Plan B – Teil 2

 

1.

 

„Für einen Kidnapper und sein Entführungsopfer sind wir doch ein ganz nettes Paar, oder meinst du nicht, Tom?“, fragte Isabel und grinste bis über beide Ohren. „Da kann ich dir wirklich nicht widersprechen“, meinte Kowalski schmunzelnd und hielt Isabel sein noch halb mit einem Blenheimer Pinot Noir gefülltes Glas zum Anstoßen entgegen.

 

Von einem plötzlichen Lachreiz gepackt verschluckte er sich beim Trinken, so dass Isabel ihren Partner gut gelaunt ermahnte: „Immer schön langsam, mein Lieber, oder willst du, dass der exzellente Wein das weiße Tischtuch dekoriert?“

 

Seit sie dem mexikanischen Cancun und den benachbarten Traumstränden den Rücken zugekehrt und ihr Vorhaben realisiert hatten, nach Neuseeland zu fliegen, reisten sie mit ihrem Mietwagen von Weingebiet zu Weingebiet. „Kann es einen schöneren Plan geben, als die beiden Inseln auf einer Route quer durch ihre Weinanbau-Regionen zu erkunden?“, hatte Kowalski gefragt, worauf Isabel erwidert hatte, das dies sehr verlockend klingen würde und sie jetzt schon neugierig auf die verschiedenen Landschaften und die zugehörigen Weine sei. 

 

Und so hatten sie sich nach der Landung ihres Fliegers auf dem Auckland Airport unweit des Flughafens einen großen, komfortablen Campingbus gemietet und waren in Richtung Norden bis zum malerisch gelegen Riverhead Walkway Carpark gefahren, um sich dort von den Strapazen des langen Fluges und dem Jetlag zu erholen. 

 

Nach ein paar Tagen mit ausgiebigen Wanderungen durch den großartigen Riverhead Forest hatten sie ihren Van zum kleinen, aber idyllisch gelegenen Weinort Huapei gesteuert. Auf Coopers Creep Vineyard hatten sie sich von einer freundlichen, sachkundigen Dame die edelsten Tropfen aus dem Weinkeller einschenken lassen. Gemütlich im überdachen Innenhof sitzend waren sie vor allem vom ausgezeichneten Limeworks Chardonnay begeistert. 

 

Ein Spaziergang durch die wunderschöne Umgebung und ein Abendessen in der gemütlichen Huapei Tavern mit üppigen, rustikalen Pub-Gerichten hatten den herrlichen Tag abgerundet. Und am nächsten Morgen war es dann ausgeruht weitergegangen – immer Richtung Süden. Zuerst nach Waikato, dann über Gisborne und Hawke’s Bay bis runter nach Wairapapa am südlichsten Zipfel der Nordinsel. 

 

Dem lohnenswerten Besuch in einem Weingut von Martinborough war ein Abstecher zum Cape Palliser gefolgt. Während Kowalski sich kaum von den traumhaften Ausblicken am Castlepoint Leuchtturm trennen konnte, war Isabel völlig von der benachbarten Robben-Kolonie fasziniert.

 

Nach der Fähr-Übersetzung auf die Südinsel waren sie jetzt in Marlborough angekommen, probierten die besten Weine der Region und ließen sich die kulinarischen Spezialitäten munden. 

 

Als Höhepunkt auf diesem Trip stellte sich die Weinverköstigung mit den begleitenden Speisen in den Cloud Day Vineyards in der Nähe von Blenheim heraus. Und der Besuch des Vogel-Paradieses der Grovetown Lagoon am Wairau River nördlich von Blenheim erwies sich für Isabel und Kowalski als ein beeindruckendes Naturerlebnis. 

 

Zurück in Blenheim überredete Isabel Kowalski nach einem tollen Abendessen in den St. Leonards Vineyard Cottages, die Nacht statt im Wohnmobil in einem gemütlichen Doppelbett der außergewöhnlichen Hotelanlage zu verbringen. Und so checkten sie in dem stilvoll eingerichteten Cottage namens Whoolshed ein. Doch bevor sie Schlafen gingen, zauberte Kowalski noch ein Phase-10-Kartenspiel aus seinem Rucksack hervor. 

 

„Ja super“, sagte Isabel, „ich wusste gar nicht, das du das eingesteckt hast.“ Grinsend fügte sie noch hinzu: „Ich hab’ den Verdacht, dass du mich jetzt gleich herausfordern willst.“ „Natürlich“, meinte Kowalski und lachte, „schließlich habe ich die letzten Partien alle schmählich verloren.“ „ Ich hab das zwar etwas anders in Erinnerung“, erwiderte Isabel und zeigte dabei ein verschmitztes Lächeln, „aber egal, du sollst deine Chance bekommen.“ 

 

Als Kowalski bei der zweiten Spielrunde gewonnen hatte, stand die Zufriedenheit in seinem Gesicht geschrieben, und er sagte: „Heute war ein guter Tag, Isabel, aber jetzt bin müde.“ „Dann lass uns ins Reiche der Träume übersiedeln“ erwiderte Isabel, „ich bin auch hundemüde. Aber erst noch Zähneputzen, Tom.“ 

 

2.

 

Am nächsten Morgen ließen sie sich ausgeruht und in bester Stimmung das rustikale Frühstück schmecken. Kowalski erkundigte sich bei John, dem freundlichen Kellner, ob sich ein Abstecher ins Innere der Insel lohnen würde, bevor sie auf der Ostküstenstraße in Richtung Christchurch weiter fahren wollten. John empfahl, unbedingt den Lake Rotoiti zu besuchen. „Von Blenheim aus sind Sie gleich auf dem State Highway 63“, sagte er, „der führt immer am wunderschönen Wairau River entlang, direkt bis zum herrlichen See. Ich glaube, die Strecke ist keine hundert Kilometer lang.“ 

 

John wies noch auf einen schönen Rast- und Stellplatz für das Campingmobil auf dem Weg zum Lake Rotoiti hin. „An der Kowhai Point Camping Arena können sie wunderbar einen Stop einlegen oder übernachten. Der Platz ist malerisch direkt am Fluss gelegen. Von dort aus sind es nur noch etwa dreißig Kilometer bis zum See.“ 

 

Isabel und Kowalski überlegten nicht lange. Der Kellner hatte sie neugierig auf den See gemacht, und die Aussicht, immer gemütlich an einem wilden Fluss entlang zu fahren, erschien ihnen großartig. Und so verließen sie Blenheim, stießen nach ein paar Kilometern auf den Highway Nr. 63 – und zehn Minuten später sahen sie schon den Fluss mit seinen breiten Kiesbänken.

