1.
Der Plan war klar. Er würde die Tochter des steinreichen Fertiggaragen-Königs Erwin Piepenbrink kidnappen und in einem wenig gemütlichen Versteck zwangsunterbringen. Dem Herrn Papa würde er eine saftige Lösegeldforderung in den Briefkasten stopfen und ihm Ort und Zeitpunkt für die Übergabe der Kohle mitteilen.
Es stand völlig außer Frage, da war sich Tom Kowalski hundertprozentig sicher, dass der Milliardär ohne mit der Wimper zu zucken eine siebenstellige Summe locker machen würde, um seinen verwöhnten Liebling schnell wieder in die fetten Arme schließen zu können. Das hatte er seinem Auftraggeber, dem zu Jähzorn neigenden Sportwetten-Karl, mehrmals versichert, bis dieser ihm grünes Licht für die Aktion gegeben hatte. Unter einer Bedingung, hatte der narbengesichtige Karl gesagt: Das Lösegeld würde er selbst abholen.
„Nicht dass du das falsch verstehst, Kowalski“, hatte er gesäuselt, „das ist kein Misstrauen dir gegenüber, Gott bewahre, aber schließlich habe ich dir ja ein stattliches Honorar zugesagt, und außerdem will ich dir angesichts deines angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht auch noch zumuten, die weite Strecke zum Treffpunkt im Eulenmoor zu Fuß zurückzulegen, denn mit dem Auto kommst du da gar nicht hin, und für den Fußmarsch auf dem schmalen Trampelpfad durch den tückischen Morast braucht man ein stabiles Gleichgewicht und höchste Konzentration. Sonst kann man schnell als Moorleiche enden.“
Darauf hatte Sportwetten-Karl sein meckerndes Lachen erklingen lassen, bis ihm dicke Tränen über den Drei-Tage-Bart gerollt und von seinem ausladenden Kinn in einen kristallenen Cognac-Schwenker getropft waren. Mit seiner klauenartigen Hand hatte er das Glas so fest umklammert gehalten, als befürchtete er, jemand könne es ihm ihm entreißen.
Die Anspielung auf seine Vorliebe für guten englischen Gin und seinen mangelnden Fitnesszustand– er war erst kürzlich von einer schweren Magen-Darm-Grippe genesen und sah jetzt aus wie ein Strich in der Landschaft – hatte Kowalski geärgert, doch er hatte seinen Unmut heruntergeschluckt und gedacht, warte nur ab Freundchen, du wirst dich noch wundern.
Weil ich jetzt eine Planänderung ins Spiel bringe, dachte er und grinste dabei wie ein frisch gebackener Jackpot-Gewinner. Wenn du denkst, du hässlicher Geizkragen, die fette Kohle des Garagenpapstes persönlich in der alten, verfallenen Jagdhüte im Moor einsacken zu können, da hast du dich aber geschnitten, weil nämlich ich, der Fliegengewichts-Champion, diesen Job erledigen werde.
In der Gewissheit, dass dieser Job kinderleicht sein würde, mixte er sich einen Gin Gin Mule, legte eine alte Moody-Blues-Platte auf und machte es sich in seinem abgewetzten Ohrensessel bequem.
Er brauchte nur ein bisschen mit dem Zeitpunkt der Lösegeld-Übergabe zu tricksen, und der geldgierige Wetthai würde einfach viel zu spät in der Hütte auftauchen und nur ein paar tote Asseln auf dem morschen Bretterboden finden.
Kowalski bereitete es eine Riesenfreude, sich vorzustellen, was für ein Gesicht Sportwetten-Karl dabei machen würde – und wie dessen Miene von Überraschung und Ungläubigkeit in schiere Wut wechselte.
Aber vorher musste er erst einen anderen Job durchziehen, und der war nicht ganz so leicht, das wusste Tom Kowalski. Allerdings hatte er bereits einen detaillierten Plan erstellt, wie, wo und wann er sich Fräulein Piepenbrink schnappen würde, so dass eigentlich nichts schief gehen sollte.
Auch an eine vorübergehende, diskrete Unterbringung der Entführten hatte er natürlich gedacht. Ein alter, vor sich hin rottender Viehwagon auf einem abgelegen Gleis des seit Jahren nicht mehr betriebenen Güterbahnhofs am südlichen Stadtrand würde der Milliardärstochter eine neue Heimstatt sein.
Auf den All-Inklusive-Service wird sie dort allerdings verzichten müssen, dachte Kowalski, mehr als Wasser und Brot, eine ausgeleierte Matratze und eine zerfranste Pferdedecke wird nicht drin sein.
2.
Kowalski war nicht nur bitter enttäuscht, sondern auch stinkwütend. Er stieß wilde Flüche aus, nachdem er die fleckige, sauschwere Federkernmatratze über die Bahngleise geschleppt hatte und dann feststellen musste, dass die Mühe umsonst war.
Vom einsamen Viehwagon, den er für Isabel, der verwöhnten Pipenbrink-Tochter, als vorübergehendes Zuhause zweckmäßig einrichten wollte, waren nur noch ein Aschehaufen und ein paar verkohlte Bretter übrig. Merkwürdigerweise konnte er die eisernen Achsen und Räder nirgends entdecken.
Irgendein verdammter Idiot muss gerade jetzt den Wagen abgefackelt haben, wo ich ihn dringend brauche, dachte er. Es sieht ganz so aus, als hätte da ein Eisenwarenhändler mit seinen schwieligen Händen ein Feuerchen entfacht.
Er fragte sich, wo er jetzt bloß das blond gelockte Fräulein unterbringen solle, nachdem er es sich geschnappt hatte.
Schlecht gelaunt trug Kowalski die unhandliche Matratze zu seinem Pickup, den er am Rand der rostigen Gleise abgestellt hatte. Während der Rückfahrt zu seinem heruntergekommenen Wohnsilo-Appartment aus den 70er-Jahren wurde ihm klar, dass es nur einen sicheren Ort gab, um Isabel unauffällig gefangen zu halten – den Hobbykeller in der Villa seines alten Schulfreundes Achim.
Achim Raumund, ein sehr gut verdienender Zahnarzt und Zyniker vor dem Herrn, erholte sich seit ein paar Tagen in einem Luxus-Ressort am Roten Meer von seiner stressigen Scheidung und kam frühestens in einer Woche wieder zurück. Da Kowalski wusste, dass sein Kumpel den Reserve-Haustürschlüssel unter einem losen Stein am Fuße der Swimmingpool-Brause deponiert hatte, stand der Einquartierung des Mädels im geräumigen Hobbykeller nichts im Weg.
Weil Achims bescheidenes Vierhundert-Quadratmeter-Heim in einer einsamen Gegend am äußersten Stadtrand lag, sah Kowalski keine Probleme, Isabel unauffällig in ihr neues Heim zu transportieren, vor allem, weil er sie sich erst nach Einbruch der Dunkelheit schnappen würde.
Eine Situation konnte Kowalski allerdings nicht hundertprozentig ausschließen. Falls Dr. Zahnstein vorzeitig aus seinem Tauch-Urlaub zurückkehren sollte, aus welchem Grund auch immer, dann würde es für ihn schwierig werden, ihm die Situation zu erklären.
Doch dieses Risiko musste er eingehen, es blieb ihm nicht anderes übrig. Schließlich konnte er die smarte, junge Lady nicht in seinem eigenen bescheidenen Appartement gefangen halten, denn Frau Bolormaa, seine zuverlässige und spottbillige Reinigungskraft, käme die ganze Angelegenheit sicherlich nicht ganz gesetzeskonform vor.
Und wenn die in der Mongolei aufgewachsene, resolute Dame etwas unbedingt vermeiden wollte, das wusste Kowalski, dann war es, in irgendeiner Weise staatlichen Behörden aufzufallen oder gar in ein Verbrechen hineingezogen zu werden.
3.
Über viele Wochen hinweg hatte Kowalski Isabel Piepenbrinks Gewohnheiten und Tagesabläufe genau beobachtet, um herauszufinden, wann sich die beste Chance ergeben würde, um ihrer habhaft zu werden.
Er hatte sich für einen Mittwochabend entschieden, denn dann absolvierte die sportliche junge Dame immer ihr anderthalbstündiges Workout im Fitnesstudio „Muscle Arena“, um anschließend mit ihrem knallroten Cabrio aus der City raus zu fahren und an einer abgelegenen Stelle unweit des Stadtbach-Ufers zu parken.
