugen ein Angst einflößendes Grinsen im Gesicht. 

 

Anna schüttelte sich, um dieses verstörende Bild zu verscheuchen. Anscheinend beginne ich langsam durchzudrehen, dachte sie, das ist überhaupt nicht gut. Deshalb sollte ich mich im Lagerraum sofort davon überzeugen, dass meine Horror-Fantasie völlig gegenstandslos und nur eine Folge meiner angespannten Nerven ist. 

 

4.

 

Während Anna die Metalltür zum Lagerraum öffnete, spürte sie ein beklemmendes Gefühl auf ihrer Brust. Was sie dann sah, war weder gruselig noch Angst einflößend, sondern einfach nur vollkommen verrückt. Statt in den mit Regalen, Paletten und Kartons vollgestopften Lagerraum des Supermarkts blickte sie in ein Hallenbad. Vor Staunen stand Anna der Mund weit offen.

 

Wieder glaubte sie zu träumen. Doch nachdem sie ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein gemacht hatte, fiel ihr auf, dass sie auf rutschfesten Fliesen stand, ein Bodenbelag, wie er typisch für ein Schwimmbad war. Außerdem hatte sie den unverwechselbaren, chlorhaltigen Hallenbad-Geruch in der Nase. 

 

Sie registrierte, dass sich kein Mensch im Bad befand, nicht im Wasser und auch nicht am Beckenrand. Auf der rechten Seite stand etwa ein Dutzend blauer Relaxliegen, doch keine einzige von ihnen war belegt, wie Anna erkannte.

 

Sie ging bis zum Beckenrand, bückte sich und steckte ihre rechte Hand ins Wasser. Es fühlte sich angenehm temperiert an, nicht zu kalt und nicht zu warm, genau richtig, um ein paar Bahnen zu schwimmen, dachte sie. Aber das ist ein absurder Gedanke, ich sollte lieber umkehren. 

 

Auf einmal konnte sie sich vorstellen, dass alles wieder völlig normal sein würde, sobald sie nicht mehr in diesem seltsamen Hallenbad wäre. 

 

Ich gehe einfach in den Verkaufsraum zurück, dachte sie, und der Spuk hat ein Ende. Kunden und Kollegen tummeln sich wieder in den Gängen wie immer. Der Big Boss hält dem Azubi eine Standpauke, und ich sitze wieder an der Kasse, wiege Bananen, schaue in Brötchentüten und schiebe Nudelpackungen über den Scanner, so als sei nichts Außergewöhnliches passiert. 

 

Vielleicht hat sich ja ein kleiner Tagtraum in die ermüdende Routine meines Arbeitsalltags geschlichen, das will ich nicht ausschließen. Der menschliche Verstand schlägt halt manchmal die verrücktesten Kapriolen.

 

Doch Annas Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr in die Normalität wurde im Keim erstickt, als sie vergeblich die Klinke der Metalltür herunterdrückte. Fassungslos rüttelte sie an dem Griff, zog mit aller Kraft, doch die Tür bewegte sich nicht. Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, ob aus Wut oder Verzweiflung, sie wusste es nicht. 

 

Ob irgendjemand die Tür von der anderen Seite verschlossen hatte, während sie am Beckenrand stand, oder übernatürliche Kräfte im Spiel waren, sie hatte keine Ahnung. Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie, sollte mich auf die neue Situation einstellen, mich entspannen und in Ruhe überlegen, was jetzt am besten zu tun ist. 

 

Sie setzte sich neben der verschlossenen Tür auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Während sie versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu atmen, fiel ihr Blick auf einen Liegestuhl am vorderen Beckenrand, höchstens zehn Meter von ihr entfernt. Vorhin hatte er noch nicht dort gestanden, da war sie sich ganz sicher. 

 

Ihr fiel auf, dass auf diesem Liegestuhl, im Gegensatz zu allen anderen, irgendetwas lag. Jetzt war sie neugierig, erhob sich und näherte sich der Relax-Liege. Irgendjemand hatte, sorgfältig zusammengelegt, einen weißen Bademantel und ein weißes Bade-Handtuch nebeneinander auf der Liege platziert. Und an der Rückenlehne hing ein schmaler Kleiderbügel mit einem dunkelblauen Badeanzug.

 

Anna konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass dies alles für sie arrangiert worden war. Anscheinend wollte irgendjemand, dass sie schwimmen ging. 

 

Einfach irre, dachte sie, und löste den Badeanzug vom Kleiderbügel. Sie blickte auf das Etikett und sah, dass es genau ihre Kleidergröße anzeigte, was sie nicht wirklich überraschte. Auch die plötzlich aus irgendwelchen Deckenlautsprechern ertönende Musik nahm sie gelassen zur Kenntnis, obwohl die Auswahl des Songs schon bemerkenswert war, denn es handelte sich um ein Stück ihrer Lieblingsband. 

 

Vielleicht sollte ich wirklich eine Runde schwimmen, dachte Anna, das könnte eine gute Methode sein, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, denn den werde ich brauchen. Und Schwimmen hat mich bisher immer total entspannt, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren?

 

Anna beschloss, das Angebot einer unbekannten Person anzunehmen und den bereit liegenden Badeanzug anzuziehen. Sie wollte sich schon ihrer Kleider entledigen, da fiel ihr ein, dass sie ja irgendwer beobachten könnte. Sie ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, doch nach wie vor war sie der einzige Mensch in diesem Schwimmbad. 

 

Vielleicht gibt es ja hier Kameras, überlegte sie, doch als ihre Augen die Decke absuchten, konnte sie keine entdecken. Na gut, dachte sie, dann leg ich jetzt mal los. Sie zog sich aus, legte ihre Kleider neben dem Handtuch und dem Bademantel auf die Liege und streifte sich den Badeanzug über. Er passte perfekt. 

 

Kurz dachte sie daran, den Raum mit den Duschen zu suchen und sich vor dem Schwimmen abzubrausen, doch dann entschied sie sich dagegen. 

 

Wer weiß, was mich da erwartet, dachte sie und hielt es für besser, erst später, wenn sie aus dem Wasser raus war und sich etwas entspannt hatte, im Duschraum ihre weitere Erkundung zu starten. Denn dass sie nicht ewig hier in dieser Schwimmhalle bleiben konnte, war ihr klar. 

 

Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als nach einer Möglichkeit zu suchen, irgendwie aus diesem verhexten Supermarkt  herauszukommen, die Tür nach draußen aufzuspüren, den Ausgang zu finden, der sie in die Normalität zurückkehren ließ.  

 

Wenn dies jetzt ein stinknormales Hallenbad ist, dachte Anna, dann muss es doch eigentlich möglich sein, durch den Duschraum und vorbei an den Umkleidekabinen in den Eingangs- und Kassenbereich zu gelangen, wo sich die Tür nach draußen befindet. Ich werde es schaffen, aber zuerst werde ich mich jetzt in die Fluten stürzen. 

 

5.

 

Vorsichtig ließ Anna sich vom Beckenrand ins Wasser gleiten. Sobald sie zwei Bahnen im ideal temperierten Wasser geschwommen war, fühlte sie sich schon viel besser. Da es keine weiteren Badegäste im Becken gab, die ein Hindernis darstellen konnten, wechselte sie nach einigen weiteren Bahnen von Brust-  zu Rückenschwimmen. Sie spürte, wie das mulmige Gefühl von vorhin verschwunden war. Die Angst, in diesem Bad dauerhaft eingesperrt zu sein, hatte sich in Luft aufgelöst. 

 

Mag sein, dachte Anna, dass dafür auch dieser Duft, der seit ein paar Minuten durch die Halle schwebt, mit verantwortlich ist. Der Geruch erinnerte sie an eine Party aus ihrer Jugendzeit, auf der zur psychedelischen Rockmusik Marihuana geraucht wurde. 

 

Wie war es möglich, fragte sie sich, dass es hier so nach Dope roch? Oder bildete sie sich das nur ein? Vielleicht hat sich der Bademeister ja einen Joint gedreht, dachte sie, und während er in einem Schacht der Klimaanlage liegt, raucht er ihn. Sie musste lachen und schluckte dabei etwas Wasser. Irgendwie fühlte sie sich high, und es war ein gutes Gefühl.

 

Anna blieb noch ein paar Minuten im Becken, allerdings ließ sie sich dabei gemütlich und ohne Anstrengung im Wasser treiben. Sie musste lächeln, als ein weiterer ihrer Lieblings-Songs durch den Raum schallte, eine Rockballade, die sie immer, wenn sie dieses Lied hörte, an einen bezaubernden Sommerlaub auf Ibiza erinnerte. Damals war sie 17 und zum ersten Mal richtig verknallt. 

 

Sergio hieß er und hatte ihr eine wunderschöne Muschel geschenkt, die er angeblich in zehn Metern Tiefe auf dem Meeresgrund gefunden und extra für sie geborgen hatte. Anna hatte das zwar nicht geglaubt, trotzdem aber ein paar traumhaft schöne Tage mit Sergio verbracht.  

 

Nach der Ibiza-Erinnerungs-Ballade ertönte ein weiterer Song aus den Deckenlautsprechern, ein Titel, den Anna gern hörte und der sich auch auf ihrer persönlichen Best-Of-Liste ihres Handys befand. Der DJ scheint mich genau zu kennen, dachte sie, allerdings wusste sie auch, dass dies eigentlich nicht möglich sein konnte. Aber ihrer neuen Unbeschwertheit tat dies keinen Abbruch. 

 

Anna stieg aus dem Becken, zog den nassen Badezug aus und trocknete sich mit dem großen Handtuch ab. Sie wollte sich schon anziehen, doch dann fiel ihr Blick auf den weißen Frottee-Bademantel. Warum eigentlich nicht, dachte sie. Da hier sowieso niemand ist, außer ein paar Geistern, die sich nicht zeigen, kann ich meinen Erkundungsgang auch im Morgenmantel machen. Schließlich bin ich ja nicht nackt. Und meine Klamotten ziehe ich mir halt später wieder an. 

 

Sie wusste nicht, woher ihr plötzlicher Optimismus kam, aber es war ihr egal, denn sie fühlte sich prima. Barfuß und in den anschmiegsamen, weichen Bademantel gehüllt ging sie am Becken entlang in den hinteren Teil des Schwimmbads, wo sie zwei Türen ausgemacht hatte. 

 

Erstaunt stellte sie fest, dass vor der rückwärtigen Panorama-Glaswand, hinter der der man nur eine Art Nebel erkennen konnte, irgendjemand in den letzen Minuten ein gutes Dutzend große Pflanz-Container platziert haben musste, eckige Töpfe, in denen drei bis vier Meter hohe Palmen wuchsen. 

 

Anna versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, ging bis zur ersten von den beiden Türen am Ende der Halle und schaute durch die Bullaugen ähnliche Scheibe in den Raum. Sie sah weiß gekachelte Wände und ein paar Duschen. 

 

Ohne zu zögern betrat sie den Raum. Er war viel größer, als sie erwartet hatte, vor allem war er lang, unglaublich lang, denn sie konnte kein Ende entdecken. Links und rechts reihte sich eine Dusche an die andere, und die warme Luft war so von Feuchtigkeits-Schwaden erfüllt, als hätten hier vor kurzem noch zahlreiche Badegäste unter den Brausen gestanden und heiß geduscht. 

 

Wie in Trance setzte Anna auf den warmen Bodenfließen Fuß vor Fuß, in der Hoffnung, bald den ungewöhnlichen Duschraum durchquert zu haben. Sie musste bestimmt an die hundert Duschen passiert haben, als sie das Ende erkennen konnte. 

 

Der Raum endete nicht mit einer gekachelten Wand, sondern mit einer großen Fensterfront, durch die helles Sonnenlicht herein flutete. Während Anna vor der Glasscheibe stand, war sie für einen Moment geblendet, doch als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte sie auf einen grünen Garten, der sich bis zum Horizont erstreckte. Allerdings lag dieser Garten weit unter der Position, auf der sie sich befand.

 

6.

 

Ich scheine hier mindestens fünfzig Meter höher zu stehen, dachte Anna. Sie konnte erkennen, dass in diesem Garten, zumindest im vorderen Teil, zahllose Beete angelegt waren, in denen anscheinend Gemüse angebaut wurde. Weiter hinten entdeckte sie lange Reihen von Beeren-Sträuchern und Obstbäumen – und sie meinte, in einigen Bäumen rot schimmernde Äpfel hängen zu sehen – und vielleicht auch gelbe Pfirsiche.