 

In ein bis zwei Kilometern Entfernung ging es immer im Sightseeing-Tempo am Flussbett entlang, und bald hatten sie einen herrlichen Blick auf den Maungakura, einen über 1.700 Metern hohen Berg, der auch Red Hill genannt wurde. 

 

Isabel freute sich schon darauf, am von John empfohlenen Rastplatz einen Kaffee zu trinken und sich vielleicht mit einem kleinen, im Rucksack verstauten Imbiss zu stärken. Es kann eigentlich nicht mehr weit bis zu der Camping Arena sein, dachte sie, doch jetzt fiel ihr auf, dass Kowalski häufig in den Rückspiegel blickte und seine Miene einen ernsten Ausdruck angenommen hatte.

 

„Was ist los, Tom?“, fragte sie, „du wirkst seltsam nervös“. „Ach, wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten“, antwortete Kowalski, „aber mir ist aufgefallen, dass uns seit einiger Zeit ein schwarzer SUV verfolgt. Ein paar Mal ist hat er sich schon fast bis zu unserer Stoßstange genähert, aber überholen will er uns anscheinend nicht, obwohl wir ja gerade mal Fünfzig fahren. Seltsam, findest du nicht auch?“

 

Isabel stimmte Kowalski zu und drehte den Rückspiegel ein wenig, so dass sie einen Blick nach hinten hatte. Sie sah, dass der wuchtige Geländewagen bedrohlich nah gekommen war. „Was soll das denn, Tom?“, fragte sie. „Ich habe keine Ahnung, Isabel. Vielleicht werden wir den Kerl ja los, wenn wir den Campingplatz erreicht haben, eigentlich müssten wir in ein paar Minuten da sein. Bis dahin bleiben wir einfach ganz cool.“

 

Doch Isabel merkte an Kowalskis Stimme und seinem Gesichtsausdruck, dass er alles andere als cool war. Sie warf wieder einen Blick in den Spiegel und registrierte, dass der Fahrer seine Augenpartie hinter einer großen Sonnenbrille verborgen hatte und eine rote Baseballkappe trug. Sie bemerkte noch, dass sein Kinn eine Art Ziegenbart schmückte, was bei ihr gleich den Eindruck erweckte, dieser Typ sei nicht unbedingt vertrauenswürdig. 

 

Kowalski erhöhte das Tempo bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit, aber der Verfolger klebte weiterhin am Heck ihres Vans. Und auch, als er das Fahrtempo wieder deutlich reduziert hatte und nur noch mit dreißig Stundenkilometern über den Highway schlich, machte der Pilot des schwarzen SUV keinerlei Anstalten, sie zu überholen. Stattdessen rauschten andere Fahrzeuge am Wohnmobil und seinem Verfolger vorbei, nachdem sie vorher mit Lichthupensignalen ihren Unmut über die langsame Fahrweise kundgetan hatten. 

 

Fünf Minuten später hatten Isabel und Kowalski den Kowhai Point erreicht. Sie bogen auf die Camping Arena ein, wobei Isabel ihm Rückspiegel sah, dass der SUV ihnen folgte. Das Gelände erwies sich als einfacher Platz mit freien Stellplätzen, einer Reihe von Picknicktischen und zwei Toiletten. Kowalski steuerte das Wohnmobil bis ans Ende der Camping Arena und parkte auf dem letzten Stellplatz. 

 

Zu Isabels Beruhigung war der schwarze SUV ihnen nicht bis hierhin gefolgt, sondern hatte ganz am Anfang des Platzes angehalten, direkt neben dem ersten Toilettenhäuschen. Isabel bemerkte, dass der ziegenbärtige Fahrer ausstieg, das WC ansteuerte und es betrat. 

 

„Vielleicht sollten wir diesen Typen einfach vergessen“, meinte Kowalski, der ebenfalls den Gang ihres Verfolgers zum Klo bemerkt hatte. „Lass uns doch einfach an den Picknicktisch dort vorne setzen, den Sonnenschein und die gute Luft genießen und uns mit einem Kaffee aus der Thermosflasche stärken. Dazu könnten wir die Cookies probieren, die uns der freundliche Hotelmanager mit auf den Weg gegeben hat. Ich denke, dass im Rucksack auch noch ein paar Äpfel sein müssten. Und schau mal, Isabel, durch die Bäume kann man von hier aus ein Stück vom Fluss sehen.“

 

„Na gut, Tom“, sagte Isabel, „vielleicht haben wir ja Glück, und der Kerl fährt gleich wieder weiter, wenn er vom Klo zurück ist. Und dann können wir unser kleines Picknick genießen und die ganze Sache einfach abhaken.“ „Das sehe ich genauso“, erwiderte Kowalski, schnappte sich den Rucksack mit dem Reiseproviant und stieg aus. 

 

Mit Blick auf einen kleinen Abschnitt des dicht mit Kieseln bedeckten Flussufers nahmen Isabel und Kowalski auf der hölzernen Bank Platz, breiteten ein kleines Baumwolltuch auf dem Picknicktisch aus und legten Äpfel und Schoko-Cookies darauf. Kowalski goss Kaffee in zwei Plastikbecher, die er in einem Schränkchen der kleinen Bordküche gefunden hatte, und dann ließen sie sich die überschaubare Pausenmahlzeit schmecken. 