Stets stellte sie ihr Auto vor einer kleinen Gruppe von Schwarzpappeln ab, spazierte die vielleicht hundert Meter bis zur Uferböschung, zündete sich dort ein Zigarette an und starrte auf’s schlammig-braune Wasser, dabei gierig an ihrem Glimmstängel ziehend.
Nach drei Minuten warf sie die Kippe in den Bach, ging zurück zum Wagen und brauste nach Hause, wobei sie wenig Respekt vor Geschwindigkeitsbegrenzungen zeigte.
Dieses wöchentliche Ritual behielt Isabel auch dann bei, wenn es abends schon dunkel oder das Wetter schlecht war. Selbst bei strömendem Regen und heftigen Windböen zog es sie zum matschigen Bachufer. In einen grauen Regenmantel gehüllt und ihren Kopf mit einem breitkrempigen Cowboyhut bedeckt, gönnte sie sich dann dort ihre Dosis Nikotin – oder die Substanz, die sich in dem zusammengerollten Papier befand.
Da sie ein altmodisches Sturmfeuerzeug benutzte, gelang es ihr immer, die Zigarette anzuzünden. Und hatte sich die Sonne schon verabschiedet und auch der Mond vermochte es nicht, für ein wenig Helligkeit zu sorgen, half Isabel eine kleine LED-Taschenlampe, den holprigen Weg vom Auto bis zum Ufer zu beleuchten, so dass sie nicht über einen Stein oder eine Wurzel stolperte.
Als der komplett schwarz gekleidete Kowalski an einem kühlen Mittwochabend der schönen Isabel hinter einer stattlichen Pappel auflauerte, warf die blassgelbe Mondsichel ein spärliches Licht auf die Wiese und den dezent plätschernden Stadtbach. Die Unternehmertochter verspätete sich um fast eine halbe Stunde, so dass seine Füße, die in dünnen Sneakers steckten, bei ihrem Eintreffen eiskalt waren.
Seinen Pickup hatte er auf der anderen Seite der Baumgruppe geparkt, wo Isabel ihn nicht sehen konnte. Er wartete, bis sie am Uferrand stand, sich eine Zigarette angezündet hatte und rauchend aufs dunkle Wasser blickte. Dann schlich er sich behutsam heran, das mit Chloroform getränkte Baumwolltuch einsatzbereit in der rechten Hand.
Alles verlief so leicht, wie Kowalski es gehofft hatte. Das Narkosemittel wirkte erstaunlich schnell, und Isabel war auch zu überrascht, um sich zu wehren.
Lediglich ihr Transport erwies sich als anstrengend. Obwohl die schlanke, mittelgroße junge Lady alles andere als ein Schwergewicht war, musste er all seine Kraft aufbringen, um sie bis zu seinem Pickup zu tragen. Als er ihren schlaffen Körper auf den Beifahrersitz gehoben und ihm den Sicherheitsgurt umgelegt hatte, war Kowalski fix und fertig.
Ich war schon einmal besser in Form, dachte er, und nahm sich vor, zu Hause sein Hantel-Training wieder aufzunehmen und die Laufschuhe regelmäßig zu schnüren.
Das Chloroform wirkte lange genug, um Isabel problemlos in Achims Villa unterzubringen. Da sich das pompöse Anwesen seines Freundes ganz am Ende einer schmalen Straße befand und das nächste Nachbargrundstück ein paar hundert Meter entfernt lag, musste er nicht befürchten, dabei beobachtet zu werden, wie er eine in seinem abgewetzten, ausrangierten Wohnzimmerteppich gehüllte, bewusstlose junge Frau schwer atmend ins Haus schleppte.
Kowalski war froh, dass sein Weg aus der Garage über den Marmor-Zierkies durchs säulenumfasste Portal bis in die Eingangshalle relativ kurz war. Allerdings musste er die gefüllte Teppichrolle für ein paar Minuten auf den kostbaren italienischen Fließen ablegen, um für den Transport in den Keller letzte Energiereserven mobilisieren zu können.
Isabel wachte mit einem Brummschädel auf. Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war eine Tischtennisplatte, und dahinter, an einer holzgetäfelten Wand, ein goldgerahmtes Bild mit einem gezeichneten Porträt, das sie an das zerknitterte Gesicht von Mick Jagger erinnerte.
Sie registrierte, dass sie auf einer Couch lag und irgendjemand eine dunkelblaue Wolldecke über sie gebreitet hatte. Erst als sie die Decke abstreifte und sich mühsam aufsetzte, fiel ihr auf, dass ihr linkes Handgelenk in einer Art Handschelle steckte, die mit einer dünnen Kette an einem Rohr befestigt war. Hinter dem Sofa führte das Rohr zu einem massiven Heizkörper.
Erfreut stellte Isabel fest, dass die Kette lang genug war, um ihr ein wenig Bewegungsspielraum zu verschaffen. So konnte sie ein paar Schritte von der Couch weg machen, gerade weit genug, um an einen kleinen Klapptisch zu gelangen, auf dem eine Flasche Mineralwasser, ein Teller mit Muffins sowie eine Schale mit Bananen und Äpfeln standen.
Sie hatte keinen Hunger, aber einen schrecklichen Durst. Während sie fast die ganze Wasserflasche leerte, dachte sie: Sieht ganz so aus, als wäre ich entführt worden. Wundert mich nicht, dass jetzt das eingetreten ist, womit ich schon lange gerechnet habe. Immerhin scheint es so, als wäre mein Entführer kein Unmensch, das macht Hoffnung.
Was ihr noch mehr Hoffnung machte, war die feste Überzeugung, dass ihr Papa dazu bereit wäre, Lösegeld in jeglicher Höhe zu zahlen, schließlich war sie ja sein Darling, sein kleiner Schatz, sein Schnuckelchen, sein Ein und Alles.
Trotz bohrender Kopfschmerzen und einem leichten Schwindelgefühl erstrahlte ein Grinsen auf Isabels Gesicht, und ein Gluckser löste sich aus ihrer immer noch trockenen Kehle. Vielleicht ist es ja gut, dachte sie, dass mein steinreicher Dad zwar ein gefühlsdusseliger Trottel und Geizhals ist, wenn er allerdings das Leben seines Töchterchens plötzlich in Gefahr sieht, ruckzuck die Spendierhosen anzieht. Dann trank sie den Rest aus der Wasserflasche, legte sich wieder auf die Couch und wartete darauf, dass sich ihr Entführer blicken ließ.
Ich wette, dachte Isabel, dass der Kerl so eine Mütze trägt, wie man sie aus Kriminalfilmen kennt. So ein elastisches Ding, das man über das ganze Gesicht ziehen kann, und wo für die Augen und den Mund Löcher hineingeschnitten worden sind.
Aber Isabel irrte sich, denn als Kowalski seiner Gefangenen zum ersten Mal einen Besuch abstattete, war sein Gesicht unverhüllt. Er sah auch keinen Grund, sich eine alberne Maske aufzusetzen oder sein Antlitz unter einer stickigen Mütze zu verbergen, schließlich beabsichtigte er, sich die Entführte für immer und ewig vom Hals zu schaffen, sobald er das fette Lösegeld eingesackt hatte.
Eine Zeugin konnte er einfach nicht gebrauchen, auch wenn die so attraktiv war, wie Isabel. Eigentlich schade, dachte er, aber das Mädel am Leben zu lassen, ist leider ein zu großes Risiko, ein viel zu großes.
4.
Kowalski hatte es so gemacht, wie er es aus vielen Filmen und Romanen kannte. Die frohe Botschaft an Herrn Piepenbrink, dass er dessen liebreizende Tochter in seiner Gewalt habe und durchaus bereit sei, sie gegen ein Lösegeld in Höhe von drei Millionen Euro wieder unversehrt auf freien Fuß zu setzen, hatte er mühsam aus ausgeschnitten Zeitungsartikel-Buchstaben zusammengesetzt.
Mit einem alten, fast eingetrockneten Klebestift und einer stumpfen Schere war dies eine grauenvolle Arbeit gewesen, und er hatte für die Fertigung dieses Kunstwerkes fast einen ganzen Nachmittag gebraucht.
Im Puzzle-Brief hatte Tom Kowalski noch vermerkt, dass er für seine Forderung innerhalb von 24 Stunden eine Zustimmung haben wollte, und zwar in Form einer gehissten FC-Bayern-Flagge.