 

Verrückt, dachte Anna und wurde von einem plötzlichen Drang gepackt, jetzt gleich dorthin zu gelangen und von den frischen Früchten zu probieren. Aber hier, am Ende des elend langen Duschraums, konnte sie überhaupt keine Tür entdecken, keinen Ausgang, der vielleicht in ein Treppenhaus führen würde, um nach unten zu gehen.

 

Da sah sie, dass an der linken Kachelwand, ein paar Meter vor dem Raumende, keine Dusche war, wie auf der gegenüberliegenden Seite, sondern nur eine große, glatte, metallische Fläche mit einem rot leuchtenden Knopf in der Mitte. 

 

Anna zögerte einen Moment, dachte dann, was soll’s, ging bis zu dieser Fläche und drückte auf den Knopf. Mit einem sanften Zischen senkte sich die Metallfläche langsam in den Boden und gab den Blick in einen kleinen Raum frei, der wie das Innere eines Aufzugs aussah. Anna erkannte die für einen Lift typische Reihe von leuchtenden, vertikal ausgerichteten Tasten, und hatte keine Bedenken, in den Aufzug zu steigen.

 

Auf kleinen, silbernen Metallplättchen waren neben den Tasten die Ziffern 1 bis 13 eingraviert, nur die unterste Taste war mit einem größeren, goldenen Schild versehen, auf der „Garten Eden“ zu lesen war.

 

Genau dort will ich hin, dachte Anna und drückte auf diese Taste. Langsam glitt die Lifttür aus dem Boden, und als die Kabine ganz geschlossen war, begann sie sich mit einem Ruck abwärts zu bewegen. 

 

Anna hatte ein flaues Gefühl im Magen, denn die Aufzugkabine nahm Fahrt auf schoss dann geradezu in die Tiefe, um bereits nach wenigen Sekunden so stark abzubremsen, dass Anna fast das Gleichgewicht verlor. Aus einem Lautsprecher in der Kabinenwand erklang metallisch schnarrend „Garten Eden“, dann verschwand die Lifttür gemächlich im Boden. 

 

Barfuß verließ Anna den Aufzug und trat hinaus ins helle Sonnenlicht. Vor ihr lag ein mit Kies und Schotter bedeckter Weg, der durch eine sumpfige Wiese auf einen Bach zu führte. Obwohl sie Sorge hatte, sich die Füße auf den Steinen zu verletzten, entschied sie sich, diesen Weg zu gehen.

 

Ich hätte vielleicht besser meine Schuhe anziehen sollen, dachte sie und steuerte vorsichtig auf die kleine Holzbrücke zu, die sie am Ende des Kieswegs erspäht hatte. Der munter vor sich hin plätschernde Bach bildete eine Grenze zischen der feuchten Wiese und der dahinter liegenden, sich weit erstreckenden Gartenanlage. 

 

Direkt vor der aus groben Holzbohlen bestehenden Brücke entdeckte Anna ein Paar Sportschuhe, das irgendjemand dort vergessen oder vielleicht auch mit Absicht auf den Boden gestellt hatte. Die hellblauen Sneakers sahen nagelneu aus, und nach näherer Begutachtung stellte Anna fest, dass sie Größe 40 hatten, genau ihre Schuhgröße.

 

Das kann kein Zufall sein, dachte sie, probierte die Sportschuhe an und freute sich darüber, dass sie perfekt passten. Dann blickte sie lächelnd zum blauen Himmel hinauf und rief: „Vielen Dank auch, ihr Geister.“  

 

Als würden die Geister sofort antworten, spürte Anna eine plötzliche, heftige Bö, die an ihrem Bademantel zerrte und ihr Haar zerzauste, doch dann war der Windstoß auch schon wieder vorbei. In ihren neuen, bequemen Schuhen überquerte sie die schmale Holzbrücke, die nur über ein niedriges Geländer verfügte. 

 

7.

 

Am anderen Ufer des Baches angekommen drehte Anna sich um und blickte zurück, doch dort, wo eigentlich das hohe Schwimmbad-Gebäude stehen müsste, erstreckte sich zu ihrem Erstaunen jetzt ein dichter, dunkelgrüner Wald. 

 

Das ist irre, dachte sie, und zum ersten Mal kam es ihr in den Sinn, vielleicht nie mehr in ihren Supermarkt zurückkehren zu können. Es war eine bedrückende Vorstellung.  

 

Reiß dich zusammen und blick nach vor, spornte sie sich an. Dein Ziel ist doch dieser Garten Eden, und hier befindet er sich, direkt vor deiner Nase. Und so betrat sie einen sandigen Weg, der mitten durch große Gemüsebeete führte. 

 

Anna passierte lange Reihen mit Erdbeer-Pflanzen, die viele dicke, dunkelrote Früchte trugen. Sie kam an Beeten mit Buschbohnen und Kohlrabi vorbei, entdeckte weiter hinten Mangold und Kopfsalat.  

 

Sie durchquerte ein Kräutergärtchen und anschließend ein Areal mit Himbeer-, Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern. Und danach begann der eigentliche Obstgarten. 

 

Schon am ersten Apfelbaum, dessen pralle, goldgelbe Früchte auch auf den untersten Ästen dicht an dicht hingen, wurde Anna schwach und pflückte einen Apfel. Er schmeckte fantastisch, überhaupt kein Vergleich mit den Sorten aus ihrem Supermarkt, fand sie.

 

Nach vielleicht hundert Metern lösten Birnbäume die Apfelbäume ab. Auch hier kostete Anna von dem hellbraunen Obst, das ein unvergleichliches Aroma hatte. Die Birnen waren so groß, wie sie es noch nie gesehen hatte.

 

Bereits relativ satt, probierte Anna nur noch von den violetten, runden Pflaumen und bestaunte die zahlreichen anderen, reich tragenden Obstbäume, die auf dieser paradiesischen Plantage noch wuchsen. Und so verschob sie das Testen von Pfirsichen, Aprikosen, Mirabellen, Kirschen und anderen Früchten auf einen späteren Zeitpunkt. 

 

Sie wunderte sich darüber, dass die verschieden Obstsorten alle zur selben Zeit reif zu sein schienen, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dachte sie. Nach einer letzten Reihe mit Sauerkirsch-Bäumen, deren Äste sich von der Last unzähliger reifer Früchte bogen, löste eine weite Grasebene den Garten ab. 

 

Nur ab und zu erkannte Anna kleine Gruppen von niedrigen Büschen und Sträuchern in dem Meer hoher Grashalme, die im auffrischenden Wind, der ständig die Richtung wechselte, in Wellen hin und her wogten. Am Horizont meinte sie, die Silhouette einer Bergkette zu erkennen, doch sie schloss auch nicht aus, dass es sich um eine dunkle Wolkenwand handelte.

 

Anna spürte eine leichte Müdigkeit. Ihr wurde bewusst, dass sie schon ziemlich lange zu Fuß unterwegs war. Ich sollte mich etwas ausruhen, dachte sie, und exakt in diesem Moment fiel ihr Blick auf ein Gebäude, das vielleicht ein paar hundert Meter entfernt neben einer Reihe von Büschen stand. Kurz entschlossen steuerte Anna auf dieses Gebäude zu. Es scheint eine Hütte oder Scheune sein, dachte sie.

 

Doch als sie dem Gebäude näher kam, erkannte sie, dass es sich eher um ein großes Blockhaus handelte. Neben dem Haus befand sich ein langer, hölzerner Wasserbehälter, vor dem eine handbetriebene Pumpe aus dem Boden ragte. Es sieht aus wie eine Pferdetränke, dachte Anna, wie aus einem Wildwest-Film.

 

An der massiven Eingangstür war ein gusseiserner Türklopfer in Form eines Pferdehufs befestigt. Anna fragte sich, ob hier überhaupt jemand wohnte, und wollte schon den Klopfer betätigen, da hörte sie auf der linken Seite des Gebäudes ein Geräusch, das wie Flügelschlagen klang. Sie drehte sich zur Seite und konnte gerade noch sehen, wie ein großer Vogel sich in die Lüfte erhob – und direkt anschließend ein zweiter. Dann hörte sie den typischen Ruf von Gänsen.

 

Wo Gänse sind, da muss auch Wasser sein, dachte Anna, und ging auf die kleine Gruppe von Büschen zu, hinter denen die Vögel anscheinend los geflogen waren. Sie umrundete das Gesträuch und stand auf einmal am Ufer eines kleinen Sees. 

 

Auf der vorderen Seite des Gewässers befand sich ein kleiner, mit feinen Kieseln bedeckter Strand, die anderen Uferbereiche waren von hohem Schilf bedeckt. Anna machte ein paar Schritte über den Kieselstrand und verharrte dann direkt vor dem Wasser. 

 

Unweit des Ufers schien der See bereits eine stattliche Tiefe aufzuweisen. Das Wasser war glasklar. Anna konnte bis zum Grund sehen, der von niedrigen Wasserpflanzen bewachsenen war. 

 

Sie bückte sich und ließ prüfend ihre rechte Hand ins Wasser gleiten. Es fühlte sich angenehm kühl an, aber nicht so kalt, wie sie es erwartet hatte. Dann schöpfte sie mit ihrer hohlen Hand etwas Wasser, führte die Hand zum Mund und probierte einen kleinen Schluck. Es schmeckte frisch und leicht süßlich. 

 

Anna zweifelte nicht daran, dass dieses Wasser sauber war und eine gute Qualität hatte. Da sie plötzlich Durst verspürte, trank sie noch mehr von dem klaren Seewasser. 

 

Es ist richtig idyllisch hier, stellte sie fest, und dieser See lädt regelrecht zum Schwimmen ein, doch jetzt will ich mir erst einmal die Blockhütte ansehen und vielleicht ihre Bewohner kennen lernen.

 

8.

 

Anna betätigte ein paar Mal den schweren Türklopfer, doch niemand öffnete. Aus dem Inneren des Blockhauses dang auch kein Laut nach draußen, deshalb prüfte Anna, ob die Tür verschlossen war. Sie war es nicht, und so betrat Anna, laut „Hallo, ist hier jemand“ rufend, das Haus.

 

Nach zwei Schritten blieb sie staunend stehen. Der Raum, in dem sie sich befand, erschien ihr riesig, viel größer, als sie es vermutet hatte. Merkwürdig, dachte sie, so groß sah das Haus von außen gar nicht aus. Was sie aber noch mehr beeindruckte, war die Einrichtung des hell erleuchteten Raums. 

 

Auf der linken Seite bildeten mehrere Polstermöbel-Gruppen eine Art Wohnbereich. Gemütlich aussehende Sessel und Sofas, anscheinend lederbezogen, runde Glastische und Pflanz-Container aus Bambus mit hohen Palmen und anderen stattlichen Zimmerpflanzen luden mindestens ein Dutzend Menschen zum Ausruhen und Entspannen ein. Eine Bücherwand und mehrere Vitrinen mit Gläsern, Vasen und Schalen ergänzte die Sitzgruppen. 

 

Die rechte Hälfte des großen Raums, die durch eine Reihe Efeu umrankter, hoher Zimmerbrunnen aus Stein von der linken Hälfte abgrenzt wurde, war eindeutig dem Kulinarischen gewidmet. An einem sehr langen, massiven Holztisch mit Korb-Stühlen konnte stilgerecht gespeist werden. 

 

Ein Stück weiter erstreckte sich eine hochmodern wirkende Küchenzeile, die zwar über die Ausmaße einer Großküche verfügte, trotzdem aber mit ihren hellen Holzflächen, den blau gekachelten Zubereitungsinseln sowie grauen Marmor-Arbeitsplatten edel und gemütlich wirkte. 

 

Anna zog der Küchenbereich in ihren Bann. Fasziniert schlenderte sie an einem überdimensionierten Induktionsherd vorbei, über dem eine große, silberne Abzugshaube schwebte. Vor einem riesigen Kühlschrank halt machend, konnte sie nicht widerstehen und öffnete die Tür. Der Schrank war mit Gemüse, Milchprodukten und vielem mehr prall gefüllt. 

 

Eigentlich müssten hier zehn oder vielleicht sogar zwanzig Menschen wohnen, dachte sie, eine ganze Großfamilie oder eine größere Gruppe von Feriengästen, doch bisher war ihr niemand begegnet. Waren sie etwa alle ausgeflogen? 

 

Anna bemerkte neben dem Kühlschrank eine schmale Tür. Sie war neugierig und wollte sehen, was sich dahinter verbarg. Die Tür führte in einen weiteren, mittelgroßen Raum, in dem ausschließlich Tiefkühlschränke mit gläsernen Türen standen. Fast wie in meinem Supermarkt, staunte sie. 