 

Was die Stimmung allerdings etwas trübte, war die Tatsache, dass der SUV ihres Verfolgers immer noch am Anfang des Platzes parkte. Zu Isabels Bedauern war Mr. Ziegenbart nach seinem Klobesuch nicht weitergefahren, sondern hockte seitdem im Auto und telefonierte mit seinem Smartphone. 

 

Nach ihrer Kaffeepause unternahmen Isabel und Kowalski einen kleinen Spaziergang zum nahen Flussufer. Nachdem sie eine  Reihe von großen Bäumen durchquert hatten, bot sich ihnen der freie Blick auf das breite Tal des Wairau Rivers mit seinen ausladenden Kies- und Schotterbänken und die dahinter liegenden Berge. 

 

Isabel konnte sich kaum von der fantastischen Aussicht trennen, doch Kowalski meinte, es sei besser, jetzt weiterzufahren. „Wir sollten nicht zu spät am See ankommen“, gab er zu bedenken, „schließlich müssen wir uns noch einen Stellplatz suchen. Und vielleicht ist so auch noch genügend Zeit, ein Stück am Seeufer entlang zu laufen, bevor die Sonne hinter den Bergen verschwindet.“

 

Isabel war einverstanden, und so stiegen sie wieder in ihren Van. Der schwarze SUV parkte immer noch am Anfang der Camping Arena, und zum ersten Mal beschlich Isabel ein mulmiges Gefühl. Sie war sicher, dass der Ziegenbart-Typ nur darauf wartete, dass sie los fuhren, um dann wieder ihre Nachhut zu bilden.

 

3.

 

Kowalski wollte gerade den Motor starten, da ertönte der Signalton seines neuen Handys. Es war das erste Mal, dass dies seit ihrer Ankunft auf Neuseeland geschah, und so war er neugierig darauf zu erfahren, wer ihm da eine Nachricht geschickt hatte.

 

Als er sah, von dem die E-Mail stammte, verfinsterte sich seine Miene, und er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Sportwetten-Karl hatte ihm eine Botschaft geschrieben. Wie ist das bloß möglich, fragte sich Kowalski, der Kerl kann unmöglich meine neue IP-Adresse kennen.  

 

„Verdammt noch mal“, erfuhr es ihm, „das darf doch nicht wahr sein.“ „Was darf nicht wahr sein, Tom?“, fragte Isabel, „meinst du etwa unseren treuesten Fan in seinem Geländewagen?“ „Nein nein, ich bin schockiert, weil es Sportwetten-Karl gelungen ist, eine Mail auf mein neues Smartphone zu senden.“

 

„Das ist verrückt“, erwiderte Isabel, „und ungut ist es bestimmt auch.“ In ihre Stimme schwang eine Spur von Ängstlichkeit mit. „Was schreibt dieser Mistkerl denn?“ „Warte“, sagte Kowalski, „ich lese es dir vor, und ich befürchte, es wird kein Liebesbrief sein.“

 

„Hallo, mein Freund“, las Kowalski, hörbar erregt, „ich muss gestehen, ich bin maßlos enttäuscht von dir. Nicht nur, weil ich denke, du hast jetzt wirklich genügend Zeit gehabt, mir mein Geld zukommen zu lassen, sondern auch, weil du so dumm und naiv bist zu glauben, du könntest dich zusammen mit dem Flittchen ungeschoren aus dem Staub machen. Das wird nicht passieren, mein Lieber, weil es kein Loch auf diesem Erdball gibt, wo ihr euch auf Dauer vor mir verkriechen könnt. Nicht mehr lange, und meine Leute werden dich und deine Gespielin beim Wickel haben, das garantiere ich dir. Und dann werdet ihr bezahlen müssen, nicht nur, was meine Kohle anbelangt. Ist dir eigentlich klar, dass wir euch bereits ganz dicht auf den Fersen sind?“

 

„Der Arsch blufft doch nur“, brummte Kowalski, doch als er weiterlas, begann er an der Gewissheit dieser Annahme zu zweifeln. „Und falls du mir nicht glauben solltest, dann lass dir von mir zur Wahl deines Reiseziels herzlich gratulieren: Neuseeland ist in der Tat ein wunderschönes Land mit zahlreichen Reizen und Attraktionen. Also, ihr Zwei, genießt die wenigen Stunden, die euch noch verbleiben, denn meine Männer haben nicht nur eine heiße Spur, sondern können schon ihre Beute wittern. Viel Spaß noch!“

 

„Mist“, sagte Isabel, „wie hat der elende Kerl das bloß heraus gekriegt?“ „Keine Ahnung“, gestand Kowalski, „da habe ich seine Möglichkeiten und Verbindungen wohl unterschätzt.“ 

 

„Glaubst du, dass der Typ in dem schwarzen SUV einer von Sportwetten-Karls Häschern ist?“, fragte Isabel. „Das ist leider  nicht auszuschließen“, meinte Kowalski. „Und was machen wir jetzt, Tom?“, fragte Isabel. 

 

Kowalski überlegte einen Moment, aber ihm fiel nichts anderes ein, als zu sagen: „Auf jeden Fall sollten wir hier nicht länger bleiben. Lass uns erst einmal weiterfahren.“ Da Isabel keine Alternative parat hatte, sagte sie: „Okay, dann gib mal Gas.“

 

Doch als Kowalski den Motor startete, hatte Isabel eine Idee. „Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns von diesem Wohnmobil trennen und erst einmal ohne Fahrzeug irgendwo untertauchen“, schlug sie vor. „Lass uns doch am Lake Rotoiti schauen, welche Möglichkeiten sich dort bieten. Ich meine übrigens, auf der Karte gesehen zu haben, dass es am Nordufer einen Campingplatz gibt. Da könnten wir doch den Van abstellen. Und dann rufst du bei der Mietwagen-Firma an und bittest sie, das Wohnmobil dort abzuholen, egal was sie dafür verlangen. Und wir könnten uns für ein paar Tage eine unscheinbare Unterkunft vor Ort suchen.“

 

„Natürlich unter Angabe von falschen Namen“, ergänzte sie und musste kichern, „schließlich sind wir ja Akteure in einem waschechten Thriller, mit Geheimagenten, finsteren Bösewichten und Verfolgungsjagden.“

 

Kowalski lachte kurz auf. „Dein Sinn für Humor funktioniert ja noch wunderbar, Isabel“, sagte er. „Aber, was du vorgeschlagen hast, klingt wirklich nach einem guten Plan“, fügte er hinzu, während er den großen Van rückwärts aus dem Stellplatz manövrierte und auf den Camping-Arena-Weg einbog, der zum State Highway führte. 