Er wusste, dass der Garagen-Kapitalist ein glühender Anhänger des erfolgsverwöhnten Münchener Fußballvereins war, und dass in seinem parkähnlichen Garten vor der hektargroßen Terrasse ein hoher Fahnenmast stand. Allerdings flatterte dort seit dem frühzeitigen Ausscheiden des FCB in der Champions League nur die Fahne des örtlichen Tennisclubs, in dem Sportkamerad Piepenbrink Erster Vorsitzender war.
Natürlich hatte Kowalski nicht vergessen, in seiner Buchstaben-Botschaft Ort und Zeitpunkt für die Lösegeld-Übergabe mitzuteilen. In zwei Tagen, also am kommenden Freitag, solle Piepenbrink um Punkt Zwölf Uhr Mittags den Geldkoffer mit den drei Milliönchen in der alten Jagdhütte im Eulenmoor sichtbar deponieren. Und anschließend habe er sofort wieder zu verschwinden.
Sollte er nicht pünktlich auftauchen oder im Koffer auch nur ein Euro fehlen, würde er sein Töchterchen nie wiedersehen, zumindest nicht lebendig. Dies gelte auch, wenn er nicht innerhalb der nächsten 24 Stunden sein Okay per Fahnenhissen geben würde. Und selbstverständlich hätte Isabel ihr Leben verwirkt, sobald es Anzeichen geben würde, dass die Polizei mit im Spiel sei. „Keine Bullen“, hatte er zum Schluss noch gepuzzelt, „sonst lass ich Isabel langsam ausbluten.“
Als Kowalski nach vielen mühevollen Stunden endlich den Erpresserbrief fertig gebastelt hatte, machte er drei Kreuzeichen, murmelte „Gottseidank“ und öffnete zur Belohnung eine Dose Prosecco aus dem Discounter, obwohl er wusste, dass er nach dem Konsum des herben Getränks wahrscheinlich wieder Sodbrennen bekommen würde.
Den Abend verbrachte er vor seinem 65-Zoll-Fernseher, wo er sich einen alten John-Wayne-Western ansah. Bevor er schlafen ging, schickte er eine eMail an Sportwetten-Karl, in der er ihm den Termin für die Lösegeldübergabe mitteilte. Am kommenden Samstag um 12 Uhr Mittag würde Piepenbrink die Kohle in der Jagdhütte im Eulenmoor abliefern, schrieb er. Dann aktivierte er seinen Radiowecker, als Weckzeit gab er Drei Uhr ein.
Nach viel zu wenig Schlaf riss ein alter Gassenhauer von Abba Kowalski aus einem nicht unangenehmen Traum. Während er seinen Körper von der Horizontalen in die Vertikale manövrierte, hörte er, wie Regentropfen ans Fenster klatschten. Auch das noch, dachte er und hätte sich am liebsten wieder hingelegt.
Missmutig zog er sich an und brauchte fast 5 Minuten, bis er seine betagte englische Wachsjacke gefunden hatte. Das Erpresserbrief-Kunstwerk schob er in eine Klarsichthülle, die er in einen abgenutzten Sportbeutel steckte.
Er schätzte, dass er mit seinem Mountainbike, dessen Hinterrad eine große Unwucht aufwies, mindestens eine halbe Stunde Fahrzeit benötigte, um zu Piepenbrinks Villa zu gelangen.
Während er schlecht gelaunt durch Wind und Regen radelte, nahm er sich vor, endlich das eiernde Hinterrad reparieren zu lassen. Dann schoss ihm ein Gedanke in den Kopf, der ihn verunsicherte. Angestrengt überlegte er, wo sich eigentlich Piepenbrinks Briefkasten befand. Hatte der Milliardär überhaupt einen?
Er hatte, wie Kowalski zwanzig Minuten später feststellte, und was für einen! Ein Monstrum aus blitzendem Stahl, das direkt neben dem Eingangstor angeberisch auf einer Marmorsäule thronte. Kowalski warf seinen Puzzle-Brief in den überdimensionierten Briefschlitz und trat die Heimreise an.
Als er merkte, dass es seiner Jacke nicht mehr gelang, den heftigen Regen von Schultern und Armen fern zu halten, war er überzeugt davon, sich die drei Millionen bereits jetzt redlich verdient zu haben.
5.
Isabel hatte sich ihren Entführer ganz anders vorgestellt. Viel älter, nicht so dünn – und auch nicht so gut aussehend. Obwohl er kein Wort von sich gab, als er ihre eine neue Flasche Mineralwasser brachte, war sie überzeugt davon, dass er eine angenehme, sympathische Stimme hatte.
Freundlich bat sie ihn, eine Toilette aufzusuchen zu dürfen. Er zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und hielt ihn ihr hin. Sie verstand gleich, dass es der Schlüssel für ihre Handschelle war.
Sie befreite ihr Handgelenk von der Fessel und wollte ihm den Schlüssel wieder zurück geben, als sie bemerkte, dass er plötzlich ein großes Messer in der rechten Hand hielt. Erschrocken ließ sie den Schlüssel fallen und wich einen Schritt zurück.
Doch ihr Kidnapper machte mit seiner freien Hand beschwichtigende Bewegungen und wies mit dem Messer auf den hinteren Teil des großen Raumes. Sie blickte sich um und entdeckte eine schmale Tür.
Dann sah sie, wie ihr Entführer mit seinem Mund seltsame Bewegungen machte. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie, dass er versuchte, ein bestimmtes Wort lautmalerisch zu artikulieren. Es sieht aus wie Toilette, dachte sie – und verstand.
In der Tat befand sich hinter der schmalen Tür ein kleines WC. Nachdem sie sich erleichtert hatte, kehrte sie zu ihrem Entführer zurück, der immer noch vor der Couch stand, das Messer in der rechten Hand. Mit der anderen Hand wies er auf die auf dem Tisch liegende Handschelle.
Bereitwillig befestigte sie die Schelle wieder an ihrem linken Handgelenk, denn mit einem Messer schwingenden Kerl wollte sie es natürlich nicht aufnehmen, auch wenn dieser Typ auf sie so wirkte, als fühle er sich angesichts der Situation ziemlich unsicher.
Auf jeden Fall fand sie ihn ganz nett und konnte sich nicht vorstellen, dass er in der Lage wäre, ihr auch nur ein Haar zu krümmen.
In regelmäßigen Abständen sah er nach ihr, versorgte sie mit Getränken und Lebensmitteln und ließ sie auf die Toilette gehen. Einmal versuchte er sogar, mit einem nach Fichtennadeln riechenden Spray das Klima im fensterlosen Raum zu verbessern, doch nachdem sie einen Niesanfall bekommen hatte, benutzte er das Spray nie wieder.
6.
Kowalski war zufrieden. Seine Gefangene schien ein vernünftiges Mädchen zu sein und bereitete ihm keinerlei Probleme. Allerdings fragte er sich, ob sie sich sich des Ernstes ihrer Lage bewusst war.
Sie wirkt ein bisschen zu unbekümmerte, dachte er. Und dass sie ihn immer so freundlich anschaute, irritierte ihn. Auf jeden Fall schien sein Outdoormesser dafür zu sorgen, dass sie nicht auf dumme Gedanken kam.
Nach dem Frühstück unternahm Kowalski eine kleine Radtour zu Piepenbrinks Villa. Als er dort ankam, war er höchst erfreut. Wie verlangt, hatte der Milliardär die FC-Bayern-Fahne gehisst und damit seine Zahlungsbereitschaft signalisiert, so dass Kowalski auf der Rückfahrt fröhlich die Melodie seines Lieblings-Songs von Bon Jovi pfiff und überhaupt nicht mitbekam, wie der Mantel des Vorderrades zunehmend Luft verlor. Bis Kowalski auf einmal deutlich spür- und hörbar auf der Felge fuhr.
Er brauchte fast ein Dreiviertelstunde, bis er das kaputte Fahrrad zu Achims Villa geschoben hatte. Seine nicht gerade euphorische Stimmung änderte sich nicht, als er die eMail las, die Sportwetten-Karl ihm geschickte hatte.