 

Die Geräte summten geschäftig vor sich hin, und Anna erkannte hinter den durchsichtigen Türen Beutel mit diversen Gemüsen sowie Packungen mit Steaks und anderem Fleisch. Aus einem anderen Gefrierschrank glotzen sie die toten Augen von kleineren und größeren Fischen an. 

 

Anna hatte genug gesehen und verließ diesen Raum wieder. Sie fragte sich, ob sie hier in einem Luxushotel gelandet war. Aber es gab weder einen Empfangsbereich, noch Personal oder Gäste.

 

Diese Blockhütte gab ihr Rätsel auf, aber das war sie ja bereits gewohnt, und so nahm sie sich vor, das Staunen aufzugeben und alles unwirklich Erscheinende als neue Realität zu akzeptieren. 

 

Mal schauen, dachte sie, ob mir das gelingt. Sie öffnete noch einmal den großen Kühlschrank, prüfte den Inhalt und wählte dann eine Salatgurke sowie einen runden, eingeschweißten Bergkäse aus, in der Absicht, sich draußen, vor diesem verrückten Blockhaus, einen kleinen Imbiss zu gönnen. 

 

Sie überlegte, ob sie sich auf den Rand der Pferdetränke setzen sollte. Bevor sie das Haus verließ, holte sie sich noch ein Holzbrettchen und ein Messer aus der gut sortierten Küche.

 

Während Anna auf dem breiten Rand der Tränke saß und sich Käse und Gurke schmecken ließ, hörte sie aufgeregtes Gänsegeschnatter, das vom Teich zu kommen schien. Sie sind also zurückgekehrt, dachte sie und freute sich, so als seien die Vögel liebe, alte Vertraute. Sie überlegte gerade, ob sie die Pumpe betätigen und etwas von dem Wasser trinken solle, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung registrierte. 

 

9.

 

Anna drehte den Kopf und erstarrte. Vor der offenen Blockhaustür stand jemand – oder besser ausgedrückt, dort stand irgendetwas. Anna erinnerte die Gestalt an einen Roboter, so eine metallene Konstruktion, wie sie in frühen Science-Fiction-Filmen herumstolzierte oder als Spielfigur bei Kindern beliebt war.

 

Als sich die schlanke, eckig geformte und silbrig glänzende Figur jetzt behäbig aber recht zackig auf sie zu bewegte, war sie eher irritiert als beunruhigt. Dann fiel ihr Blick auf das Gesicht der Gestalt, und Anna wurde von blankem Entsetzen erfüllt. Im Gegensatz zu seinem metallisch aussehenden, zusammengeschraubten oder -geschweißten Körper verfügte dieser Roboter über ein menschliches Gesicht. 

 

Gruselig war allerdings, das dieses Gesicht aussah, als sei es auf eine Metallkugel geklebt worden. Was Anna allerdings noch gruseliger fand: Es handelte sich eindeutig um das Gesicht von Wonnemeier, Annas Chef, den sie ja mausetot und versteinert in seinem Büro aufgefunden hatte.

 

Und um diese gespentische Szene noch zu intensiveren und Anna total aus der Fassung zu bringen, begann dieses verstörende Wonnemeier-Roboter-Gesicht nun, Anna freundlich anzulächeln, so wie sie es bislang überhaupt noch nicht von ihrem Boss gesehen hatte. 

 

Auf halber Strecke zwischen Blockhaus und Tränke stoppte das Konstrukt und fragte mit der unverkennbaren Stimme des Filialleiters, aber in einem völlig ungewohnten, süßlichen Tonfall: „Darf ich ihnen nach dem Essen einen Espresso oder Cappuccino bringen, meine Liebe?“

 

Erschrocken und verblüfft zugleich verschlug es Anna für einen Moment die Sprache. Dann erinnerte sie sich an ihren Vorsatz. Ich muss auch diese völlig unwirkliche Szene als Wirklichkeit akzeptieren, dachte sie, und von diesem mechanischen Wonnemeier scheint im Moment ja keine Gefahr auszugehen. Also nahm sie sich zusammen und sagte mit leicht vibrierender Stimme: „Ein Espresso wäre toll, herzlichen Dank.“  

 

„Ja gern“, entgegnete der recycelte Wonnemeier, „ich bin gleich wieder zurück“, drehte sich ruckartig um, schritt mit eckigen Bewegungen langsam auf den Blockhauseingang zu und verschwand im Gebäude.  

 

Anna überlegte, ob sie diesem irren Szenario schnellstens den Rücken kehren und einfach abhauen sollte, aber sie wusste nicht, ob es wirkliche eine gute Idee wäre, zurück in den Garten zu flüchten. Was soll ich denn da, fragte sie sich, dort habe ich kein Dach über dem Kopf, und in ein paar Stunden wird es dunkel. So gruselig wie das gerade Erlebte auf sie wirkte, hatte sie doch das Gefühl, dass von diesem Roboter mit dem Gesicht ihres Chefs keine wirkliche Gefahr ausging. 

 

Und diese Hoffnung sowie die Aussicht, in dem luxuriösen Blockhaus eine komfortable Unterkunft zu finden, ließen sie an der Pferdetränke verharren und auf die Rückkehr des verwandelten Wonnemeiers warten. 

 

Nach ein paar Minuten kehrte dieser in seinem ruckartigen Robotergang zurück, ein Tablett mit einer Tasse Espresso, einem Glas Wasser und einer kleinen Schale mit Gebäck in der klauenartigen, metallenen Hand. 

 

Anna war etwas mulmig zumute und regte sich nicht, während Wonnemeier das Tablett direkt neben ihr auf dem Tränkenrand abstellte. „Bitte sehr, gnädige Frau“, flötete er lächelnd, worauf Anna „Danke“ murmelte.

 

„Gern geschehen, Verehrteste“, entgegnete der Roboter, „und ehe  ich es vergesse: Im Gästebereich des Hauses ist ein gemütliches Zimmer für Sie vorbereitet, falls sie müde sein sollten, können sie sich sofort dorthin zurückziehen und sich ausruhen. Sie finden ihr Zimmer im hinteren Teil des Gebäudes, der Raum trägt die Nummer 22. Einfach an der Küche vorbei, und sie sehen dann schon, wo die Gästezimmer beginnen.“

 

Anna brachte nur ein „Okay…“ über die Lippen, ein Wort, in dem ein gehöriger Zweifel mitschwang. Wonnemeier, der bereits auf dem Weg in Richtung See unterwegs war, drehte sich noch einmal um – oder genauer gesagt, nur seine Kopf-Konstruktion drehte sich um hundertachtzig Grad, während sein Körper weiter marschierte. „Und übrigens“, rief er Anna zu, „was das Essen anbelangt, meine Liebe, so werden Sie sich, es tut mit wirklich leid, selbst versorgen müssen, denn des Küchenpersonal ist bereits abgereist. Ich kann mich da nur entschuldigen.“

 

Bevor der seltsame Kopf sich wieder zurück drehte, blitzte in Wonnemeier-Gesicht ein irres Grinsen auf, und aus dem Mund ertönte laut und schrill: „Sie werden schon zurecht kommen, Mylady, da bin ich sicher, schließlich kennen sich ja schon aus.“ Dann ging der Roboter weiter und verschwand hinter den Büschen, während Anna verkrampft auf dem harten Tränkenrand hockte und Mühe hatte, die Informationen zu verdauen. 

 

Plötzlich fiel ihr ein, was sie diesen Robot-Wonnemeier unbedingt noch fragen musste. Sie sprang auf und hastete auf die Büsche zu, hinter denen der See lag. Als sie an der Buschgruppe vorbei gesprintet war, sah sie, dass Wonnemeier schon das Ufer erreicht hatte. 

 

Während sie weiter lief, mittlerweile schon etwas außer Atem, rief sie: „Hallo, warten Sie bitte“. Der Roboter machte keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben, sondern setzte seinen mechanischen Gang einfach fort, so dass sich die beiden Gänse, die sich in der Mitte des Sees befanden, aufgeregt schnatternd in die Lüfte erhoben. 

 

Wonnemeier hatte bereits den kleinen Kies-Strand überquert und stand mit beiden metallenen Füßen im Wasser, als Anna rief: „Nun warten Sie doch bitte, ich möchte Sie etwas fragen.“ 

 

Der Roboter, jetzt schon bis zu den wulstigen Kniegelenken im Seewasser, stoppte und drehte seinen Kopf, so dass er Anna, die am Uferrand stehen geblieben war und heftig nach Luft schnappte, anschauen konnte. „Dann fragen sie bitte“, sagte er freundlich, „aber ich habe nicht mehr viel Zeit.“

 

„Okay“, sagte Anna, „ich möchte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo meine Kollegen und Kolleginnen sind, ich meine natürlich das Supermarkt-Team, das Sie ja leiten – beziehungsweise geleitet haben.“

 

„Ach so“, antwortete er, „die sind alle längst schon unterwegs.“ „Unterwegs wohin?“, fragte Anna. „Das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie diese Menschen wiedersehen werden. Jetzt muss ich aber weiter, entschuldigen Sie bitte.“

 

Während sich sein Kopf zurück nach vorn drehte, setzte Wonnemeier sich wieder in Bewegung und marschierte weiter in den See hinein. Völlig perplex beobachtete Anna, wie er nach einem weiteren Schritt auf einmal abrupt absackte, und nur noch sein merkwürdiger Kopf aus dem Wasser ragte. 

 

Noch einmal drehte sich die Konstruktion um hundertachtzig Grad, und das Wonnemeier-Gesicht verzog sich zu einem breiten  Grinsen. „Leben Sie wohl, meine Liebe“, tönte es süßlich über den See, „meine Mission ist jetzt beendet.“ 

 

Dann war der Roboter mit dem Menschengesicht komplett im Wasser verschwunden, und während an der Stelle, wo die Konstruktion untergetaucht war, ein paar Luftblasen aufstiegen, fragte sich Anna, was denn die Mission dieser irren Gestalt gewesen sein konnte. Warum der Robot-Wonnemeier in den See gegangen war, dafür hatte sie keine Erklärung. 

 

10.

 

Anna erinnerte sich, dass Wonnemeier von einem Zimmer geredet hatte, das angeblich für sie vorbereitet sein sollte. Sie ging zurück zum Blockhaus und trat durch die offene Eingangstür. Der riesige Raum war immer noch menschenleer. Anna lief an der Küche vorbei und sah am Ende des Raumes auf der rechten Seite eine Glastür, neben der ein kleines Schild mit der Aufschrift „Gästezimmer“ befestigt war.

 

Sie öffnete die Tür und betrat einen hell erleuchteten Flur, der sehr lang zu sein schien, denn sie konnte das Ende nicht erkennen. In größeren Abständen erstreckten sich auf beiden Seiten des Korridors massive, mit filigranen Schnitzereien verzierte Holztüren. Die führen bestimmt in die Gästezimmer, dachte Anna. 

 

An den Türen hingen Schiefertafeln, auf denen in Form von kleinen, weißen Muscheln die jeweilige Zimmernummer angezeigt wurde. Das erste Zimmer auf der rechten Seite trug die Nummer 1, doch Anna war ja die Nummer 22 zugeteilt worden, deshalb musste sie noch ein ganzes Stück in diesem Bandwurm-Flur zurücklegen.

 

Sie passierte Raum 13 auf der linken Seite und wunderte sich darüber, dass die Ziffer auf der Schiefertafel nicht wie bei allen anderen Zimmern aus weißen Muscheln zusammengesetzt war, sondern aus runden Gebilden, die Anna an Schafsaugen erinnerte. 

 

Ein leichter Ekel befiel sie, und sie beschleunigte ihre Schritte. Plötzlich hörte sie eine getragene, melancholische Flötenmusik, die aus irgendwelchen verborgenen Lautsprechern kommen musste. Gleichzeitig wurde das grellweiße Licht, das von der Decke flutete, stark gedimmt, und der Farbton wechselte in ein schummriges Blau. 

 

Dieser Flur begann für Anna, unheimlich zu werden, und so war sie froh, endlich das Gästezimmer 22 erreicht zu haben. Sie verharrte einen Moment vor der Zimmertür und blickte den Flur entlang. Dass sie von dieser Stelle aus immer noch kein Ende erkennen konnte, verstärkte ihr Unbehagen noch, obwohl sich das Licht vor wenigen Sekunden wieder auf ein helles Weiß umgestellt hatte und die Panflötenmusik verstummt war.

 

Da sie keinen Schlüssel hatte, hoffte sie einfach, dass die Tür unverschlossen war. Sie hatte Glück, und dann stand Anna in einem großen Raum, der bereits auf den ersten Blick eher einer Suite als einem Blockhaus-Zimmer glich. 