 

Einen Moment lang glaubte Isabel, der Typ mit dem Ziegenbart habe es aufgegeben, sie weiter zu verfolgen, doch als sie ein paar hundert Meter auf dem Highway zurückgelegt hatten, tauchte der schwarze SUV im Rückspiegel auf. 

 

„Mist“, entfuhr es Isabel. Kowalski, der den Wagen ebenfalls hinter ihnen entdeckt hatte, sagte: „Der Kerl ist wirklich hartnäckig, aber ich habe es mit schon gedacht, dass er uns weiter im Nacken sitzen wird. Allerdings frage ich mich, was genau sein Plan ist. Wie auch immer, es wäre besser, ihn loszuwerden. Und da ist mir gerade eine Idee gekommen.“

 

„Was hast du vor, Tom?“, fragte Isabel. „Wenn wir davon ausgehen, dass dieser Mann eine Art Späher im Auftrag von Sportwetten-Karl ist,“ erklärte Kowalski, „dann haben wir es bestimmt mit einem Typen zu tun, der zu allem fähig ist. Und das bedeutet, dass er entweder auf die richtige Gelegenheit wartet, um uns zu stellen und in die Mangel zu nehmen, oder er erst Verstärkung herbei ruft. Im übrigen sollten wir davon ausgehen, dass der Kerl bewaffnet ist, und das gilt für seine Kollegen sicherlich auch.“

 

„Ja okay, Tom“, meinte Isabel, „aber was ist denn jetzt dein Plan?“ „Mein Plan ist“, erläuterte Kowalski, „unseren Verfolger zu überraschen, ihn sozusagen zu überrumpeln. Gibt es auf dieser Strecke zum See eigentlich noch einen Parkplatz oder Aussichtspunkt, wo wir anhalten können? Schau doch bitte einmal auf der Karte nach, Isabel, oder nimm dir mein Handy und suche auf Google Maps.“

 

Nach einer Minute sagte Isabel: „Ich hab’ da was gefunden, Tom, hier ist ein ‚Wairau River View Point‘ eingezeichnet, direkt neben dem Highway, aber ich befürchte, da sind wir vor ein paar Sekunden vorbei gefahren.“

 

„Schade“, meinte Kowalski, „hier umzukehren ist unmöglich, aber kommt vor dem See vielleicht noch eine Parkmöglichkeit?“ Wieder studierte Isabel Google Maps. „Ja, Tom, in vielleicht zwanzig Kilometern, nachdem die Staatsstraße sich vom Flusslauf entfernt hat, kurz nach einem Bed & Breakfast. Dort ist der Start zum ‚Red Hills Hut Track‘ vermerkt, da gibt es mit Sicherheit einen Parkplatz. So wie es hier aussieht, ist die Stelle direkt am Waldrand gelegen.“

 

„Das klingt gut“, meinte Kowalski, „dort machen wir einen Stop, und ich werde dem Kerl, bevor er sich versieht, einen Dämpfer verpassen.“

 

„Ich hoffe, du gehst dabei kein unnötiges Risiko ein, Tom“, sagte Isabel. „Keine Sorge“; erwiderte Kowalski, „ich bin vorsichtig. Im übrigen beabsichtige ich nicht, unseren Verfolger umzubringen, ich will ihn nur für eine Weile aus dem Verkehr ziehen, und dafür ist es gut, wenn am Parkplatz viele Bäume stehen. Aber dein KO-Spray würde ich mir gern ausleihen, mein Schatz.“

 

Isabel warf Kowalski einen zweifelnden Blick und fragte: „Ist das wirklich nötig, Tom?“ „Ich denke schon“, erwiderte Kowalski, „auf jeden Fall bleibst du im Wagen, wenn ich meinen Überraschungs-Coup starte“. 

 

„Zu Befehl, Boss“, sagte Isabel und grinste, doch ganz wohl war ihr bei der ganzen Sache nicht. Außerdem wusste sie nicht, ob sie wirklich hier im Wagen ausharren konnte, während ihr Partner sich vielleicht in große Gefahr begab.

 

4.

 

Eine Viertelstunde später, sie hatten gerade eine Werbetafel für das Wairau Pass Homestay Bed & Breakfast passiert, sah Isabel als Erste das Schild am Straßenrand. „Hier ist es, Tom“, rief sie, „ein Hinweis auf den ‚Red Hills Hut Track' mit einem Wanderer-Symbol – in einhundert Metern. Fahr bloß nicht vorbei.“ 

 

„Keine Sorge, Isabel“, meinte Kowalski, verringerte die Geschwindigkeit des Wohnmobils, schaltete herunter und bog auf einen Parkplatz ein, der wie erhofft direkt am Waldrand lag. Er hielt vor einer Hütte, die am Ende des kleinen Schotterplatzes stand. Auf einer Tafel neben der mit einem Wellblechdach gedeckten Hütte war ein Hinweis auf Übernachtungsmöglichkeiten für maximal sechs Wanderer zu lesen, doch Kowalski hatte nicht vor, davon Gebrauch zu machen. 