„Wunderbar, dass Piepenbrink sich bereit erklärt hat, einen kleinen Teil seines Vermögens für die Freilassung seiner Tochter zu spendieren – und dass Termin und Ort der Geldübergabe stehen. Aber eines muss dir ganz klar sein, Kollege Kowalski: Wenn ich die Kohle am Freitag abgeholt habe, muss Piepenbrinks Töchterchen verschwunden sein. Damit meine ich, dass sie dann ihre Seele ausgehaucht hat. Und ihr Körper muss so fachgerecht entsorgt worden sein, dass niemand ihn jemals finden kann, kein einziges Teil von ihm, noch nicht einmal mehr einen Zehennagel. Du weißt also, was zu tun ist, bevor ich dir dein Honorar überweise.“
7.
Am zweiten Tag ihres unfreiwilligen Aufenthaltes, der Kidnapper hatte ihr gerade eine Glasplatte mit Crackern, Käsehäppchen und Weintrauben auf den kleinen Tisch gestellt, beschloss Isabel, ihn anzusprechen und gleich auch einen Wunsch zu äußern.
„Entschuldigung, Herr Entführer“, sagte sie in ihrem freundlichsten Ton, „aber ich habe ein großes Problem. Mir ist furchtbar langweilig. Ist es vielleicht möglich, dagegen etwas zu unternehmen?“
Verblüfft starrte er sie an. Isabel merkte, dass er auf ihre Frage nicht vorbereitet, war und machte einen Vorschlag. „Wir könnten zum Beispiel etwas spielen, das vertreibt die Zeit und ist auch gut für das soziale Klima.“
Sein ungläubiger Blick ließ sie schnell fortfahren. „Natürlich nur, wenn sie etwas Zeit übrig haben und mich als Spielpartnerin akzeptieren. Ich weiß schon, dass mein Vorschlag in dieser, sagen wir, etwas ungewöhnlichen Situation ein wenig befremdlich wirken könnte, aber finden Sie nicht auch, dass es überhaupt nicht schaden würde, wenn wir in der noch verbleibenden Zeit bis zu meiner Freilassung etwas Spaß haben?“
Isabel sah, dass es im Gehirn ihres Kidnappers kräftig arbeitete. Er schien ernsthaft über ihren Vorschlag nachzudenken. Ich muss ihm auf die Sprünge helfen, dachte sie und sagte: „Wir könnten Mensch-ärgere-dich-nicht spielen – oder Halma.“
„Halma?“, stieß er aufgeregt hervor, und das war das erste Wort, das er zu ihr sprach. „Ja klar, warum nicht?“, antwortete Isabel und grinste.
Da erstrahlte ein breites Lächeln auf seinem schmalen, unrasierten Gesicht, und er erklärte mit leuchtenden Augen: „Halma habe ich früher immer mit meiner Großmutter gespielt, und auch Mühle und Dame – und natürlich Mensch-ärgere-dich-nicht, aber Halma war mein absolutes Lieblingsspiel.“
Na prima, dachte Isabel, jetzt hab’ ich ihn soweit. „Ja wunderbar“, sagte sie, „dann spricht ja nichts dagegen, dass wir ein Partie Halma spielen, oder?
„Eigentlich nicht“, antwortete er, „aber ich muss mich darauf verlassen können, dass Sie sich weiterhin vernünftig verhalten und nicht auf dumme Gedanken kommen. Die Handfessel muss während eines Spiels bleiben, ich hoffe, dass sie das verstehen.“
„Ja klar“, meinte sie, „das geht schon in Ordnung. Ich habe mich fast schon an das Ding gewöhnt. Und wirklich sehr schön, dass mein Vorschlag so gut bei Ihnen ankommt.“
Mit einem unwiderstehlichen Lächeln blickte sie direkt in seine braunen Augen. „Wie wäre es denn, wenn wir sofort mit einem Spielchen starten? Oder haben sie gleich noch etwas Wichtiges zu erledigen, etwas ganz Dringendes, was nicht aufzuschieben ist?“
Er schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Allerdings muss ich erst noch nachschauen, wo unser Gastgeber seine Spielesammlung verstaut hat. Ich glaube, die ganzen Spiele sind in der großen Truhe im Wintergarten, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht hat er sie auch in der Schrankwand im Fernsehzimmer untergebracht. Sorry, aber ein paar Minuten müssten Sie vielleicht noch warten.“
„Das macht überhaupt nichts“, erwiderte Isabel, „und bringen sie am besten einen Stuhl mit, wenn wir hier an diesem Tisch spielen wollen, ich kann mich ja auf’s Sofa setzen.“ „Natürlich“, meinte er, „danke, dass sie daran denken.“ Dann schnappte er sich die fast leere Wasserflasche, und während er auf die Tür zusteuerte, glaubte sie zu erkennen, dass sein Gang viel lockerer und geschmeidiger war als zuvor.
Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal um und warf ihr einen Blick zu. Der Kerl sieht richtig glücklich aus, dachte sie, und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn mochte. Irgendetwas hat dieser Mann an sich, auch wenn er ein Kidnapper ist.
Eine drei Viertel Stunde später kam er wieder, in der Hand eine große Schachtel mit der Aufschrift „Spielesammlung“. Er entschuldigte sich dafür, dass es so lange gedauert hatte, aber dass sein Freund die Spiele mittlerweile in einer alten Kommode auf dem Dachboden aufbewahrte, habe er nicht gewusst. „Früher waren sie im Wintergarten“, sagte, „da bin ich mir ziemlich sicher.“
„Da hat ihr Freund anscheinend in der letzten Zeit nicht oft gespielt“, meinte Isabel, „aber egal, jetzt können wir loslegen. Es fehlt nur noch der Stuhl.“
Er fasste sich an den Kopf. „Ja natürlich, tut mit leid, ich bin sofort wieder da.“ Als er mit einem Holz-Küchenstuhl zurückkehrte, hatte er sich eine Schachtel Pralinen unter den Arm geklemmt. „Ein bisschen Nervennahrung“, meinte er und grinste.
Und dann spielten sie. Zuerst Halma, drei Partien, von denen er keine einzige gewann. Danach zwei Mal Mensch-ärgere-dich-nicht, da war das Glück eindeutig auf seiner Seite. Und später mehrmals Mühle und Dame, wobei Isabel mit strategischem Geschick glänzte und bis auf eine Partie in allen als Siegerin hervor ging.
Sie staunte darüber, dass ihr Spielpartner bei seinen Niederlagen so gelassen blieb, und dachte, dass der Typ ein guter Verlierer sei, was ihn ihr gleich noch ein Stück sympathischer erscheinen ließ.
Echt cool, dieser Mann, freute sie sich und fand es toll, dass er meinte, sie solle sich unbedingt die letzte Praline aus der Schachtel nehmen. „Darauf bestehe ich, denn die haben Sie sich verdient“, sagte er verschmitzt, schlug dann vor, für heute noch ein letztes Spielchen zu machen, und gab zu, dass ihm nach den vielen Stunden auf diesem recht unbequemen Stuhl doch mittlerweile sein Rücken ziemlich schmerzte. „Was sagen Sie zu Mikado?“
Isabel sagte ja zu Mikado, obwohl es nicht gerade ihr Lieblingsspiel war. Allerdings ließen ihre geschickten Finger ihm keine Chance, worauf er mit einem Lächeln und einem Schulterzucken reagierte. „Meinen Glückwunsch“, sagte er und sammelte die Mikado-Stäbchen ein.
„Herzlichen Dank“, antwortete sie lächelnd, „vor allen für ihre nette Gesellschaft natürlich. Hätten sie eventuell Lust, morgen wieder etwas zu spielen? Zum Beispiel nach dem Frühstück, falls ich dann immer noch ihr Gast sein sollte. Vielleicht gibt es ja auf dem Dachboden noch andere interessante Spiele, die wir ausprobieren könnten.“
„Oh ja“, meinte er, „da oben liegen noch viele tolle Spiele. Richtige Klassiker sind darunter, wie etwa ‚Monopoly‘, ‚Zug um Zug‘, ‚Öl für uns alle‘ oder das ‚Börsenspiel‘. Ich meine, auch ‚Das verrückte Labyrinth‘ gesehen zu haben, und ‚Siedler von Catan‘ ist auf jeden Fall mit dabei.“
Auf ihren Vorschlag hin verabredeten sie sich für eine Partie ‚Zug um Zug‘, gleich morgen früh. „Wenn ich ihr Frühstücks-Tablett abgeräumt habe, können wir sofort loslegen“, sagte er, und Isabel konnte ihm seine Vorfreude ansehen, was ein warmes, angenehmes Gefühl in ihr auslöste.