 

In der Raummitte gruppierte sich eine lederne, dunkelrote Polstergarnitur um einen runden, grünlich schimmernden Glastisch. Entlang der rechten Wand erstreckte sich eine lange, gekachelte Bar mit vier lederbezogenen Hockern davor. Bunte Flaschen mit alkoholischen Getränken sowie diverse Gläser reihten sich auf einem langen Regal über der Bar aneinander. 

 

Nach der Bar ließ ein großes Fenster warme Sonnenstrahlen in den Raum fluten. Anna blieb vor dem Fenster stehen und schaute auf den kleinen See, der aus dieser Perspektive wesentlicher  größer erschien. Sie fragte sich, ob es sich wirklich um das Gewässer handelte, in dem der mechanisierte Wonnemeier untergegangen war. 

 

Was sie ebenfalls verwunderte, war die große Schar von Gänsen, die den See bevölkerte. Es müssen mindestens hundert sein, dachte Anna, das ist doch völlig verrückt. Sie entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken und lieber den Raum weiter zu inspizieren.

 

An der linken Wand thronte, umrahmt von zwei stattlichen Palmen in Keramikübeln, ein riesiger Fernseher auf einem Edelholz-Sideboard. Staunend durchschritt Anna den Raum, bis sie an einen halbdurchsichtigen, seidenartigen Vorhang angelangt war, der über die gesamte Raumbreite den Wohn- vom Schlafbereich abteilte, wie sie jetzt erkannte. Sie zog den Vorhang ein Stück zur Seite und blickte auf ein Doppelbett, auf dem eine samtene, bordeauxfarbene Decke lag. 

 

Das Bettgestell schien aus Birkenholz gefertigt zu sein, genau wie der Kleiderschrank, die Kommode und der Wandspiegel-Rahmen, die das Mobiliar des Schlafbereichs ergänzten. Doch was Anna am meisten faszinierte, war der große, hellbraune Ohrensessel, der in der Ecke stand und förmlich zu einer gemütlichen Lesestunde oder einem Nickerchen einlud. 

 

Unweit des Sessels entdeckte Anna eine schmale Tür. Sie führt wahrscheinlich zum Bad, dachte sie – und irrte sich nicht. 

 

Das Badezimmer ließ keinerlei Luxus entbehren. Ein Marmorboden, hellblaue Kacheln, eine große Badewanne, eine geräumige Dusche sowie ein riesiger Spiegel über dem ausladenden Waschbecken boten einen tollen Komfort. Regale mit flauschigen Handtüchern sowie diverse Fläschchen und Dosen mit Shampoos, Badezusätzen und mehr ergänzten die Einrichtung.

 

Für einen Moment hatte Anna sämtliche Irritationen, Bedenken und Ängste, die mit ihrem Trip in die neue Welt verbunden waren, vergessen. Hier könnte ich es glatt ein paar Tage aushalten, dachte sie. Und so es wie es aussieht, sollte es mir an nichts fehlen. 

 

Das einzige Manko, dachte sie, während sie eine kleine Karaffe mit einem orangefarbenen Inhalt öffnete und prüfend daran roch, ist, dass ich selbst kochen muss – und sehr wahrscheinlich niemand für mich den Abwasch erledigt. 

 

11.

 

Anna fiel auf, dass sie immer noch den Bademantel trug. Vielleicht sollte ich einmal nachsehen, ob in diesem Schrank passende Kleider für mich sind, überlegte sie, wundern würde es mich jedenfalls nicht. Und dann sollte ich mir eine Dusche gönnen und mir anschließend etwas zu essen machen. Danach kann ich mir ja immer noch überlegen, wie der weitere Plan aussieht. 

 

Ganz kurz blitzte in Annas Kopf der Gedanke auf, einmal in die anderen Gästezimmer hinein zu schauen, doch sie verwarf diese Idee, nicht nur, weil sie keine Ahnung hatte, in wie viele Räume dieser lange Flur eigentlich führte. Es war die Vorstellung, in diesen Zimmern könnte sich irgendetwas Unheimliches oder Bedrohliches verbergen, die sie davor zurückschrecken ließ, die Räume zu betreten. 

 

Als Anna im Kleiderschrank und in der Kommode nachsah, war sie überwältig von der Fülle an schicken Kleidungsstücken, die sie vorfand, und alles entsprach genau ihrer Größe. Für’s Erste entschied sie sich für etwas Sportliches, Praktisches und wählte Unterwäsche, Jeans, ein T-Shirt, Tennissocken und einen leichten Baumwoll-Pulli aus. 

 

Nach einer ausgiebigen heißen Dusche zog sie ihre neuen Sachen an und legte den Bademantel in den leeren Wäschekorb. Bei der Vorstellung, dass ein Roboter den Mantel abholen und in die Wäscherei bringen würde, musste sie grinsen. Jetzt fang’ ich an zu spinnen, dachte sie – und verspürte auf einmal großen Hunger.

 

Obwohl der riesige Kühlschrank und die Tiefkühltruhen sämtliche Zutaten für ein stattliches Menü bereit hielten, verzichtete Anna darauf, sich etwas Aufwändiges zu kochen. Vielleicht morgen, dachte sie, wenn ich mich nicht mehr so müde fühle. Sie entschied sich für ein Fertiggericht mit Tortellini und erwärmte es in der Mikrowelle. 

 

Ganz allein an dem langen Holztisch zu sitzen und zu essen, kam Anna merkwürdig vor, noch dazu war sie ja der einzige Mensch in diesem großen Raum – und vielleicht sogar in diesem seltsamen, unüberschaubaren Haus. Die für sie ungewohnte Stille verstärkte noch ihre Beklommenheit, und sie überlegte, ob es hier wohl irgendwo ein Radio geben würde, mit dem sie der Stille etwas entgegenzusetzen hätte. 

 

Nach einem Apfel als Dessert hatte sie Mühe, den teuer aussehenden Kaffee-Vollautomaten zu bedienen, doch nach einigem Herumprobieren gelang es ihr, dem Gerät einen vorzüglichen Espresso zu entlocken.

 

Von einer plötzlichen Müdigkeit befallen machte Anna sich mit schweren Beinen auf den Weg zu ihrem Zimmer. Es erschien ihr, als hätte sich im Flur der Abstand zwischen den Gästezimmern enorm vergrößert – und sie deshalb bis zum Raum Nummer 22 deutlich länger unterwegs wäre. Endlich in ihrem Zimmer angekommen ließ sie sich auf das bequeme Bett sinken und schlief sofort ein. 

 

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als irgendetwas sie weckte. Nach einigen Sekunden glaubte sie, ein Schluchzen zu hören – und dann ein intensives Weinen. Sie hatte den Eindruck, das Weinen käme aus dem Nachbarzimmer. Die Wände scheinen hier aber nicht besonders dick zu sein, dachte sie, und ihr war etwas mulmig zumute. 

 

Als das Weinen auch nach einigen Minuten nicht aufhörte, entschloss sich Anna, im benachbarten Raum nachzusehen. Es lässt mir sowieso keine Ruhe, dachte sie, da kann ich der Sache auch lieber gleich auf den Grund gehen. Die Chance, in diesem verrückten Haus doch noch auf einen anderen Menschen treffen zu können, machte ihr Mut.

 

Als Anna ihr Zimmer verließ, war der Flur in ein gelblich-fahles Licht getaucht. Sie wandte sich nach rechts, wo sich der Raum befand, aus dem das Weinen gekommen war. An der Tür angelangt war sie sicher, dass sie mindestens dreißig Meter gegangen sein musste. 

 

Das ist nicht normal, dachte sie, etwas völlig Merkwürdiges geht hier vor – und erhielt gleich noch eine Bestätigung für ihre Vermutung, denn auf der Schiefertafel an der Gästezimmer-Tür stellten die kleinen, weißen Muscheln nicht die Nummer 24 dar, wie es eigentlich logisch wäre, sondern die Nummer 26. 

 

Irre, dachte Anna, man könnte direkt glauben, das Zimmer 24 sei verschwunden, doch als sie hörte, wie ein verzweifelt klingendes Weinen durch die Tür drang, erinnerte sie sich wieder daran, warum sie hierher gekommen war.

 

12.

 

Anna klopfte an die Tür, und sofort hörte das Weinen auf. Anna drückte die altmodische Klinke herunter und merkte, dass die Tür nicht verschlossen war. Vorsichtig öffnete sie die Holztür so weit, bis sie durch einen Spalt in den Raum blicken konnte.

 

Da das Zimmer nur spärlich beleuchtet war, konnte sie zunächst lediglich erkennen, dass in einem einsam an der linken Wand stehenden klobigen Sessel eine Gestalt saß. „Hallo?“, sagte Anna zaghaft und machte ein paar Schritte in den Raum hinein.

 

Mit schreckgeweiteten, tränennassen Augen blickte die Person, die jetzt aufgestanden war und kerzengerade vor dem Sessel stand, Anna an und hielt sich dabei die rechte Hand vor den Mund. 

 

Anna sah, dass es sich um eine Frau handelte, eine noch relativ junge Frau mit langen, blonden Haaren. Vorsichtig näherte sie sich der Frau noch ein wenig – und da erkannte sie, dass es ihre Arbeitskollegin Kathrin war, oder aber eine täuschend echt aussehende Replik. Nach ihren bisherigen Erlebnissen wollte Anna das nicht ausschließen. 

 

Trotz ihrer Skepsis durchströmte sie ein warmes Gefühl der Freude. „Kathrin“, stieß sie hervor, „bist du es wirklich? Aber was ist denn dann mir dir, warum weinst du?“

 

Ungläubig starrte Kathrin Anna an, doch dann schien sie ihre Supermarkt-Kollegin zu erkennen, denn ihr angsterfülltes Gesicht entspannte sich und ein strahlendes Lächeln breitete sich aus. „Anna“, rief sie, „ist denn das zu fassen? Woher kommst du denn auf einmal? Ich dachte, dass ich die einzige Menschenseele in diesem Geisterhotel bin.“

 

„Das dachte ich auch“, entgegnete Anna, stürmte auf sie zu und umarmte sie. Eine lange Zeit hielten sie sich eng umschlungen, und keine sagte ein Wort. Über Kathrins Wangen rollten wieder Tränen, doch jetzt waren es Tränen der Erleichterung und Freude. „Ich habe mich einfach so einsam gefühlt und war schon völlig verzweifelt“, sagte Kathrin und lächelte zaghaft.

 

Anna ergriff Kathrins Hand und sagte: „Komm“. Widerstandslos ließ Kathrin sich von ihrer Kollegin aus dem Raum ziehen. „Lass mich dich zu einem Kaffee einladen“, meinte Anna. 

 

Während die beiden Hand in Hand durch den Bandwurm-Flur in Richtung Küche gingen, schaute Anna besorgt in Kathrins blasses Gesicht und sagte: „Gleich musst du mir aber erzählen, was mit dir passiert ist, was du erlebt hast. Und ob du auf dem selben Weg hierher gekommen bist wie ich. Vielleicht weißt du ja auch etwas über die anderen aus unserem Team. Berichte mir einfach alles, was du weißt.“

 

„Ja natürlich“, sagte Kathrin und drückte Annas Hand fest. „Aber von dir will ich auch wissen, was dir alles widerfahren ist.“

 

Zehn Minuten später saßen sie im Wohnzimmerbereich nebeneinander auf einem der großen Ledersofas. Die zwei Tassen Cappuccino auf dem gläsernen Couchtisch verströmten ein verführerisches Aroma.

 

Kathrin wirkt noch ziemlich angeschlagen, dachte Anna, ich glaube, sie braucht noch etwas Zeit, bis sie in der Lage ist, zu erzählen, was sie erlebt hat. Ich hoffe nicht, dass es allzu schreckliche Dinge waren. Vielleicht ist es besser, wenn ich den Anfang mache.

 

Und so berichtete Anna von der seltsamen Veränderung des Supermarktes, von dem versteinerten Wonnemeier, vom mysteriösen Hallenbad, von ihrem abenteuerlichen Weg zu diesem seltsamen Blockhaus und ihrer Begegnung mit ihrem Chef in Roboter-Gestalt sowie dessen verrücktem Abgang.

 

Mir regungslosem Gesicht hörte Kathrin zu, auch als Anna ihr die gruselige Entdeckung ihres toten Vorgesetzten in seinem Büro detailliert schilderte. Am Ende ihres Berichtes hatte Anna den Eindruck, als würde das Erzählte ihre Kollegin überhaupt nicht schockieren. Sie scheint sich nicht einmal darüber zu wundern, dachte Anna. 