 

Schon als sie vom State Highway abgebogen waren, hatten Isabel und Kowalski bemerkt, dass der schwarze SUV ihnen folgte, doch damit hatten sie ja gerechnet. Etwa fünfzig Meter hinter ihnen, im Schatten einer großen Silberbuche, parkte der Mann mit dem Ziegenbärtchen den Geländewagen, machte aber keine Anstalten auszusteigen. 

 

„Ich glaube, Isabel“, meinte Kowalski und zwinkerte ihr dabei zu, „ich verspüre ein menschliches Bedürfnis und muss mich mal in die Büsche schlagen. Aber ich nehme lieber dein KO-Spray mit, denn man weiß ja nie, welche gefährlichen Tiere hier im Wald lauern.“

 

„Pass auf dich auf, Tom“, sagte Isabel und reichte Kowalski das Spray, „und ich werde mich vorsichtshalber ans Steuer setzen, so dass wir sofort durchstarten können, falls es nötig sein sollte.“

 

„Wenn du meinst“, entgegnete Kowalski, „aber kein Angst, es wird alles problemlos ablaufen, vertrau mir.“ „Na gut, Tom“, meinte Isabel, aber ihr Miene verriet, dass sie Kowalskis Optimismus nicht unbedingt teilte.

 

Kowalski warf noch einen Blick auf den SUV, doch als er sah, dass der Fahrer noch im Wagen saß, stieg er aus, ging die paar Meter bis zum Waldrand und verschwand zwischen den großen Bäumen. Der Weg in Richtung des Geländewagens erwies sich als mühsam, weil viel dorniges Gestrüpp und dichte Büsche auf dem Waldboden das Vorwärtskommen erschwerten. 

 

Als er den Eindruck hatte, die fünfzig Meter bis zum SUV zurückgelegt zu haben, bewegte er sich vorsichtig wieder bis zum Waldrand und lugte um den breiten Stamm einer Warzeneibe herum. Er blickte genau auf den SUV und beschloss, gleich zu handeln, bevor der Fahrer sich Gedanken über seinen merkwürdig langen Verbleib im Wald machen würde.

 

Kowalski sah, dass der Ziegenbart-Typ voll auf sein Smartphone konzentriert war und eifrig darauf herum tippte. Er packte eines von zwei abgebrochenen Ast-Stücken, die er vor einer Minute aufgesammelt hatte, schnellte für einen Augenblick aus dem Sichtschutz des Baumstammes hervor und schleuderte das Holz auf den Geländewagen. Mit einem lauten, krachenden Geräusch traf es die hintere Tür des Autos.

 

Kowalski ließ sich auf den Boden sinken und robbte ein wenig  zur Seite, um durch die Zweige eines neben der Eibe wachsenden niedrigen Strauches beobachten zu können, wie Mister Ziegenbärtchen reagierte. 

 

Er sah, wie der Typ sein Handy auf dem Beifahrersitz ablegte und aus dem Seitenfenster starrte. Allerdings stieg er nicht aus und ließ auch die Scheibe nicht herunter. Vielleicht hat der Kerl ja angenommen, hoch oben im Baum sei ein Ast abgebrochen und auf sein Auto gefallen, dachte Kowalski. 

 

Okay, dann muss ich halt noch einmal aktiv werden, überlegte er, griff nach dem zweiten, etwas dickeren Aststück, richtete sich halb auf und warf das Holzteil auf den SUV.

 

In der nächsten Sekunde lag er wieder auf dem Boden. Der Knall des Aufpralls hatte ihm einen erneuten Treffer signalisiert. Er wartete noch ein paar Atemzüge lang, dann richtete er sich so weit auf, dass er erkennen konnte, was der SUV-Fahrer machte.

 

Kowalski sah, dass der Typ die Fahrertür öffnete und ausstieg. Einen Meter vor seinem Wagen blieb Mister Ziegenbart stehen, nahm seine Sonnenbrille ab und starrte in den Wald, genau in die Richtung, wo Kowalski sich verbarg. 

 

Das ist die Gelegenheit, dachte Kowalski, zog die kleine Dose mit dem KO-Spray aus der Hosentasche, sprang auf, hechtete über den Strauch und rannte aus dem Schatten der Bäume heraus direkt auf den nur wenige Meter vor ihm stehenden Mann zu. 

 

Der war viel zu verblüfft, um reagieren zu können, und so gelang es Kowalski, ihm eine gute Dosis des Pfeffersprays in die ungeschützten Augen zu sprühen. Der SUV-Fahrer schrie auf, ließ seine Sonnenbrille fallen und schlug beide Hände vors Gesicht. Dann sank er auf die Knie und stimmte ein schreckliches Geheul an.

 

Alles läuft prima nach Plan, stellte Kowalski zufrieden fest, während er das KO-Spray wieder einsteckte. Dann ging er zum Geländewagen, bückte sich vor der offenen Fahrertür, griff nach dem Zündschlüssel, zog ihn aus dem Schloss und verstaute ihn in der Seitentasche seiner Cargo-Jeans. 

 

Jetzt sollten wir ganz schnell von hier verschwinden, dachte Kowalski, gab dem immer noch im Schotter knienden, laut jammernden Kerl im Vorbeigehen einen Soß, so dass er zur Seite fiel, und beeilte sich dann, zum Campingmobil zurückzukehren. 

 

Im Rückspiegel sah Isabel, wie ihr Freund sich im Laufschritt dem Campingmobil näherte, und sie startete den Motor. Sofort nachdem Kowalski auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, gab sie Gas und steuerte den Van auf den State Highway. 