„Wunderbar“, meinte sie, „aber Monopoly‘ müssen wir unbedingt auch noch spielen.“ „Ja natürlich“, erwiderte er und lachte, „das ist ja eigentlich das Spiel der Spiele, und ich habe es ewig nicht mehr gespielt. Allerdings müssen wir morgen spätestens um halb Zwölf eine längere Pause einlegen, denn ich habe etwas Wichtiges zu erledigen und bin dann für ein paar Stunden außer Haus.“
8.
Am nächsten Morgen war Kowalskis Laune ausgezeichnet. Er hatte gut geschlafen, sich eine ausgiebige Dusche gegönnt und anschließend sorgsam rasiert. Nach einer schnellen Tasse Kaffee und einer Scheibe Buttertoast hatte er sich besonders große Mühe mit dem Frühstück für seine Gefangene gegeben.
Als er das das Tablett mit Milchkaffee, Orangensaft, Croissants, Rührei, Käsestangen sowie frischen Feigen auf dem kleinen Tisch im Hobbyraum abstellte, strahlte Isabel übers ganze Gesicht. Während sie sich das Frühstück schmecken ließ, studierte er im Wintergarten auf seinem Smartphone die Route zum Eulenmoor und überlegte, wo die Stelle war, an der man das Auto abstellen konnte. Ihm war klar, dass er von dort aus zu Fuß noch eine ganze Strecke bis zum alten Bootshaus zurücklegen musste.
Dann ging er in den Hobbykeller, staunte über den großen Appetit seiner Gefangenen, die ihn anstrahlte und sich für das großartige Frühstück bedankte, und brachte das Tablett nach oben in die Küche.
Mit dem Karton von „Zug um Zug“ kehrte er zu Isabel zurück. Das Outdoor-Messer hatte er auf dem Nachttisch des Besucherzimmers liegen gelassen, er konnte sich nicht vorstellen, dass es noch von Nutzen sein würde.
Inzwischen hatte er so viel Vertrauen zu seiner attraktiven Geisel gefasst, dass er sie von ihrer Handfessel dauerhaft befreite. So konnte sie die Toilette aufsuchen, wann immer es nötig wäre. Das war auch für ihn eine praktische Lösung.
Allerdings wies er Isabel darauf hin, dass ein Fluchtversuch gravierende Folgen für sie haben könnte. Sie versprach ihm hoch und heilig, diesen Raum nicht verlassen zu wollen, solange er sie weiterhin so gut behandelte wie bisher. Wenn ihr Papa aber das Lösegeld gezahlt hätte, würde sie sich natürlich schon darüber freuen, in die Freiheit entlassen zu werden. „Dafür werden Sie doch Verständnis haben, oder?“, fragte sie ihn, und ihr Lächeln hatte etwas Verschwörerisches.
„Ja klar“, meinte er – und war einmal mehr fasziniert von ihren großen, himmelblauen Augen. Die fröhliche Unbeschwertheit, die sie ausstrahlte, bewunderte er, obwohl sie sich ja in keiner leichten Situation befand.
Er überlegte, ob es nicht an der Zeit sei, ihr zu gestehen, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte. Zugleich fragte er sich besorgt, ob er nicht gerade dabei sei, einen schweren Fehler zu begehen.
Seine aufflammenden Gefühle für diese junge Frau, die, soweit er wusste, Biologie-Studentin im fünften oder sechsten Semester war, verwirrten ihn. Bin ich etwa verliebt, fragte er sich – und er fürchtete sich vor einer Antwort.
Sie spielten zwei Partien „Zug um Zug“, und als Kowalski nach Beendigung der Revanche als Sieger feststand – er hatte sich mehrmals für seinen knappen Vorsprung entschuldigt – blickte er auf sein Handy und sah, wie spät es schon war. Auf einmal hatte er es sehr eilig.
Sein Plan war, etwa eine halbe Stunde nach der vereinbarten Geldablage am Bootshaus zu sein. Einerseits, um dem Milliardär genügend Zeit zu geben, nach dem Deponieren des Geldes in der alten Holzhütte zu verschwinden, damit sie sich nicht begegneten. Andererseits wollte er natürlich auch die Moneten nicht länger als nötig unbeaufsichtigt dort liegen lassen.
Man weiß ja nie, dachte er, welche Gestalten dort herumschleichen, und – aus welchem Grund auch immer – einen Blick in das Bootshaus werfen. Und ruckzuck ist der schöne Geldsegen in die falschen Hände geraten, und ich Trottel gucke in die Röhre.
Da er wusste, wo Achim Raumund den Schlüssel für seinen SUV aufbewahrte, lag es für ihn auf der Hand, sich den Wagen auszuleihen. Er brauchte fast ein Stunde bis zum Eulenmoor, und es war schon zehn Minuten nach Eins, als er den kleinen, mit grobem Kies und allerlei Unkräutern bedeckten Platz entdeckte, wo er den Wagen abstellen konnte.
Er erinnerte sich, dass hier vor vielen Jahren einmal ein Parkschild am Straßenrand gewesen war und so mancher Wanderer gern vom Parkangebot Gebrauch gemacht hatte, doch jetzt war der Einblick in den verwilderten Platz von einigen halbhohen Birken versperrt.
Kowalski konnte sich nicht vorstellen, dass Autofahrer diese verborgene Stelle überhaupt noch als Möglichkeit erkannten, ihren Wagen zu parken. Trotzdem vergewisserte er sich, dass hier kein anderes Fahrzeug stand, dann stieg er aus und begann seinen Fußmarsch zum alten Bootshaus.
Er war sicher, dass hier früher einmal ein breiter, solider und bequem zu begehender Wanderweg existiert hatte, doch jetzt war davon nur noch ein schmaler, matschiger Pfad übrig geblieben, der immer wieder von dichtem Gestrüpp überwuchert wurde.
Hin und wieder erschwerte eine umgefallene Mooreiche das Weiterkommen oder eine besonders sumpfige Stelle mitten auf dem Pfad machte einen Umweg durch dichtes Gesträuch erforderlich.
Um exakt Ein Uhr Achtundfünfzig erreichte Kowalski das alte Bootshaus. Seine Wanderschuhe waren mittlerweile völlig durchnässt, deshalb war es ihm relativ egal, dass der hölzerne Steg, der bis zum Eingang über einen in den Moorsee mündenden Bach führte, nur noch in verfaulten Bruchstücken existierte, und er immer wieder durch kniehohes, bräunliches Wasser waten musste.
Die ehemalige Eingangstür fehlte komplett, doch irgendjemand hatte eine inzwischen völlig zerfetzte Plastikplane über der Türöffnung befestigt. Das Dach war zum Teil eingefallen, und am seitlichen Anleger, über den das Wasser handbreit schwappte, konnte Kowalski kein Boot entdecken.
Kowalski hatte Mühe, sich vorzustellen, in dieser abgewrackten Bruchbude könne ein Koffer oder eine Tasche mit drei Millionen Euro deponiert sein, womöglich auf dem fauligen Holzboden in einer morastigen Wasserlache liegend. Doch als er mit klopfendem Herzen das verfallene, leere Gebäude betrat, erkannte er im Licht seiner Smartphone-Lampe, dass im hinteren Teil der Hütte eine schmale Bank stand, auf der eine braune Tasche lag.
Es handelte sich um eine Sporttasche, deren kunstlederne Hülle schon an mehreren Stellen abgeblättert war. Nur mühsam gelang es Kowalski, den Reißverschluss mit seinen vor Aufregung zitternden Händen zu öffnen.
Gespannt blickte er in die Tasche – und stieß einen Jubelschrei aus. Eine Gruppe Sumpfmeisen, die sich auf dem Dach niedergelassen hatte, sah sich zu einem fluchtartigen Ortswechsel gezwungen.
Der Geldsack hat wirklich Wort gehalten, dachte Kowalski überglücklich, während er den Gesamtwert der 500-Euro-Schein-Bündel schätzte. Es scheint zu stimmen, freute er sich, das können gut und gerne drei Mille sei. Aber jetzt sollte ich die Kohle schleunigst in Sicherheit bringen.
9.
Während er zu Achims Villa zurückfuhr, fochten verschiedene Gefühle in ihm einen harten Kampf aus. Zum einen war er mehr als zufrieden, die drei Millionen in der Tasche zu haben, zum anderen fürchtete er sich davor, das zu tun, was jetzt eigentlich unbedingt erforderlich war.