 

Sie füllte ihre Tassen noch einmal mit frischem Kaffee aus dem Automaten auf, während Kathrin schweigend und nachdenklich auf dem Sofa saß. Als Anna die Tassen auf den Couchtisch stellte, wirkte Kathrin allerdings relativ entspannt. Während Anna  vorsichtig einen Schluck von ihrem heißen Cappuccino nahm, sagte sie: „Also jetzt musst du aber berichten.“ 

 

„Ja okay“, meinte Kathrin, „aber wo soll ich denn bloß beginnen?“ „Fang doch dort an“, schlug Ann vor, „wo du zum ersten Mal bemerkt hast, dass irgendetwas Seltsames in unserem Supermarkt vor sich geht.“

 

„Na gut“, sagte Kathrin und überlegte einen Moment. „Ich glaube, es war kurz nach Zwölf, als ich mal zur Toilette musste. Beim Händewaschen fiel mir so ein merkwürdiges Summen auf, ein Geräusch, wie ich es bei uns noch nie gehört hatte, und es kam eindeutig aus dem Verkaufsraum. Es war ziemlich laut, doch nachdem ich mir die Hände getrocknet hatte, stellte ich fest, dass es aufgehört hatte.

 

Vielleicht haben sie ja eine neue Alarmanlage getestet, dachte ich, doch erst später kam ich auf die Idee, dass es einen Zusammenhang mit dem, was ich dann gesehen habe, geben könnte.“ 

 

„Was hast du denn gesehen?“, fragte Anna, und ihre Ungeduld konnte man in ihrer Stimme mitschwingen hören. „Ist auf der Toilette irgendetwas geschehen?“ „Nein, nein“, erwiderte Kathrin, „erst, als ich bereits das Klo verlassen hatte. Vielleicht wirkt das jetzt ziemlich unglaubwürdig auf dich, was ich erzähle, aber es war ja wirklich völlig verrückt, fast gespenstisch, was da passiert ist, wie aus einem Science-Fiction-Film, aber einem gruseligen.“

 

13.

 

Anna war jetzt gespannt und aufgeregt zugleich. „Erzähl weiter“, forderte sie ihre Kollegin auf, die jetzt ihre Kaffeetasse zum Mund führte und irritiert feststellte, dass sie leer war.

 

„Als gut, Anna. Als ich aus dem Klo kam, sah ich als Erstes, wie Helena dabei war, neue Ware in den unteren Teil des Kaffee-Regals einzuräumen. Sie hatte sich gerade wieder aufgerichtet, da wurde sie plötzlich von einem blauen Licht umgeben, das wie eine durchsichtige Wolke und sie herum waberte. Mir fiel auf, dass sich Helenas Gesichtsausdruck mit einem Mal völlig veränderte, während sie stocksteif da stand. Sie zog eine schreckliche Grimasse, und dann sah es so aus, als würde ihr Gesicht in Sekundenschnelle von einer reptilienartigen, grünen Haut überzogen werden. Währenddessen war wieder dieses seltsame Summen zu hören, es schien von überall her zu kommen. Ich hörte noch, wie Helena laut stöhnte – und plötzlich war sie weg, zusammen mit dem blauen Licht. Zack, einfach verschwunden. Und das Summen hatte auch wieder aufgehört.“

 

Kathrin machte eine Pause, und Anna sah am Ausdruck ihrer Augen, dass der Schock über das Erlebte noch nicht überwunden war. „Und was hast du dann gemacht?“, fragte sie.

 

„Ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder halbwegs gefasst hatte. Eine schreckliche Angst hatte ich natürlich auch. Ich bin dann durch die Gänge in Richtung Ausgang gelaufen, wahrscheinlich war es einfach ein Fluchtreflex. Als ich merkte, dass die automatische Schiebetür sich nicht öffnete, war ich völlig überrascht und auch ziemlich geschockt. Und während ich mich noch ein paar Mal vergeblich im Bereich des Tür-Sensors hin und her bewegt habe, wurde mir schlagartig klar, dass mir auf meinem Weg bis zur Tür überhaupt niemand begegnet war. Kein einziger Mensch. Das war dann verdammt umheimlich und hat mir auch einen tüchtigen Schrecken eingejagt, weil ich mich ja gefragt habe, wohin denn plötzlich alle verschwunden sind. Und dann, dann …“

 

Kathrin versagte die Stimme. Anna sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie rückte ganz nah an ihre Kollegin heran, legte beruhigend einen Arm um sie und fragte: „Was war dann, Kathrin, was?“ 

 

Kathrin schluckte und wischte sich mit den Handflächen Tränen von den Wangen. Mit brüchiger Stimme sagte sie: „Dann fing wieder dieses schreckliche Summen an, und mir wurde auf einmal sehr kalt. Ich fühlte mich plötzlich wie unter Wasser, so als würde ich im Meer tauchen und zur Wasseroberfläche schauen. Alles war ziemlich verschwommen und in ein bläuliches Licht getaucht.“ 

 

Sie machte wieder eine Pause, trocknete sich mit dem Taschentuch, das Anna ihr gereicht hatte, die Augen und fuhr fort. „Dann merkte ich, wie ich müde wurde, furchtbar müde, und ich spürte einen kräftigen Sog, der mich nach unten zog, runter zum Meeresgrund. Mein letzter Gedanke war, dass ich jämmerlich ertrinken werde, und dann muss ich wohl bewusstlos geworden sein. Aufgewacht bin ich dann in diesem Obstgarten, von dem du ja auch erzählt hast. Ich lag unter einem großen Apfelbaum im Gras, war ganz verwirrt und habe mich gefragt, wie ich in Teufels Namen hierher gekommen bin. Ich habe alles zunächst für einen verrückten Traum gehalten, doch nach einigen Minuten musste ich es wohl oder übel als Realität anerkennen.“ 

 

Anna schwieg eine ganze Weile, während Kathrin erschöpft die Augen schloss. Erst als Anna meinte, „ich glaube, du hast verdammtes Glück gehabt“, öffnete Kathrin wieder ihre Augen, blicke Anna mit einem zaghaften Lächeln an und sagte: „Ich denke, wir haben beide sehr viel Glück gehabt, aber du hast eindeutig den weiteren Weg bis hierhin zurückgelegt.“

 

„Ach was“, entgegnete Anna, „auf jeden Fall sollten wir jetzt das Beste aus unserer Situation machen.“ Kathrin nickte zustimmend, drückte wie zur Bestätigung Annas Hand und fragte: „Hast du eine Ahnung, was mit den Anderen passiert sein könnte, mit allen, die verschwunden sind?“ 

 

„Nicht wirklich“, antwortete Anna, „allerdings habe ich schon einmal überlegt, ob unsere Kollegen und Kunden nicht vielleicht die Gäste in diesem verrückten Haus waren, von denen der zum Roboter gewordene Wonnemeier gesprochen hat. Aber auch wenn sie wirklich hier gewohnt haben sollten, wohin und wie sie dann weitergereist sind, das weiß ich nicht.“ 

 

„Vielleicht wurden sie ja von Außerirdischen entführt und werden jetzt auf einem fernen Planeten als Sklaven gehalten“, meinte Kathrin und grinste. „Und die Aliens sind Reptilienwesen“, erwiderte Anna, „ich denke, meine Liebe, du hast zu viele Science-Fiction-Romane gelesen“. Doch dann seufzte sie und murmelte: „Aber wer weiß …“

 

14.

 

„Sag mal, hast du eigentlich dein Handy dabei?“, fragte Anna. „Ja schon, und ich habe auch schon versucht, meine Eltern zu erreichen, aber ich habe überhaupt kein Netz, alles ist tot, man könnte meinen, wir sind hier auf einem fernen Planeten.“ 

 

„Dann brauche ich mich ja nicht darüber ärgern, „erwiderte Anna, „dass ich mein Smartphone, das in meiner Jacke steckte, im Hallenbad liegen gelassen habe.“ 

 

Katrin nickte zustimmend. Sie wirkte jetzt wesentlich munterer als noch vor einigen Minuten. „Meinst du Anna, dass es für uns noch eine Chance gibt, zurückzukehren, im meine, wieder nach Hause zurückzukommen?“

 

„Wenn ich ehrlich bin, sehe ich da im Moment keine Möglichkeit“, sagte Anna, „ich habe dir ja erzählt, wie das Hallenbad, durch das ich gelaufen bin, plötzlich verschwunden war. Ich fürchte, wir müssen uns hier für eine Weile häuslich einrichten. Wenn wir Pech haben, vielleicht auch für immer.“

 

„Keine schöne Vorstellung“, meinte Kathrin, „aber würde es dich wirklich völlig unglücklich machen, wenn es so wäre, wenn du davon ausgehen müsstest, bis zum Ende deiner Tage an diesem merkwürdigen Ort zu bleiben – und nie mehr zu deinen Freunden und deiner Familie zurückkehren zu können?“

 

Anna überlegt kurz, doch dann klang Entschlossenheit und Aufrichtigkeit in ihrer Antwort mit. „Offen gesagt, könnte ich mir eine schlimmere Katastrophe vorstellen. Meine Eltern sind beide tot, ich habe keine Kinder, und mit meinem Lebensabschnittsgefährten, der mich nur belogen und betrogen hat, habe ich vor einiger Zeit gottseidank endgültig Schluss gemacht. Meine Freunde, ich meine damit Freunde, auf die man sich wirklich verlassen kann, sind entweder ausgewandert oder haben mich völlig enttäuscht, weil sie über Nacht zu der Ansicht gelangt sind, der Umgang mit einer Supermarktverkäuferin schade ihrem öffentlichen Ansehen. Und was meinen Job angeht, den werde ich sicherlich nicht vermissen. Aber wie steht es denn mit dir Kathrin, wäre es für dich eine Horrorvorstellung, an diesem Ort für eine längere Zeit bleiben zu müssen?“

 

„Ja schon“, meinte Kathrin, „vor allem, weil meine Eltern ja überhaupt nicht wüssten, was mit mir passiert ist. Auch wenn wir nicht das beste Verhältnis haben, ich bereits vor einigen Jahren von zu Hause ausgezogen bin und wir uns nicht mehr häufig sehen, fände ich das schon sehr hart. Was meinen Freundeskreis anbelangt, da würde es mir nicht sonderlich schwer fallen, eine Zeitlang auf diese ziemlich selbstsüchtigen Nasen zu verzichten. Und einen festen Freund oder Partner habe ich bislang noch nicht gefunden, vielleicht, weil ich da auch durchaus gewisse Ansprüche habe. Vermissen würde ich auf jeden Fall meinen Wellensittich, die Aussicht, dass sich niemand mehr um ihn kümmern würde, macht mich jetzt schon ganz traurig.“

 

„Das kann ich mir vorstellen“, meinte Anna, „aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir beide nicht gerade in völlige Verzweiflung geraten würden, wenn wir hier längere Zeit leben müssten. Schließlich haben wir ein komfortables Haus mit reichlich Vorräten, einen traumhaften Obst- und Gemüsegarten in der Nähe und sogar einen See hinter dem Gebäude.“

 

„Das stimmt schon, Anna, aber wir wissen nicht, ob das alles so bleibt. Wir können nicht ausschließen, das sich zu jeder Zeit irgendetwas ändert, da hast du ja selbst bereits einige überraschende Erfahrungen gesammelt.“

 

„Dieses Risiko werden wir wohl oder übel eingehen müssen“, entgegnete Anna, „aber irgendwie glaube ich, dass die Mächte, die bisher am Werk waren, sich inzwischen verabschiedet haben, wo auch immer sie hin entschwunden sind – und dass sie nicht mehr zurückkehren. So wie der Wonnemeier-Roboter, auch wenn dessen sehr irdischer Abgang vielleicht kein Maßstab ist. Auf jeden Fall bin ich in einer optimistischen Stimmung, und das ist gut so.“

 

„Das ist sogar sehr gut, Anna“, meinte Kathrin, „ich glaube, du hast mich jetzt schon ein wenig mit deiner positiven Stimmung angesteckt. Und die Aussicht, hier nicht mehr allein sein zu müssen, ist einfach wunderbar. Denn am schlimmsten für mich war die Einsamkeit in den letzten vier Wochen.“

 

Anna stutze. „Wieso vier Wochen?“, fragte sie, „du kannst unmöglich schon so lange hier sein, schließlich bin ich ja erst heute angekommen – und ich war nur ein paar Stunden unterwegs.“

 

Kathrin war verwirrt. „Vielleicht irre ich mich ja auch, aber das ist doch jetzt gar nicht so wichtig, Anna, Hauptsache wir beide halten zusammen. Wie fändest du es, wenn wir zusammen in eines dieser großen Apartments ziehen?“

 

„Das ist keine schlecht Idee, du könntest zu mir ziehen“, meinte Anna und nahm sich vor, das Thema mit der anscheinend recht unterschiedlichen Zeitempfindung nicht mehr anzusprechen. Stattdessen fiel ihr wieder eine Frage ein, die sie ihrer jungen Kollegin schon vorhin hatte stellen wollen. 