 

„Wie ist es gelaufen, Tom?“ fragte sie, während sie das Mobil beschleunigte. „Ausgezeichnet, Isabel“, erwiderte Kowalski und grinste. „Die Ladung Pfefferspray, die ich dem Kerl verpasst habe, wird ihn eine Zeitlang aus dem Verkehr ziehen, und außerdem habe ich das hier.“ 

 

Er zog den Zündschlüssel aus seiner Hosentasche und hielt ihn kurz Isabel vor die Nase. „Gut gemacht, Tom“, lobte Isabel, „aber vielleicht sollten wir den Schlüssel besser irgendwie loswerden. Und dein Handy sicherheitshalber auch, denn ich möchte die Möglichkeit ausschließen, dass wir über das Smartphone geortet werden können. Mein Handy kann ja ruhig geortet werden, da ich es ja wahrscheinlich im Flughafen-Café liegen gelassen habe.“ 

 

„Du hast recht“, stimmte ihr Kowalski zu, „aber bevor wir uns meines Handys entledigen, werde ich erst noch den Mietwagen-Verleih anrufen. Und ich muss nachschauen, wie der Campingplatz heißt, den es am Nordufer des Lake Rotoiti gibt.“ 

 

Kowalski war hocherfreut, in dieser doch recht abgelegen Gegend Mobilfunk-Empfang zu haben. Dank Google Maps fand er schnell Standort und Namen des Campingplatzes. „Der Platz heißt Kerr Bay Campsite“, informierte er Isabel, „er gehört zum Ort Saint Arnaud und liegt direkt am nördlichen Seeufer.“

 

„Dann werden wir uns dort vom fahrbaren Heim trennen“, meinte Isabel. „Ja, das machen wir“, bestätigte Kowalski, „und jetzt rufe ich bei der Verleih-Firma an.“ 

 

Während Kowalski telefonierte, bemerkte Isabel ein Schild am Highway-Rand, das auf das „Nelson Lakes Homestay“ hinwies. Ein paar Sekunden später passierten sie ein schön gelegenes Bungalow-Anwesen. Das wäre doch bestimmt eine tolle Übernachtungsmöglichkeit für ein paar Tage, dachte sie, und auch ein idealer Ausgangspunkt für herrliche Wandertouren. Schade eigentlich, aber wir müssen ja unser Campingmobil am See abgeben. 

 

„Ich habe alles geregelt“, riss Kowalski Isabel aus ihren Gedanken. „Morgen holen sie das Wohnmobil am Campingplatz ab. Ich habe dem Mitarbeiter der Verleih-Firma am Telefon gesagt, dass wir den Zündschlüssel in der unverschlossenen Heckbox des Fahrzeugs deponieren würden. Es hat mich meine ganze Überredungskunst gekostet, bis er endlich einverstanden war. Aber was sie für den Service zusätzlich verlangen, will ich dir lieber nicht verraten, Isabel“, sagte er. „Gut, dass wir noch ein paar Euro auf der ASB-Bank in Auckland deponiert haben.“ Mit einem schnellen Seitenblick sah Isabel ein schelmisches Lächeln in Kowalskis Gesicht aufblitzen. 

 

„Du meinst, die paar Millionen, die wir uns redlich verdient haben“, sagte Isabel, und jetzt brachen beide in schallendes Gelächter aus.

 

5.

 

Fünf Minuten später hatten sie Saint Arnaud erreicht. Auf der Hauptstraße des am Nordufer des Rotoiti Sees gelegenen kleinen Ortes kamen sie an einer Feuerwehr-Station, einer Tankstelle, einem Dorfladen sowie einem Hotel vorbei, und Isabel hatte den Eindruck, dass seien wahrscheinlich bereits die Hauptattraktionen von Saint Arnaud. 

 

Der Weg zum Campingplatz war leicht zu finden. Kowalski und Isabel checkten ihren Van für eine Nacht ein und bezahlten gleich bar. Das Anmeldeformular füllten sie mit dem Namen Sonja und Franz Baumann aus und gaben an, dass sie in Kassel wohnhaft seien. Sie hatten Glück, dass die junge Dame im Büro keinen Pass verlangte. Ihr Stellplatz auf der nur von wenigen Campern frequentierten Anlage befand sich direkt am Strand – mit einem wunderschönen Blick auf den See und die dahinter liegenden Berge. 

 

„Eigentlich schade“, meinte Isabel, dass wir hier nicht ein paar Tage bleiben können.“ „Ja leider“, stimmte ihr Kowalski zu, „die Aussicht ist wirklich grandios. Aber es nutzt nichts, wir müssen auf Nummer sicher gehen und uns eine andere Übernachtungsmöglichkeit suchen. Und vorher sollten wir mein Handy und den Zündschlüssel vom SUV loswerden. Was hältst du eigentlich von einem Spaziergang am Seeufer entlang? Schau, dort hinten scheint ein Weg direkt am Wasser entlang zu führen. Und wenn wir wieder zurück sind, erkunde ich mich bei der freundlichen Lady in der Rezeption nach einer Unterkunftsmöglichkeit, die wir zu Fuß erreichen können.“

 

Isabel war einverstanden, und so machten sie sich in ihren Trekking-Schuhen auf den Weg. An einer Stelle des Uferpfades, wo sie sich unbeobachtet fühlten, überquerten sie wenige Meter einer sumpfigen Wiese, bis sie direkt am glasklaren Wasser standen. Dort warf Kowalski zunächst das Handy so weit er konnte in den See, bevor er die Zündschlüssel des schwarzen SUVs folgen ließ. 

 

„Umweltgerecht ist das ja nicht unbedingt“, sagte Isabel, worauf Kowalski meinte: „Da hast du eigentlich recht, aber jetzt ist es zu spät. Aber ich verspreche dir, Isabel, dass ich in meinem Leben nie wieder ein Handy und einen Autoschlüssel in ein Gewässer werfen werde.“ „Na gut, Tom“, erwiderte Isabel, „ich werde dich beim Wort nehmen.“

 

Sie spazierten noch eine Viertelstunde auf dem mit Pfützen vom letzten Regenschauer bedeckten Uferweg, doch nachdem dieser in den Wald hinein führte, kehrten sie bald wieder um. Zurück auf dem Campingplatz ließ Kowalski sich von Mary, der Dame in der Rezeption, eine Unterkunft empfehlen, die sich keine dreihundert Meter entfernt in einem an die Campsite angrenzenden Wäldchen befand. 