Sportwetten-Karl hatte natürlich vollkommen recht: Die Entführte am Leben zu lassen, wäre mit einem unverantwortlichen Risiko verbunden, schließlich war sie eine mehr als glaubwürdige Zeugin, die ihn, wenn’s blöd lief, für viele Jahre hinter Gitter bringen konnte. Also musste sie verschwinden, am besten für immer.
Doch war er wirklich imstande, dieser sympathischen, blendend aussehenden Studentin das Lebenslicht auszublasen? Er hatte da seine Zweifel.
Seine Unsicherheit wurde noch von einem Gefühl gesteigert, das ihm ziemlich unheimlich vorkam. Er spürte eine tiefe Zuneigung zu Isabel und musste sich eingestehen, dass dies ein verdammt gutes Gefühl war.
Er versuchte sich von dem Problem abzulenken, indem er an den Flug dachte, den er am Vortag nach Cancun gebucht hatte, natürlich erster Klasse. Morgen Vormittag um 11.30 Uhr würde er Richtung Karibisches Meer durchstarten, mit einem prall gefüllten Geldkoffer im Handgepäck. Er wusste, dass dies keine optimale Lösung war, doch in der Kürze der Zeit blieb ihm nichts anderes übrig, als das Bargeld mit an Bord zu nehmen.
In Mexiko angekommen würde er erst einmal in einem Luxushotel auf der Isla Cancun einchecken, am Pool bei einem Tequila Sunrise relaxen und am Traumstrand die Seele baumeln lassen. Dann würde er in verschiedenen Banken Konten eröffnen, und – bis auf ein fürstliches Taschengeld – dort jeweils einen Teil des Geldes deponieren.
Als er den SUV neben dem italienischen Sportwagen in der Doppel-Garage der Zahnarzt-Villa parkte, signalisierte ihm sein Handy die Ankunft einer eMail. Die Nachricht kam von Sportwetten-Karl. „Na mein Junge“, schrieb er, „läuft alles nach Plan? Garantierst du mir, dass morgen die fette Kohle in der Moorhütte bereit zum Abholen liegt, wenn ich den mühsamen Weg dorthin auf mich genommen habe?“
Dieser Arsch, dachte Kowalski, gut, dass ich mich morgen Mittag rechtzeitig aus dem Staub gemacht haben werde, wenn der Geizkragen entdeckt, dass ich ihn übers Ohr gehauen habe. In seiner Wut wäre der fähig, mir den bestbezahlten Killer der europäischen Wettmafia auf den Hals zu hetzen.
Kurz überlegte er, dem Wetthai gar keine Antwort zu schicken, entschied sich aber dann dagegen. „Hallo Karl“, tippte er in sein Smartphone, „keine Sorge, du kannst Gift darauf nehmen, dass die drei Mille hübsch verpackt im alten Bootshaus auf dich warten. Aber pass auf die Sumpfottern auf, wenn du durchs Moorwasser watest. Bis die Tage: Tom.“
Gut gelaunt packte er im begehbaren Kleiderschrank von Achims Kingsize-Schlafzimmer ein paar Sachen in einen kleinen Koffer, den er auf dem Dachboden entdeckt hatte. Da sein Freund ungefähr die gleiche Körpergröße wie er hatte und ebenfalls über eine sehr schlanke Figur verfügte, sollten die T-Shirts, Boxershorts, Jeans und Bermudas, die er auswählte, einigermaßen passen.
Es ist ja nur für die ersten Tage, dachte Kowalski, bis ich mich in einer schicken Boutique ganz neu einkleidet habe – und legte noch eine dunkelblaue Badehose in den Koffer.
Dann holte er die vielen Geldbündel aus Piepenbrinks Sporttasche und verstaute sie in einem leichten, aber stabil wirkenden Alu-Aktenkoffer mit hochwertigem Schloss, den er ein paar Tage zuvor gekauft hatte.
Er hatte extra darauf geachtet, dass dieser Aktenkoffer den für Lufthansa-Handgepäck vorgeschrieben Höchstmaßen entsprechen würde. Im Badezimmer stellte er das Geld-Köfferchen auf die Personenwaage und stellte zufrieden fest, dass es nicht mehr als 8 Kilogramm wog.
Ihm fiel ein, dass er noch ein Taxi zum Flughafen bestellen musste, und griff zum Smartphone. Halb Neun müsste eigentlich reichen, dachte er, und googelte die Nummer des örtlichen Taxi-Unternehmens.
10.
Kowalski hatte Isabels Bitte, sich duschen zu dürfen, nicht abschlagen können. „Keine Angst“, hatte sie grinsend gesagt, „ich hau’ schon nicht ab. Aber ich fühle mich ziemlich schmutzig, und meine Haare müssten auch mal wieder gewaschen werden.“
Sie staunte, als er sie in Achims Badezimmer im ersten Stock führte. „So eine riesige Duschkabine habe ich noch nie gesehen“, sagte sie, „aber jetzt sollten Sie mich besser allein lassen.“
Isabel braucht ziemlich lange, dachte er, während er im Hobbyraum am kleinen Tisch vor der Couch saß und ungeduldig auf ihre Rückkehr wartete, das Monopoly-Spiel bereits aufgebaut, neben dem Spielbrett zwei Keramikbecher, eine Thermoskanne und einen kleinen Teller mit Schoko-Keksen platziert. Hoffentlich ist der Kaffee noch heiß, wenn sie kommt, dachte er.
Als sie endlich den Raum betrat, fühlte er sich bei ihrem Anblick wie berauscht. Sie trug einen schneeweißen Bademantel, und ihre frisch gewaschenen, langen blonden Haare schmiegten sich, noch nicht ganz trocken, an ihre schmalen Schultern.
„Ich habe mir erlaubt, den kuscheligen Bademantel des Hausherren auszuleihen“, meinte sie mit einem schelmischen Lächeln, „er hing praktischerweise in der Nähe der Dusche. Ich hoffe, es stört sie nicht, wenn ich mich ein bisschen leger verhalte.“
„Nein nein, überhaupt nicht“, erwiderte er, während sie sich auf die Couch setzte. „Das ist das ja ein super Service“, meinte sie und zeigte auf den Tisch, „Monopoly bei Kaffee und Plätzchen, wirklich eine tolle Idee. Und die Geldscheine haben Sie auch schon passend verteilt, wie ich sehe. Na prima, dann können wir ja gleich durchstarten.“
Während Kowalski die Becher mit Kaffee füllte, stieg ihm der Duft von Isabels frisch gewaschenen Haare angenehm in die Nase. Sie muss ein Shampoo benutzt haben, das ein Pfirsich-Aroma hat, dachte er – und fand, dass diese Geruchsnote wunderbare zu ihr passte.
Isabel nahm sich einen Schokoladen-Keks, biss genüsslich die Hälfte davon ab und fragte kauend, ob sie auswürfeln sollten, wer anfängt, da musste Kowalski plötzlich daran denken, dass er dieses Mädchen eigentlich noch umbringen und die Leiche entsorgen musste. Und das sollte erledigt sein, bevor er morgen früh ins Taxi stieg.
Allerdings musste er sich eingestehen, dass er dazu nicht in der Lage sein würde. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, dachte er, ich kann ihr kein Haar krümmen.
Isabel merkte, dass ihr Spielpartner abgelenkt war. „Erde an Raumstation“, sagte sie, „ist dort oben noch alles in Ordnung?“ Er zuckte kurz zusammen, um dann „Entschuldigung“ zu murmeln. Nach einer kleinen Pause setzte er zu einer Erklärung an: „Ich hab’ nur gerade überlegt, ob ich für uns zum Abendessen eine Pizza bestellen soll, oder ob wir uns doch lieber etwas vom indischen Restaurant liefern lassen. Was meinen Sie?“
Sie ließ ihm die Wahl, merkte aber an, dass sie etwas Vegetarisches bevorzugen würde, und so bestellte er beim Ristorante Vesuvio telefonisch eine Familienpizza Quattro Formaggi.
Die Wartezeit vertrieben sie sich mit „Monopoly“, und weil Isabel auf Schlossallee und Parkstraße Hotels gebaut hatte, geriet Kowalski schnell auf die Verliererstraße.