 

„Sag mal, Kathrin, kann es sein, dass dein Erlebnis im Supermarkt, als dieses blaue Licht erschien, wo du dachtest, du würdest im Meer versinken und dann auf einmal im Obstgarten aufgewacht bist, dass dies alles drauf hindeuten könnte, irgendetwas bei deiner Verwandlung oder deinem Transport habe nicht richtig funktioniert?“

 

„Das ist natürlich möglich“, meinte Kathrin, „aber dann müsste bei dir ja auch irgendetwas schief gelaufen sein, schließlich bist du ja auch hier geblieben, so wie ich – im Gegensatz zu allen anderen, denn die sind ja verschwunden. Vielleicht hat man uns ja mittlerweile vergessen, und wir hören nie mehr etwas von den Aliens oder den seltsamen Wesen, die für alles, was hier passiert, verantwortlich sind.“

 

„Vielleicht“, sagte Anna, „das wäre auf jeden Fall sehr wünschenswert. Aber jetzt lass uns doch einmal in meinem Zimmer nachsehen, ob im Schrank nicht auch für dich ein paar nette, passende Klamotten liegen, schließlich arbeitest du im Moment ja nicht im Supermarkt und kannst deshalb ruhig deine Dienstkleidung ablegen. Ich hoffe nur, dass der Weg zum Raum 22 nicht noch länger geworden ist.“

 

Kathrin war einverstanden, und als sie mit Anna durch den Gästezimmer-Flur ging, erschien alles ganz normal, und die Abstände zwischen den Zimmern waren wieder auf das frühere Maß geschrumpft. In Annas Kleiderschrank fand sie eine passende Jeans und ein schickes Sweatshirt, und ihr Vorschlag, in der großen Küche zusammen ein leckeres Abendessen zu kochen, stieß bei Anna auf Wohlwollen.

 

15.

 

Während sie in der Küche aus vielen Zutaten eine fantasievolle Mahlzeit zubereiteten, hellte sich die Stimmung der beiden Frauen deutlich auf. Als sie dann später am großen Tisch saßen, sich das gemeinsam Zubereitete schmecken ließen und mit einem Glas Rotwein anstießen, war ihre Laune prächtig. 

 

„Es ist ja fast wie im Urlaub“, meinte Kathrin, „es fehlt nur noch der Kellner“, und sie schlug vor, am nächsten Morgen, wenn sie ausgeruht waren und gut gefrühstückt hatten, einen Ausflug in den riesigen Garten zu machen. „Wir könnten doch etwas frisches Gemüse und Obst ernten“, sagte sie, „vielleicht finden wir hier ja irgendwo einen Korb oder eine große Tasche.“

 

„Und wenn das Wetter schön ist, legen wir uns nach der Ernte ins Gras und schauen zu, wie die Wolken vorüberziehen“, ergänzte Anna. „Wir verscheuchen alle trüben Gedanken und verbannen sämtliche Ängste.“ „Eine sehr gute Idee“, stimmte Kathrin zu, „das klingt wie der perfekte Einstieg in unsere gemeinsame Zukunft in dieser seltsamen neuen Welt.“ 

 

Annas und Kathrins positive Stimmung hielt auch in den nächsten Tagen an. Die Arbeitskolleginnen verstanden sich so gut, als seien sie schon seit Jahren die engsten Freundinnen. Ihre traumatischen Erlebnisse rückten mehr und mehr in den Hintergrund, und von befürchteten Veränderungen oder bösen Überraschungen war keine Rede mehr.

 

Das Duo genoss die Vorzüge und Annehmlichkeiten der komfortablen Unterkunft und reizvollen Umgebung. Anna und Kathrin arbeiteten im Gemüsegarten, pflückten Beeren und Obst, nutzten die moderne Küche des Blockhauses sowie die scheinbar endlosen Vorräte – und sie kreierten die fantasievollsten Gerichte.

 

Nachdem Kathrin in einer Schrankwand des Wohnbereichs eine stattliche Romansammlung entdeckt hatte, sorgte die ein oder andere Lektürestunde für weitere Abwechslung. In einem kleinen Schuppen auf der Rückseite des Hauses fand Anna bequeme Liegestühle, so dass sie und Kathrin nach der Gartenarbeit oder einem üppigen Mahl wunderbar unter einem schattigen Baum in Nähe des Blockhauses relaxen konnten. 

 

Weil das Wetter gleichbleibend warm und sonnig war, badeten sie täglich im See, allerdings blieb Anna stets in Ufernähe, sie scheute sich davor, weiter hinaus zu schwimmen, um nicht an die Stelle zu gelangen, wo der Wonnemeier-Roboter versunken war. 

 

Nach einer Woche hatten sich Anna und Kathrin bestens mit ihrem unfreiwilligen Aufenthalt im Blockhaus arrangiert. Zwar erlebte Kathrin immer wieder traurige Momente, wenn sie an ihren Wellensittich denken musste, doch jedes Mal gelang es Anna, ihre Kollegin aufzumuntern oder von ihrem Kummer abzulenken. 

 

„Du hast doch jetzt mich“, sagte sie lächelnd, als Kathrin am achten Tag ihrer neuen Freundschaft beim Abendessen plötzlich feuchte Augen bekam und ihr das Unglück ins Gesicht geschrieben stand. „Stell dir vor, du müsstest hier ganz allein leben und würdest Tag für Tag ein Stück mehr in deiner Einsamkeit versinken. Also Kathrin: Kopf hoch! Und morgen sollten wir vielleicht einmal den Gemüsegarten links liegen lassen und eine kleine Wanderung um den See machen. Ich bin wirklich neugierig darauf zu sehen, was sich hinter dem anderen Ufer verbirgt – oder …“, und jetzt grinste sie schelmisch, „ob da die schöne, neue Welt zu Ende ist.“ 

 

Kathrin war einverstanden, und als Anna noch einige unernste Vorschläge machte, was sich ihrer Ansicht nach hinter dem See befinden könnte – neben einem Campingplatz nannte sie ein Autokino, ein Mohnfeld und eine Minigolf-Anlage – da musste sie lachen, und ihre Traurigkeit war wie weg geblasen. Allerdings wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der geplante Ausflug gar nicht stattfinden würde.

 

Der nächste Morgen hatte wieder den herrlichsten Sonnenschein  zu bieten, und die beiden Frauen beschlossen, draußen vor der Blockhütte zu frühstücken. Aus dem großen Gartenzubehör-Sortiment im Schuppen hinter dem Haus wählten sie einen kleinen Klapptisch und zwei leichte Campingstühle aus und stellten die Möbel neben die Pferdetränke. 

 

Nach einer erholsamen Nacht waren sie gut gelaunt und ließen sich Croissants schmecken, die sie im Tiefkühlschrank entdeckt und im Ofen aufgebacken hatten. Dazu tranken sie Milchkaffee aus großen Keramikbechern. Anna schlug vor, das Frühstück noch mit etwas Vitaminhaltigem abzurunden, und ging ins Haus. 

 

Im Küchenbereich stand ein großer Weidenkorb mit Obst, das sie am Vortag geerntet hatten. Anna legte ein paar Pfirsiche, Äpfel, Pflaumen und Aprikosen in eine Glasschüssel und verließ mit dem Obst wieder das Blockhaus. 

 

Bereits nach den ersten Schritten fiel ihr auf, dass sich am Himmel eine gelblich-fahle Wolkenschicht ausgebreitet hatte und die Sonne nicht mehr zu sehen war. Sie wollte gerade die Schüssel auf dem Campingtisch abstellen, als sie plötzlich das Gefühl hatte, dass irgendwas nicht stimmte. 

 

Gekrümmt, die Augen weit aufgerissen stand Kathrin vor dem Campingstuhl und presste die Hände auf ihre Ohren. Fast hätte Anna die Glasschüssel mit dem Obst fallen gelassen. 

 

„Mensch Kathrin“, rief sie erschrocken, „was ist denn passiert?“ Doch statt zu antworten stieß Kathrin nur ein leises Wimmern aus. Während Anna die Schüssel auf dem Klapptisch abstellte, bemerkte sie, dass Kathrins Beine stark zitterten und ihr Körper zu schwanken begann. Anna reagierte schnell, machte einen Satz auf ihre Kollegin zu und konnte gerade noch verhindern, dass sie umfiel. 

 

Sie packte die schlotternde Kathrin unter den Achseln und musste all ihre Kraft aufwenden, um sie in den Campingstuhl zu setzen. Ein plötzlich ertönendes lautes Summen über ihr ließ Anna den Kopf heben, doch sie konnte weder einen Bienenschwarm noch irgendetwas anderes erkennen, was für das Geräusch verantwortlich sein mochte. Als sie ihren Blick wieder auf Kathrin richtete, bekam sie einen Schock. 

 

16.

 

Um Kathrin hatte sich eine Art bläuliche Wolke gebildet, die wie ein Gas um sie herum wirbelte. Dann stoppte die Bewegung, und das durchsichtige Gebilde schmiegte sich wie ein Schleier an ihre Kollegin. 

 

Wie gebannt stand Anna neben dem Klapptisch und beobachtete ängstlich, was mit Kathrin geschah. Doch erst die Veränderung in Kathrins Gesicht löste Entsetzen bei ihr aus. Schockiert rief sie „Oh Gott“, als sie sah, dass sich bereits ein dunkelgrünes, zerfurchtes und lederartiges Gebilde wie eine Maske oder eine zweite Haut über Kathrins untere Gesichtshälfte gezogen hatte. Ihr Mund sah aus wie die klaffende Wunde in dem Rücken eines Krokodils.

 

Wenige Sekunden später war Kathrins Gesicht vollkommen von der Reptilien-Haut bedeckt. Anna, die sich angesichts der schrecklichen Verwandlung immer noch nicht bewegt hatte, sah, dass Kathrins Augen aus der grünen Lederschicht heraus gelb leuchteten. Dann gab Kathrin ein tiefes Seufzen von sich, ein Geräusch, bei dem nach Annas Empfinden ein Bedauern mitklang – und auch eine Erleichterung.

 

Wie gruselig, dachte Anna und bemerkte, wie die blaue Aura rund um Kathrins Körper wieder in Bewegung geriet. Gleichzeitig fiel ist auf, dass das seltsame Summen, das jetzt von überall her zu kommen schien, an Lautstärke zugenommen hatte. 

 

Anna fühlte sich so hilflos wie noch nie in ihrem Leben. Doch obwohl sie vollkommen entsetzt war, versuchte sie, ihre Angst abzuschütteln und machte einen Schritt auf Kathrin zu. 

 

Vielleicht sollte ich sie einfach umarmen, dachte sie, aber als sie sah, wie Kathrins Augen mit einem ploppenden Geräusch aufplatzten, eine gelbe Masse aus den Augenlöchern quoll und über das reptilienartige Gesicht lief, verharrte sie auf der Stelle, stieß einen schrillen Schrei aus und merkte, dass sie kaum mehr Luft holen konnte. 

 

Während sie noch versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen und wieder gleichmäßig zu atmen, verschwand Kathrin – genauso wie das durchdringende Summen und der blaue, gasartige Lichtschein, der sie umgeben hatte. 

 

Der Campingstuhl, auf dem ihre Kollegin gerade noch gesessen hatte, war leer, und nichts deutete darauf hin, dass sie hier noch vor einer Minute gemütlich gefrühstückt und sich auf ein Ausflugsabenteuer gefreut hatte. Es schien fast so, als habe Kathrin überhaupt nicht existiert. Doch natürlich wusste Anna es besser.

 

Fassungslos ließ sie sich auf den zweiten Stuhl fallen – und sie gab sich keine Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Die Annahme, dass sie ihre Kollegin sehr wahrscheinlich nie wieder sehen würde, lastete wie ein Stein auf ihrer Brust und schnürte ihr die Kehle zu. 

 

Zwar kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht das nächste Opfer dieser grausamen Verwandlung und des plötzlichen Verschwindens werden könnte, doch im Moment war ihr das egal. Es machte ihr keine Angst, allerdings fürchtete sie sich vor der Einsamkeit, mit der sie jetzt wohl leben müsste, falls man ihr überhaupt noch eine Lebenszeit zugestehen sollte. 