 

Mary war sogar so hilfsbereit, dass sie im Avarest Bed & Breakfast anrief und sich erkundigte, ob noch ein Zimmer frei sei. Sie erfuhr, dass sogar noch zwei Doppelzimmer auf neue Gäste warten würden. Währenddessen packte Isabel im Wohnmobil die beiden großen Rucksäcke.

 

Als Kowalski zum Wohnmobil zurückkehrte, war alles für ihren Umzug vorbereitet. Isabel freute sich zu hören, ein Zimmer in einer nahe gelegenen Frühstückspension zu bekommen. Und das sich dieses Bed & Breakfast in einer kleinen Seitenstraße befand und zudem von Wald umgeben war, steigerte ihre gute Laune noch. „Das ist toll“, meinte sie, „denn ich hatte ganz vergessen, wie schwer unsere Rucksäcke sind. Prima, dass wir sie jetzt nur ein paar hundert Meter schleppen müssen.“ 

 

Das ‚Avarest Bread and Breakfast’ erwies sich als komfortables, idyllisch gelegenes, kleines Hotel. Margaret, die Besitzerin, empfing sie herzlich und führte sie in das größere der beiden noch freien Zimmer, von dem aus sie einen schönen Blick in den großen Garten hatten. Isabel teilte Margaret mit, dass sie gern drei Tage oder vielleicht auch länger bleiben würden, was die Inhaberin begrüßte. Erst in zwei Wochen sei dieses Zimmer wieder für ein Ehepaar aus Dänemark reserviert, sagte Margaret. 

 

Nachdem Kowalski und Isabel ihre Sachen aus den Rucksäcken im Schrank und einer Kommode verstaut hatten, waren sie hungrig und verspürten Lust auf ein Abendessen. Sie fragten Margaret nach einem Lokal und wurden auf das einzige Restaurant des Ortes verwiesen, die ‚Alpine Lodge‘. Margaret meinte, es würde eine ausgezeichnete Küche bieten und läge direkt an der Main Road, nur sechs- oder siebenhundert Meter von hier entfernt. 

 

Natürlich waren Kowalski und Isabel schnell entschlossen, diesem Restaurant einen Besuch abzustatten, und so machten sie sich gleich auf den Weg. Zehn Minuten später saßen sie an einem Tisch des zum gleichnamigen Hotel gehörenden Restaurants und genossen den Blick aus den großen Panorama Fenstern und das gemütliche Ambiente. Aus dem reichhaltigen Angebot der Speisekarte wählten beide eine Lachs-Pizza und bereuten es nicht. Isabel meinte später, dies sei die beste Pizza gewesen, die sie je gegessen habe, und wies darauf hin, dass sie ja in Neuseeland seien – und nicht in Italien. 

 

Zurück in der Pension fühlten sich Isabel und Kowalski müde und zufrieden zugleich. Als sie im Bett lagen, dachte keiner der beiden an ihren Verfolger mit dem Ziegenbärtchen oder an Sportwetten-Karl. 

 

Während Isabel sich bereits auf ein weiteres Abendessen in der ‚Alpine Lodge‘ freute, spielte Kowalski mit dem Gedanken an eine Bootstour am nächsten Tag, und nahm sich vor, gleich morgen nach dem Frühstück zu fragen, ob eines der Wassertaxis auf dem See auch in Saint Arnaud halten würden. Und falls nicht, dachte er, könnten wir uns vielleicht ein Kanu ausleihen.

 

Nach einer erholsamen Nacht verwöhnte Margaret ihre Gäste mit einem fantastischen Frühstück. Neben leckeren Ham & Eggs servierte sie Hash Browns, ein traditionelles Kartoffelgericht, selbst gebackene Blaubeer-Muffins, frisch gepflückte Himbeeren und Honig aus eigener Produktion. 

 

Satt und bestens für den Tag gestärkt lobten Isabel und Kowalski  ihre Gastgeberin überschwänglich für das reichhaltige und köstliche Frühstück. Zu ihrem Bedauern erfuhren sie von Margaret, dass in Saint Arnaud kein Wassertaxi anlegen würde. 

 

Kowalski erkundigte sich nach der Möglichkeit, ein Kanu auszuleihen, und da hatten sie mehr Glück. Es gab zwar keinen professionellen Verleih, aber Margaret bot ihnen ihr eigenes Zweier-Kajak an. „Es liegt noch auf dem Anhänger unseres Kombis“, sagte sie, „weil mein Mann Steve und sein Freund Martin erst gestern damit eine Tour auf dem See unternommen haben. Es macht Steve bestimmt nichts aus, es heute Vormittag das kurze Stück bis zum Kiesstrand am Jetty Aussichtspunkt zu transportieren. Und am Nachmittag könnte er das Boot wieder abholen. Ich werde ihn gleich einmal fragen.“ 

 

Isabel meinte, das wäre toll, allerdings wollten sie ihren Gastgebern natürlich keine Umstände machen, aber Margaret winkte lachend ab. Für Steve sei dies keine große Sache, sagte sie, er freue sich immer, wenn seine Gäste zufrieden sind, und das gelte für sie natürlich auch. 

 

Keine Stunde später fuhren Isabel und Kowalski mit Steve in seinem Wagen zum Seeufer. Steve war die Liebenswürdigkeit in Person. Er parkte den Kombi vor dem Kiesstrand, ganz in der Nähe eines Steges, der weit in den See hinaus ragte und ein bei Touristen beliebter Ort zum Fotografieren war und auch und als Startpunkt für sommerliches Schwimmvergnügen diente. An diesem Morgen waren nur wenige Menschen hier, vielleicht lag es an dem stark bewölkten Himmel und dem frischen Wind, dachte Isabel. 

 

Zusammen hoben sie das Kajak vom Anhänger, trugen es über den Strand und setzten es vorsichtig ins Wasser. Bevor sie ins Boot stiegen, reichte Steve seinen Gästen noch zwei Schwimmwesten, die er aus dem Wagen geholt hatte. „Sicher ist sicher“, meinte er und grinste, und Isabel hat den Eindruck, dass er sie ohne die Westen nicht fahren lassen würde. 