Da sich die Pizza-Lieferung stark verzögerte, Kowalski musste noch einmal im Restaurant anrufen und die Adresse erneut angeben, blieb ihnen noch reichlich Zeit. Sie nutzten sie, indem sie sich vergnügt im „Verrückten Labyrinth“ tummelten und einen fröhlichen Ausflug nach „Carcassonne“ unternahmen. Kowalski machte es nichts aus, in beiden Spielen zu verlieren, zu sehr genoss er Isabels Gesellschaft.
Später ließen sie sich die Pizza schmecken und leerten dazu eine Flasche edlen französischen Rotwein, die Kowalski sich aus dem gut bestückten Weinregal im benachbarten Kellerraum stibitzt hatte. Isabel gab lustige Anekdoten von ihrer letztjährigen Radtour durch Südschweden zum Besten, und Kowalski erzählte, wie er einmal auf einer Alm in Südtirol von übermütigen Kühen gejagt worden war.
Einige Stunden später, Kowalski lag im Bett des Gästezimmers, konnte er nicht einschlafen. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal einen so schönen Abend verbracht hatte. Er fühlte sich wie verzaubert, und wusste natürlich, dass ausschließlich Isabel für diese Magie verantwortlich war.
Die Vorstellung, morgen früh in den Flieger zu steigen – und das Mädchen hier zurückzulassen, warf einen Schatten auf sein Glücksgefühl, und dieser Schatten wurde auch nicht durch die Gewissheit beiseite geschoben, mit einem fetten Geldkoffer nach Mexiko zu reisen. Unruhig und aufgewühlt warf er sich im Bett hin und her.
Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus dem Flur zu kommen schien. Er hob den Kopf und blickte gespannt zur Tür. Ganz langsam wurde die Tür geöffnet, und im dämmrigen Licht, das vom Flur hereindrang, sah er eine Gestalt im Türrahmen stehen. Es war Isabel.
Mit geschmeidigen Bewegungen bewegte sie sich auf sein Bett zu. Gebannt beobachtete er, wie sie ihren Bademantel auszog und ihn auf den Teppichboden fallen ließ. Dann legte sie sich neben ihn, und für einen Moment stellte er das Atmen ein.
11.
Kowalski hatte den Radiowecker auf sieben Uhr programmiert, doch bereits um kurz nach Sechs war er wach. Er spürte die Wärme von Isabels Körper und fragte sich, ob er noch in einem Traum gefangen war.
Als sie ihren Arm über seinen Brustkorb schob, wusste er, dass er nicht träumte. Vor lauter Glück umfasste er ihr Handgelenk und drückte es so fest, dass sie wach wurde. „Guten Morgen, mein Lieber“, murmelte sie, und es klang überhaupt nicht vorwurfsvoll. Dann küsste sie ihn sanft auf die Wange und setzte sich im Bett auf. „Was hältst du davon, wenn ich uns einen Kaffee mache?“
„Das wäre toll“, antwortete er, „aber das gehört eigentlich zu meinen Pflichten.“ „Nein nein“, lachte sie – und war schon aufgestanden. Sie zog sich den Bademantel über, sagte „Bleib du noch liegen, bis gleich“ und verließ das Gästezimmer.
Kowalski wusste nicht, wie er es Isabel beibringen solle, dass er in wenigen Stunden in einem Flugzeug nach Mexiko sitzen würde. Er hoffte, sie würde sich hauptsächlich darüber freuen, nicht länger Gefangene in diesem Haus zu sein, gleichzeitig wünschte er sich aber auch, dass sie traurig wäre, sollte er nicht mehr in ihrer Nähe sein. Er hoffte einfach, dass sie ihn vermissen würde – und zwar sehr.
Sie wird bestimmt Verständnis für meine Situation aufbringen, versuchte er sich Mut zu machen, allerdings war er sich nicht sicher, wie sie nach dieser fantastischen Nacht reagieren würde.
Sie könnte wütend sein, dachte er, oder fassungslos. Oder einfach todtraurig. Vielleicht wäre es ihr auch egal, dass er nach Mexiko verschwand, überlegte er, versuchte diesen Gedanken aber sofort wieder beiseite zu schieben.
Und dann erlöste ihn Isabel aus seinen Grübeleien, indem sie Kaffee und Marmeladentoasts servierte. „Frühstück im Bett“, rief sie munter und bestens gelaunt, stellte das Tablett behutsam auf der breiten Matratze ab und gesellte sich zu Kowalski.
„Super“, meinte er, griff sich einen der dampfenden Kaffeebecher, pustete hinein und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Dann stellte er den Becher wieder aufs Tablett zurück und sagte in einem ernsten Tonfall: „Isabel, ich muss dir etwas sagen, ich …“
„Wenn du mir sagen möchtest“, fiel Isabel ihm ins Wort, „dass mein werter Herr Papa das Lösegeld für mich gezahlt hat, dann ist das eine gute Nachricht.“
Kowalski war verblüfft. „Und wenn du mir mitteilst“, fuhr sie lächelnd fort, „dass die Moneten, und es handelt sich dabei bestimmt um ein ganz nettes Sümmchen, da bin ich sicher, dass also das ganze Bargeld bereits in deinem Besitz ist, dann höre ich das wirklich gern. Falls du jetzt auch noch zugeben solltest, mit dem ganzen Zaster schnellstmöglich das Weite suchen zu wollen und du schon auf dem Sprung bist, dann habe ich dafür ebenfalls vollstes Verständnis.“
Erst wusste er nicht, was er darauf antworten solle, doch nach kurzem Nachdenken, Isabel ließ sich inzwischen ein Toast schmecken, sagte er: „Es fällt mir wirklich schwer, es zuzugeben, aber du hast in allem Recht. Um halb Neun kommt ein Taxi und bringt mich zum Flughafen. Um 11.30 Uhr startet dann mein Flieger Richtung Cancun. Und dein Vater hat in der Tat eine stolze Summe für dich locker gemacht.“
Isabel nahm einen Schluck Kaffee. Ihr Miene strahlte Zufriedenheit aus, als sie fragte: „Wäre in der Maschine noch ein Platz frei?“
Kowalski brauchte einen Moment, um ihre Frage richtig einordnen zu können, doch dann nahm er ihr den Kaffeebecher aus der Hand, stellte ihn auf’s Tablett und umarmte sie.
Sie hielten sich fest umklammert, als er fragte: „Bist du wirklich sicher, dass du nach Mexiko mitkommen willst?“ „Ja klar, was denkst du denn“, antwortete sie und grinste dabei.
Dann löste sie sich aus seinen Armen, schaute ihn wieder mit diesem schelmischen Ausdruck an, den er so an ihr mochte, und meinte: „Aber zwei Dinge solltest du unbedingt wissen. Erstens werde ich nur so lange deine Begleiterin sein, wie ich Lust dazu verspüre. Und zweitens werde ich meinen Anteil am Ausgeben des Lösegeldes haben, und das hat auch einen Grund: Obwohl mein Dad so stinkreich ist, hat er sich mir gegenüber immer äußerst knauserig gezeigt. Und jetzt werde ich mir halt mal etwas gönnen, auf seine Kosten natürlich. Außerdem kann er es bestimmt verschmerzen, sollte ihm die ein oder andere Million fehlen.“
Kowalski war beeindruckt. Dieses Mädchen ist der Hammer, dachte er und konnte sein Glücksgefühl nur mit einem Nicken und einem knappen „Okay“ zum Ausdruck bringen.
Isabel küsste ihn auf den Mund, strahlte ihn dann an und sagte: „Na dann check doch gleich mal auf der Homepage der Fluglinie, ob du noch einen zusätzlichen Platz buchen kannst. Und falls nichts mehr frei sein sollte“, fuhr sie fort, „dann reserviere mir eben für den nächsten Flug nach Cancun einen Platz. Du musst mir aber versprechen, mich dann vom Airport abzuholen.“
„Alles klar, natürlich“, antwortete er, sprang aus dem Bett und hatte es auf einmal furchtbar eilig, sein Handy zu holen, das er wahrscheinlich im Hobbykeller liegen gelassen hatte. „Aber erinnere mich daran“, rief er ihr zu, bevor er aus dem Zimmer war, „dass ich nicht vergesse, den Aktenkoffer mit dem Geld mitzunehmen.“ „Mach ich“, rief sie ihm lachend hinterher.
12.
In wenigen Minuten würde die Sonne als glutroter Ball im dunkelblauen Meer versinken. Isabel liebte diesen Moment über alles, sie konnte sich an diesem bezauberndem Schauspiel einfach nicht satt sehen.