 

Anna bemerkte, dass sich die dichte Wolkendecke am Himmel geöffnet hatte und die Sonne wieder ihre warme Strahlen auf die Erde sandte, doch das konnte ihre düstere Stimmung nicht lindern. Noch lange Zeit verharrte sie, von schweren Gedanken bedrängt, regungslos auf dem unbequemen Stuhl, doch dann hörte sie ein lautes, aufgeregtes Gänsegeschnatter, und dieses Gelärme wirkte auf sie wie ein Weckruf. 

 

Sie stand auf, ergriff die Schüssel mit dem Obst und schleuderte das gläserne Gefäß gegen die steinerne Tränke, wo es lautstark in tausend Stücke und Splitter zerbarst. Dann ging sie ins Haus, durchquerte den Wohnbereich und stoppte an der Bar. Aus dem reichhaltigen Spirituosen-Sortiment auf dem Wandregal wählte sie eine Flasche mit hochprozentigem Bourbon aus und füllte ein Longdrink-Glas mit dem Schnaps. 

 

Während Anna das Glas hob, sagte sie mit fester, klarer Stimme: „Auf dich, Kathrin, und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja doch bald wieder, dann aber wahrscheinlich in einer völlig anderen Welt.“ Sie leerte das Glas in einem Zug, füllte es noch einmal auf und nahm es mit auf ihrem Weg zum Gästezimmer 22, der ihr wieder viel länger vorkam als das letzte Mal. 

 

17.

 

Die Wirkung des für Anna ungewohnten Alkohols ließ nicht lange auf sich warten, und so legte sie sich am Vormittag ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, dass sie sich auf einem Floß in der Mitte eines großen Flusses befand, umringt von riesigen Krokodilen. Als plötzlich ein Sturm aufkam, ließen die heftigen Böen das kleine Floß hin und her schwanken, so dass Anna befürchten musste, jede Sekunde könnten Wind und Wellen das Holzkonstrukt zum Kentern bringen.

 

Erst am späten Nachmittag wachte Anna auf. Sie hatte Kopfschmerzen und verspürte einen großen Durst. Ein paar Minuten lang war sie noch in dem schrecklichen Traum gefangen, doch als sie wieder in der Wirklichkeit angekommen war, ging es ihr keineswegs besser – im Gegenteil. 

 

Die Erinnerung an Kathrins gruselige Verwandlung und ihr plötzliches Verschwinden setzten ihr zu, aber nach reichlich Mineralwasser, zwei Tassen mit starkem Kaffee und einer Packung Salzstangen befahl ihr eine innere Stimme, nach vorn zu blicken und nicht in Trauer zu erstarren. 

 

Vielleicht wäre es klug, diesen schrecklichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, dachte sie. So komfortabel dieses Haus auch war, nach dem Vorfall mit Kathrin schien es ihr kein sicherer Ort mehr zu sein, und sie fand das seltsame Blockhaus noch viel unheimlicher und beängstigender als bei ihr Ankunft. 

 

Allerdings wusste Anna nicht, wohin sie gehen sollte. Das andere Ufer des Sees zu erkunden, schien ihr keine gute Idee mehr zu sein. Wer weiß, welch’ lebensfeindliche Landschaft sich hinter dem Gewässer verbirgt, dachte sie. 

 

Aber warum soll ich mich nicht einfach auf den Rückweg machen, dorthin gehen, wo ich hergekommen bin? Je länger sie darüber nachdachte, desto sympathischer erschien ihr dieser Gedanke. Sie sah sich schon durch die Obstplantage und den Gemüsegarten wandern und den Bach über die kleine Brücke überqueren. 

 

Anna war klar, dass dann ein spannender Moment käme, denn am Bach hätte sie einen guten Blick auf die Stelle, wo das Hallenbad gestanden hatte. Vielleicht habe ich mir ja nur eingebildet, dass es verschwunden ist und ich dort nur einen dunklen Wald gesehen habe, dachte sie. Schließlich waren meine Nerven zu diesem Zeitpunkt schon arg strapaziert. 

 

Ich werde es herausfinden, nahm Anna sich vor – und spürte auf einmal, wie sie von einem starken Optimismus erfüllt wurde. Es kann gar nicht anders sein, dachte sie, das Hallenbad existiert, und ich werde es schaffen, mit dem Aufzug wieder die dreizehnte Etage zu erreichen, wo ich dann den Rückweg zum Supermarkt antreten kann. 

 

Die Vorstellung, sie würde an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und alles wäre noch genau so, wie es vor ihrer Pause gewesen war, ließ sie lächeln.

 

Warum eigentlich nicht, dachte sie, an der Kasse löse ich Helena, die mich vertreten hat, wieder ab, mache wie gewohnt meinen  Job – und alles ist wieder ganz normal. Ich wundere mich höchstens darüber, dass ich wohl in meiner Pause eingeschlafen sein muss und solch ein verrücktes Zeug geträumt habe.

 

Annas Entschluss stand fest. Gleich morgen früh mache mich auf den Weg, dachte sie, dann werde ich einfach aus diesem Alptraum erwachen – und der ganze Spuk ist vorbei.

 

18.

 

Nachdem Anna am späten Abend ins Bett gegangen war, lag sie noch lange wach und wusste nicht, ob sie sich die knackenden und wispernden Geräusche, die sie hörte und die aus dem Flur zu kommen schienen, nur einbildete – oder ob sie real waren. Langsam fang ich an zu spinnen, dachte sie, es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass ich mich auf den Heimweg mache. 

 

Am nächsten Morgen war sie bereits kurz nach Sonnenaufgang auf den Beinen. Nach höchstens drei Stunden Schlaf fühlte sie sich alles andere als ausgeruht, doch ein starker Kaffee und die Aussicht, diesen Ort bald verlassen zu haben, sorgten dafür, dass ihre Lebensgeister zurückkehrten. 

 

Da sie nicht wusste, wie lange ihr geplanter Rückweg wirklich dauern würde, hatte sie am Abend zuvor Brot und Käse sowie zwei Flaschen mit Wasser aus der Tränke in einen Rucksack gepackt, den irgendjemand wohl im Eingangsbereich liegen gelassen hatte. Allerdings wunderte sie sich darüber, dass ihr dieser Rucksack, der nagelneu aussah und komplett leer war, nicht schon eher aufgefallen war. 

 

Als Anna das Haus verließ, hatte die Morgensonne die klare, würzige Luft bereits auf eine angenehme Temperatur erwärmt. Anna hörte aus Richtung des Sees die Gänse laut schnattern. Vielleicht ist es ihr Abschiedsgruß, dachte sie und hoffte, er würde ihr Glück bringen.

 

Sie durchquerte die Grasebene und erreichte die Obstplantage. Dort pflückte sie zwei dunkelrote Äpfel von einem tief hängenden Ast und verstaute sie in ihrem Rucksack. 

 

Ihr fiel auf, dass ein großer Vogel hoch über ihr seine Kreise zog und, während sie die Obstbäume passierte, schnell an Höhe verlor. Als sie in dem riesigen Gemüsegarten angelangt war, schätzte sie, dass der Vogel vielleicht nicht mehr als fünfzig Meter über ihr flog.

 

Es muss ein Greifvogel sein, dachte Anna, doch sein enorme Größe überraschte sie. Mittlerweile etwas ängstlich geworden schaute sie immer wieder nach oben, doch der imposante Vogel behielt den Abstand bei und drehte weiterhin seine Runden. Allerdings entfernte er sich dabei nicht weit von ihr, und Anna hatte den Eindruck, als wolle er sie auf ihrem Weg begleiten. Vielleicht ist dieser stattliche Vogel ja mein Schutzengel, dachte sie. 

 

Anna passierte die Gemüsebeete, die sich auf beiden Seiten des schmalen Weges erstreckten. Erstaunt stellte sie fest, dass die Beete anscheinend an Länge stark zugenommen hatten, denn sie konnte kein Ende der Reihen erkennen. 

 

Egal um welche Gemüseart es sich auch handelte, alles sah reif und frisch aus, so dass Anna sich vorstellte, die Bewohner einer Großstadt könnten damit mindestens ihren Monatsbedarf decken. 

 

Als sie die Reihen mit den Erdbeerpflanzen erreicht hatte, deren pralle Früchte rot in der Sonne leuchteten, wusste sie, dass die kleine Brücke über den Bach nicht mehr weit war. 

 

Sie fühlte sich jetzt stark erhitzt und wollte ihren Durst mit dem Wasser aus einer der Flaschen, die sie eingesteckt hatte, löschen, doch überrascht stellte sie fest, dass die Flüssigkeit in der klaren Glasflasche eine grünliche, leicht trübe Färbung angenommen hatte. Außerdem schwamm darin etwas, das aussah wie kleine Fetzen von Moos oder Flechten. 

 

Der Inhalt in der zweiten Flasche hatte sich genauso verändert, so dass Anna darauf verzichtete, von dem Wasser zu trinken. Sie stellte sich vor, sie würde diese Flaschen bereits jahrhundertelang mit sich herumtragen, doch sie wusste, dass dieser Gedanke völlig absurd war. 

 

Ich bin ja gerade einmal eine Stunde unterwegs, dachte Anna, doch es blieb ihr rätselhaft, warum das Wasser aus der steinernen Tränke sich so schnell derartig verändert hatte. Halb im Spaß überlegte sie, ob ihr Schutzengel sie eventuell verlassen hatte, und als sie in den Himmel schaute, konnte sie in der Tat den großen Greifvogel nirgendwo mehr entdecken. Das verunsicherte sie, und ihre Stimmung verdüsterte sich.

 

Ich werde wohl aus dem Bach trinken müssen, dachte Anna, denn die Sonne hatte inzwischen die Luft so stark erhitzt, dass Anna am ganzen Körpers schwitzte und ihr Durst noch größer geworden war. Sie hoffte, das Wasser aus dem Bach sei genießbar und unschädlich, doch bei dieser Hoffnung schwang ein starker Zweifel mit.

 

Schon bevor der Bach in Sichtweite war, hörte Anna das Wasser rauschen. Die Strömung muss wohl zugenommen haben, dachte sie, und der Bach scheint jetzt viel mehr Wasser zu führen. Als sie die hölzerne Brücke erreicht hatte, sah sie, dass sie richtig lag. Der kleine Bach hatte sich in ein breites Wildwasser verwandelt, und das schäumende, quirlige Wasser reichte fast bis zum Brückenboden.

 

Aber ich sollte zufrieden sein, dachte sie, denn noch steht die Brücke, und ich kann den wild gewordenen Bach überqueren. Ob es sich lohnen würde, das andere Ufer zu erreichen, musste sie allerdings erst noch herausfinden, das wusste Anna. Darum suchte sie sich eine erhöhte Stelle am Bachrand aus und spähte von dem kleinen Hügel zur anderen Seite hinüber.

 

Eine Woge des Glücks durchströmte sie, als sie das hoch aufragende Gebäude erkannte, von dem aus sie ihre Tour durch den Garten Eden begonnen hatte. Das Hallenbad ist wirklich noch da, freute sie sich – oder wieder da, aber das war ihr jetzt völlig egal, denn sie zweifelte überhaupt nicht mehr daran, dass sie die Rückkehr in den Supermarkt schaffen und ihr Leben dann wieder in seinen gewohnten Bahnen verlaufen würde. Doch bevor sie die Brücke überquerte, wollte sie erst noch ihren mittlerweile quälenden Durst stillen. 

 

19.

 

Anna hatte Mühe, eine Stelle zu finden, wo sie ohne Gefahr, in den reißenden Bach zu fallen, ihre Flaschen ausspülen und neu füllen konnte. Sie musste ein paar hundert Meter am Ufer entlang laufen, bis sie eine kleine Bucht entdeckt hatte, wo die Strömung nicht so stark und und das Ufer relativ flach war. Allerdings konnte sie es nicht vermeiden, zwei Schritte ins Wasser zu machen, so dass sie fast bis zu den Knien in den kühlen Fluten stand, die mit hoher Geschwindigkeit ihre Waden umspülten und ihr Gleichgewicht herausforderten. 

 

Anna schüttete den grünlichen Inhalt der Flaschen in den Bach und spülte die Gefäße mehrmals mit frischem Wasser aus. Dann füllte sie sie auf und drehte die Verschlusskappen wieder fest. 

 

Wieder am sicheren Ufer stehend nahm Anna vorsichtig einen kleinen Schluck von dem sehr klar aussehenden Bachwasser. Es schmeckte frisch und leicht süßlich, was Anna so viel Vertrauen gab, dass sie mehr davon trank. Durstig wie sie war, leerte sie fast eine ganze Flasche. Dann ging sie zurück in Richtung der Brücke und hoffte, dass die Holzkonstruktion den wirbelnden Wassermassen immer noch standhalten würde.