Auf der direkt hinter dem Strand liegenden Terrasse des Hotelrestaurants hatte ein frischer, von Kuba herüber wehender Wind die schwüle Hitze des Tages vertrieben.
Sie hatten sich bereits ihre Vorspeisen schmecken lassen und vertrieben sich die Wartezeit auf den Hauptgang mit einem Kartenspiel. Der elegant gekleidete Kellner brachte eine neue Flasche Weißwein, entkorkte sie, füllte ihre Gläser und stellte die schlanke Flasche in den Weinkühler aus Edelstahl.
Isabel legte ihre letzte Karte auf den Tisch und rief laut „Maumau“, was dem älteren Kellner ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Obwohl er dieses Spiel nicht kannte, war ihm klar, dass diese hübsche junge Lady schon wieder gewonnen hatte.
„Hättest du das Kartenspiel nicht noch schnell in deine Jackentasche gesteckt, als der Taxifahrer an der Haustür geklingelt hat, wären wir während des langen Fluges vor Langeweile bestimmt gestorben“, meinte Isabel. „Da könntest du recht haben“, erwiderte Kowalski und dachte, dass dieser Tag vielleicht der glücklichste in seinem Leben war. „Und hättest du nicht daran gedacht, den Geldkoffer mitzunehmen, als das Taxi da war, könnte ich nachher die Rechnung nicht bezahlen“, sagte er schmunzelnd.
Erneut stießen sie bestens gelaunt mit ihren Weingläsern an. „Ich denke, dieses Glas wird mein letztes sein“, meinte Isabel grinsend, „sonst muss mich der Kellner noch ins Hotelzimmer tragen.“ „Ich glaube, ich habe auch bald mein Limit erreicht“, erwiderte Kowalski, „aber dieser Wein ist einfach zu köstlich.“
Während er sein Glas noch einmal auffüllte, vibrierte das Handy in seiner Hosentasche. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, das Smartphone an diesem Abend überhaupt nicht zu benutzten, doch seine Neugier war zu groß.
Es war eine Nachricht von Sportwetten-Karl. „Glaub’ bloß nicht, dass du damit davonkommst“, las Kowalski. „Wenn du mir die drei Millionen nicht innerhalb von 24 Stunden auf ein dir bekanntes Konto überweisen solltest, lasse ich dich von meinen Männern jagen, und ich versichere dir, das sind Profis, die kriegen dich, egal wo du dich aufhältst, und dann geht es dir an den Kragen. Aber bevor diese Typen dich alle machen, werden sie dir noch schlimme Schmerzen zufügen, und ich garantiere dir: Davon verstehen die was – und haben auch noch Spaß dabei. Also überlege es dir, du Wahnsinniger, sei kein Idiot.“
Kowalski brauchte nicht zu überlegen, denn er schloss aus, dass die unterbelichteten Lakaien des Wetthais in der Lage wären, ihn hier aufzuspüren. Insofern jagte ihm die eMail von Sportwetten-Karl auch keine Angst ein. Die drei Mille kann dieser verdammte Kerl vergessen, dachte er – und leerte sein Glas.
Außerdem hatte er nicht vor, für alle Ewigkeiten hier in Cancun zu bleiben. Ein paar Wochen vielleicht noch, dachte er, und dann könnten wir ja mal nach Neuseeland düsen, dort soll es auch schön sein. Mit einem Wohnmobil die Gegend erkunden, das hätte doch was. Er sollte demnächst einmal mit Isabel darüber reden.
Isabel war aufgefallen, dass Kowalski etwas auf dem Handy gelesen hatte, dass ihn nachdenklich stimmte. „Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte sie. „Nein nein, alles okay“, meinte er, „nur eine eMail von einem alten Kumpel, der mir Urlaubsgrüße aus Neuseeland schickt. Es scheint ihm dort sehr gut zu gefallen.“ „Neuseeland soll wirklich sehr schön sein“, erwiderte Isabel, „da würde ich vielleicht auch gern einmal hinfliegen."
„Das ließe sich eventuell einrichten“, meinte Kowalski, dabei war ihm die Zufriedenheit förmlich ins Gesicht geschrieben. Er nahm sich vor, das Thema am kommenden Tag noch einmal aufgreifen.
Als der gegrillte Fisch serviert wurde, verabredeten sie sich, später auf dem Hotelbalkon noch einige Partien Rommé zu spielen. „Solange die Kräfte reichen“, sagte Kowalski augenzwinkernd, „aber ich warne dich, Isabel, beim Rommé bin ich kaum zu schlagen.“ „Na, da bin ich aber gespannt, ob Fortuna sich einmal gnädig zeigt“, erwiderte sie und lachte.
13.
Am nächsten Tag blieben sie lange im Bett liegen und ließen sich ein spätes Frühstück auf’s Zimmer bringen. Während Kowalski Tourismus-Broschüren studierte und sich im Internet über mögliche Ausflugsziele informierte, entschloss sich Isabel, ihrem Vater eine Nachricht zu senden, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht tot, sondern gesund und munter war.
Die Entführer hätten sie nach dem Erhalt des Lösegeldes sofort freigelassen, schrieb sie in ihrer eMail. „Um mich von den Strapazen und dem ganzen Schrecken zu erholen, habe ich mich dazu entschlossen, erst einmal ein paar Tage an einem schönen Ort Urlaub zu machen, inkognito sozusagen. Ich hoffe, du bist mir nicht allzu böse. Ich melde mich wieder.“
Nachdem sie aufgestanden waren und geduscht hatten, schlug Kowalski Isabel vor, sich am frühen Nachmittag einen Mietwagen zu leihen und einen Trip zum Playa Paraiso zu machen. „Der Strand dort soll wirklich paradiesisch sein“, meinte er. „Das klingt gut“, erwiderte Isabel, „aber wir sollten nicht zu spät am Abend zurück sein, damit wir noch eine Partie Rommé spielen können. Nachdem du mich gestern Abend mit viel Glück besiegt hast, schuldest du mir noch eine Revanche.“
„In Ordnung“, sagte Kowalski, „so machen wir das. Da fällt mir ein, dass ich dir noch gar nicht erzählt habe, im Internet ein paar Spiele bestellt zu haben. Die können sogar an unser Hotel geliefert werden, und es dauert angeblich nur zwei oder drei Tage, bis sie kommen. Monopoly, Siedler und ein paar andere Klassiker sind natürlich mit dabei. Wir können ja schließlich nicht immer nur Karten spielen.“
Isabel strahlte übers ganze Gesicht. „Das ist einfach wunderbar, dann sind unsere Flitterwochen ja gerettet.“ „Auf jeden Fall“, erwiderte er, „aber hast du keine Angst davor, spielsüchtig zu werden?“ „Nicht, wenn du weiterhin mein treuer Spielpartner bleibst“, meinte sie, grinste und umarmte ihn.
Bei dem Mietwagen-Verleih umweit des Hotels hatten sie einen knallrotes Cabriolet ausgewählt und fuhren mit ihm in gemächlichem Tempo auf der Bundesstraße 307 gen Süden. Isabel hatte ihr Haarband gelöst, so dass ihre blonde Mähne im Fahrtwind wehte.
„Da bin ich ja gespannt“, sagte sie, „ob dieser Playa Paraiso wirklich noch schöner ist als unser Hotelstrand.“ „Wir werden sehen“, antwortete er, „und für den Fall, dass es uns an diesem Traumstrand zu langweilig werden sollte, habe ich etwas eingesteckt.“
Er löste seine rechte Hand vom Lenkrad, bog den Arm nach hinten, um irgendetwas aus seiner Gesäß-Hosentasche zu ziehen. „Nämlich das hier“, rief er und hielt ein kleines Kartenspiel wie eine Trophäe in die Höhe. „Du glaubst es nicht“, sagte Isabel und lachte, bis ihr die Tränen kamen.
Kowalski wurde von ihrem Lachen angesteckt, und als sich beide wieder beruhigt hatten, grinste er zufrieden, während Isabel sich mit einem Taschentuch die Augen trocknete.
Die Heiterkeitspause währte allerdings nur kurz, denn plötzlich meinte Isabel in einem beiläufigen Tonfall: „Dann können wir die Playa Paraiso ja in Playa Mau-Mau umtaufen“. Das folgende Lachgewitter führte fast dazu, dass Kowalski die Highway-Ausfahrt zum neu benannten Strand verpasste.