 

An der Brücke wieder angekommen bemerkte Anna, dass der Bachpegel weiter gestiegen war. Zwar stand das grobe Bauwerk noch, doch die Fluten überspülten bereits die Holzbohlen, und das Geländer befand sich etwa zu einem Drittel im Wasser. 

 

Anna sah ein, dass sie entweder jetzt sofort versuchen sollte, die Brücke zu überqueren, oder das Vorhaben ganz aufgeben musste. Doch sie war fest entschlossen. Ich muss einfach auf die andere Seite, dachte sie, ein Zurück ist für mich keine Alternative, vor allem nicht, weil ich das Hallenbad gesehen habe. Und solange ich mich noch am Geländer festhalten kann, dürfte eine Überquerung möglich sein. 

 

Sie nahm all ihren Mut zusammen und watete vorsichtig durch das schnell über ihre Knöchel schießende Wasser. Der Bach war inzwischen so breit geworden, dass die Fluten jetzt schon einige Meter vor dem Beginn der Brücke strömten. 

 

Mit ihren Händen Halt am Brückengeländer suchend, kämpfte Anna sich Schritt für Schritt voran, immer darauf bedacht, nicht auf den glitschigen Holzbohlen auszurutschen. Die Kraft des an ihren Füßen zerrenden Wassers war stärker als sie vermutet hatte. 

 

Anna hatte es ungefähr bis zur Mitte der Brücke geschafft, als sie merkte, dass ihre Hände eiskalt und taub von der Anstrengung waren, sich ans Geländer zu klammern. Plötzlich hörte sie ein Knirschen und spürte, wie ein Zittern die Holzkonstruktion durchlief. Ich muss mich beeilen, dachte sie und bekam Angst, dass die Brücke einstürzen könnte, bevor sie das Ende erreicht hatte.

 

Weil die heftig an Anna zerrenden Wassermassen ihr jetzt schon bis zu den Knien reichten, war jeder weitere Schritt, den sie in Richtung rettendes Ufer machte, für sie noch mühsamer, und sie hatte nicht den Eindruck, dass sie schneller wurde.

 

Sie merkte, dass der Wind noch an Stärke zugelegt hatte, und mit einem Mal traf sie eine Böe so heftig von der Seite, dass ihre Hände den Halt am Geländer verloren und ihr Körper hilflos der Macht des Wassers ausgeliefert war.

 

Anna wurde umgeworfen und ans andere Brückengeländer gedrückt. Ihr Kopf geriet für einen Moment unter Wasser. Panik erfüllte sie, doch es gelang ihr, eine Strebe des Geländers zu packen und sich daran hochzuziehen. 

 

Sie hatte Wasser geschluckt, ihr war schwindelig und sie fühlte sich völlig kraftlos, doch breitbeinig und aufrecht stehend, die linke Hand um den Handlauf des Geländers gekrallt, stemmte sie sich mit einem eisernen Willen gegen die Fluten und den Wind.  Sie kam einen weiteren Meter voran. Und dann noch einen, und einen nächsten. Und wieder einen …

 

Dann sah sie das Ende des Brückengeländers, was ihr Hoffnung machte, allerdings erkannte sie auch, dass sie nach der Holzbrücke noch längst nicht an Land war. Sie musste erst noch diesen neuen Teil des stark verbreiterten Baches durchqueren. 

 

Hinter der Brücke schien das Wasser nicht ganz so schnell und wild zu fließen wie in der Bachmitte, und so sah Anna eine Chance, es zu schaffen. 

 

Vielleicht muss ich die restliche Strecke schwimmen, dachte sie, aber nass bin ich ja ohnehin schon, und Annas Gesicht verzog sich kurz zu einem grimmigen Grinsen. 

 

Sie hatte fast das Geländerende erreicht, da begann die Brücke zu schwanken, und ein lautes Ächzen ertönte. Anna war klar, dass die Holzbrücke der gewaltigen Kraft des Wassers nicht länger standhalten würde und schon in den nächsten Sekunden einstürzen könnte, deshalb musste sie schnell handeln. 

 

Sie holte tief Luft, stürzte sich in die Fluten und tauchte dicht unter der Wasseroberfläche in Richtung Ufer. Sie hatte Glück, das Ende des Brückengeländers zu passieren, bevor das von der rechten Seite mächtig drängende Wasser sie wieder an die Holzbalken drücken konnte. 

 

Wer weiß, ob ich noch die Kraft gehabte hätte, mich davon wieder zu lösen, dachte sie, während sie jetzt auf die Uferwiese zu schwamm und dabei große Mühe hatte, sich gegen die Strömung zu stemmen. 

 

Immer wieder versuchte das schnell fließende Wasser, sie in die Mitte des Bachs zu drängen, und als Anna dichte Büschel von Ufergras erblickte, packte sie mit beiden Händen zu und zog sich mit allerletzten Kraftreserven an den langen, harten Stängeln auf die Uferwiese. 

 

20.

 

Während Anna völlig erschöpft im Gras lag und das Wasser des sich in einen reißenden Fluss verwandelten Baches zwei Meter neben ihr vorbei rauschte, dachte sie, dass ihr Schutzengel sie anscheinend doch noch nicht verlassen hatte. Genau in diesem Moment erblickte sie den großen Greifvogel. Im blauen Himmel über ihr zog er seine Kreise. Anna wusste, dass dies kein Zufall sein konnte. 

 

Plötzlich hörte sie, wie etwas in einiger Entfernung laut krachte und splitterte. Das muss die Brücke sein, dachte Anna, richtete sich mühsam auf und schaute in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. 

 

Von der Brücke war nichts mehr zu sehen, doch ihr fiel auf, dass die Strömung sie viel weiter abgetrieben hatte, als sie angenommen hatte. Sie erkannte, dass sie eine längere Strecke durch die sumpfige Wiese laufen musste, um den Kiesweg, der zum Hallenbad führte, zu erreichen. 

 

Hoffentlich ist es nicht zu morastig, dachte sie und sah sich schon im Moor versinken. Aber sie verdrängte diesen Gedanken und nahm sich vor, so kurz vor dem Ziel optimistisch zu sein. Es ist bestimmt nur eine harmlose, feuchte Wiese, machte sie sich Mut, und beschloss, sich hier nicht länger auszuruhen und darauf zu warten, bis das Wasser sie erreichte. 

 

Während sie sich aufrichtete, merkte sie, dass die Windböen, die an ihrer nassen Kleidung zerrten, warm waren. Wahrscheinlich sind meine Sachen bereits in kurzer Zeit wieder trocken, dachte sie und machte ein paar Probeschritte durchs Gras. Sie stellte fest, dass sie nur bis zu den Knöcheln im feuchten Boden versank. Das müsste gehen, dachte sie, öffnete ihren durchweichten Rucksack, trank etwas aus einer der Wasserflaschen und holte einen der Äpfel heraus.

 

Hundemüde aber froh stapfte Anna durch die sumpfige Grasebene, aß den großen, roten Apfel aus dem Garten Eden und freute sich auf ein Wiedersehen mit ihren Kollegen. Dass ihr Chef auch noch da sein würde, konnte sie sich jedoch nicht vorstellen. Allerdings würde sie ihn auch nicht sonderlich vermissen, da wollte sie ehrlich zu sich selbst sein. 

 

Ihr Marsch durch die feuchte Wiese erschien Anna viel länger zu dauern, als sie angenommen hatte. Als sie endlich den Kiesweg erreicht hatte, glaubte sie, mindestens eine Stunde unterwegs gewesen zu sein. Vielleicht ist es auch nur meine Müdigkeit, die mich das annehmen lässt, dachte sie. 

 

Auf dem Kiesweg verharrte Anna für ein paar Minuten und stillte ihren Durst mit dem restlichen Wasser aus der zweiten Flasche. Wind und Sonne hatten ihre Kleider vollständig getrocknet, doch ihre Füße taten weh und fühlten sich an, als hätten sich dort mehrere Blasen und schmerzhafte Druckstellen gebildet. Wahrscheinlich, weil ich jetzt schon länger mit nassen Füßen gelaufen bin, nahm sie an. 

 

Anna machte die Hitze zu schaffen, doch als sie sah, dass es bis zum Hallenbad nur noch wenige hundert Meter waren, freute sie sich darauf, schon bald den schweißtreibenden Strahlen der Sonne entronnen zu sein. Sie meinte, bereits die Tür zum Aufzug erkennen zu können, und beschleunigte noch einmal ihre Schritte. 

 

Dann hatte sie das Gebäude erreicht. Direkt vor der metallenen Aufzugtür stehend blickte sie an der Fassade empor. Das Hallenbad scheint enorm gewachsen zu sein, dachte Anna, das hat sich jetzt in einen richtigen Wolkenkratzer mit mindestens hundert Etagen verwandelt. Irritiert senkte sie wieder den Blick, auch weil ihr leicht schwindelig geworden war.

 

Egal, dachte sie, ich sollte hier nicht länger herumstehen, sondern in den Aufzug steigen. Allerdings hatte ihre Zuversicht, problemlos in den Supermarkt zurückkehren zu können, Risse bekommen. 

 

Anna wusste nicht, woher diese Skepsis plötzlich kam, doch etwas in ihr sträubte sich vehement dagegen, ihren Optimismus aufzugeben. Sie schüttelte sich und rief laut, fast schon zornig: „Alles wird gut, verdammt noch mal.“ Dann drückte sie entschlossen auf den rot leuchtenden Knopf, der nach wie vor in der Mitte der Lifttür angebracht war. 

 

21.

 

Zischend glitt die Metalltür in den Boden, und aus der Aufzugkabine drang Panflötenmusik ins Freie. Anna war verunsichert und zögerte. Was hat das denn jetzt wieder zu bedeuten, fragte sie sich, und ihr wurde unbehaglich zumute.

 

Mit einem Mal bekam sie Angst, die Lifttür könne sich wieder schließen und würde sich dann nie mehr öffnen, und so nahm sie all ihren Mut zusammen und betrat den Aufzug. Sofort hörte die Musik auf, aber gleichzeitig wechselte die Kabinenbeleuchtung ihre Farbe von Weiß auf ein schummriges Blau.

 

Das ist nicht gut, dachte Anna, vielleicht wäre es klug, jetzt ganz schnell nach oben zu fahren und dann diesen Aufzug fluchtartig zu verlassen. Sie blickte auf die vertikale Tastenreihe an der Liftwand und sah, dass die Tasten mit der Beschriftung 1 bis 13 ein schwaches Licht ausstrahlten, während die unterste Taste, neben der das goldene Schild mit der Gravur „Garten Eden“ angebracht war, hell leuchtete.

 

Anna wartete nicht länger und drückte auf die Taste mit der 13. Los, bring mich schnell in den dreizehnten Stock, murmelte sie, und eine plötzliche Nervosität ließ ihre Hände zittern. 

 

Das blaue Licht wechselte wieder auf Weiß, und in der engen Liftkabine breitete sich ein ihr bekannter Geruch aus. Es riecht nach Chlor, dachte Anna, wie im Hallenbad, doch wie kann das sein? Als sie das erste Mal mit diesem Aufzug gefahren war, hatte es so noch nicht gerochen, das wusste sie genau.

 

Dann fiel ihr auf, dass sich der Lift noch nicht bewegt hatte, und diese Erkenntnis lenkte sie von dem mysteriösen Geruch und der Frage, was er zu bedeuten habe, ab. 

 

Anna wollte gerade ein zweites Mal die Taste für das dreizehnte Stockwerk drücken, da ertönte die metallisch klingende Etagen-Ansage. „Zielort Andromeda-Nebel“ schnarrte es aus dem kleinen Aufzug-Lautsprecher neben der Tastatur. Sofort setzte sich die Liftkabine in Bewegung. Der plötzliche, heftige Ruck beim Start riss Anna von den Beinen.

 

Sie merkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Erst war sie nur erstaunt, doch als ihr klar wurde, dass der Aufzug nicht nach oben, sondern nach unten fuhr, verwandelte sich ihr Erstaunen in blankes Entsetzen. Fassungslos registrierte sie, dass der Lift schneller und schneller wurde. 

 

„Zielort Andromeda-Nebel“, klang es erneut verzerrt aus dem Lautsprecher, während Anna auf dem Kabinenboden hockte und das schreckliche Gefühl hatte, der Aufzug rase direkt auf den Mittelpunkt der Erde zu.