 

„Ich bin in ungefähr drei Stunden wieder zurück und hole euch hier am Steg ab“; sagte Steve, „und falls es vorher irgendein Problem geben sollte, so ruft mich einfach an.“ Er reichte Kowalski eine kleine Karte mit seiner Handy-Nummer, Kowalski unterließ es allerdings, ihm zu gestehen, dass Isabel und er gar kein Smartphone mehr hatten. Ich kann ihm ja kaum erzählen, dachte er, dass ich meines absichtlich in den See geworfen habe und Isabel ihres verloren hat.

 

Ihre Schwimmwesten übergezogen setzten sich Isabel und Kowalski in das leicht auf dem Wasser schaukelnde Boot und griffen nach den Paddeln. Steve gab dem Kajak einen Stoß, wünschte ihnen eine schöne Tour und rief fröhlich „Bye-bye, see you later.“ 

 

Während die Boots-Besatzung versuchte, ihre Paddelschläge zu koordinieren, entfernte sich das Kajak mehr und mehr vom kiesbedeckten Ufer. Isabel sah noch, wie Steve ihnen grinsend hinterher winkte und dann zu seinem Kombi zurück ging.  

 

6.

 

Sanft glitt das Kanu durch das dunkelblau schimmernde Wasser des Lake Rotoiti. Mit jetzt gut aufeinander abgestimmten Paddelschlägen steuerten Isabel und Kowalski ihr Boot auf die Mitte des Gewässers zu. Beide genossen die grandiose Aussicht auf die den See umgebenden Berge. 

 

Der Wind hatte jetzt etwas zugenommen, so dass kleine Wellen die Wasseroberfläche in Bewegung brachten. „Wie sollten nicht zu weit hinausfahren, Tom“, meinte Isabel, „falls die Wellen noch etwas höher werden, könnten wir ein Problem bekommen. Schließlich ist unser Boot nicht unbedingt hochseetüchtig.“

 

„Wir können ja in Richtung Ostufer fahren“, schlug Kowalski vor, „und dort in Ufernähe zurück paddeln. Dann fahren wir ja immer direkt am Waldrand entlang, und es ist bestimmt interessant zu sehen, wie die Wurzeln der großen Bäume bis ins Wasser hineinragen.“

 

Isabel hatte gerade dem Vorschlag ihres Partners zugestimmt, da hörten beide das Geräusch eines Motorbootes. Der röhrende Sound wurde immer lauter, und die Paddler sahen, wie eine weiße, kleinere Motoryacht sich in enormem Tempo näherte – und direkten Kurs auf ihr Kajak zu nehmen schien. 

 

Isabel und Kowalski hatten das Paddeln eingestellt und starrten gebannt auf die rasend schnell auf sie zu fahrende Yacht. „Was soll das denn?“, rief Kowalski ärgerlich, während Isabel von der Angst erfüllt wurde, die Person am Steuer des Motorbootes würde sie überhaupt nicht sehen. Sie hob ihr Paddel hoch und wedelt mit ihm hin und her, doch das schnelle Boot änderte seinen Kurs nicht. 

 

Erst im letzten Moment, kurz bevor die Yacht mit dem Kajak zusammenstieß, riss der Pilot das Steuer herum, so dass sein Boot in einem Abstand von höchstens drei Metern an Isabel und Kowalski vorbei schoss. Isabel bemerkte, dass sich zwei Menschen hinter dem Cockpit der Yacht befanden. 

 

„Ist der denn blind?“, rief Kowalski aufgebracht. Er merkte, wie das aufgewühlte Wasser ihr Boot zum Schaukeln brachte. „Das war doch mit Absicht“, meinte Isabel, „aber warum nur?“ „Weiß der Teufel“, rief Kowalski und klammerte sich an den Rand des Kajaks. 

 

Fassungslosigkeit ergriff ihn, als er sah, dass die Yacht wendete und erneut auf sie zu raste. „Mein Gott“, rief Isabel und starrte wie gebannt auf das weiße Boot. Dieses Mal schnellte es noch dichter am Kajak vorbei, so dass Isabel und Kowalski von einem Schwall Wasser getroffen wurden.

 

„Seid ihr denn verrückt geworden?“, brüllte Kowalski gegen den Motorlärm an und merkte, wie das Kajak mit dem vom Motorboot verursachten Wellen kämpfte. Und dann warf die nächste, höhere Welle das kleine, leichte Boot um, und Isabel und Kowalski landeten im kalten Seewasser. 

 

„Lass uns versuchen, das Boot wieder aufzurichten“; rief Kowalski Isabel zu, während er mit seiner rechten Hand fest ein Paddel umklammerte. Isabel gestand ihm, ihr Paddel keim Kentern verloren zu haben, und dass sie es nirgends mehr entdecken konnte. „Gut, dass ich wenigstens eines retten konnte“, meinte Kowalski, „es könnte sein, dass wir es noch brauchen werden.“ 

 

Gemeinsam schafften sie es dann, das auf der Seite liegende Kajak wieder umzudrehen, so dass sich sein Kiel wieder im Wasser befand. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, es gelang ihnen nicht, wieder einzusteigen. 

 

„Es hat keinen Zweck, Tom“, rief Isabel prustend, „lass uns das Kajak bis zum Ufer schieben. Dort können wir das Wasser heraus schütten, und es es ist bestimmt viel leichter, uns wieder ins Boot zu setzen.“ „Okay“, sagte Kowalski, „aber bis zum bewaldeten Ostufer ist es näher als bis zum Kiesstrand, ich schätze das sind vielleicht nur zwei- oder dreihundert Meter. Das sollten wir schaffen.“ 

 

Während sie in Richtung der Uferbäume schwammen und dabei das Kajak schoben, registrierten sie mit Erleichterung, dass die Motoryacht sie nicht weiter behelligte, sondern sie nur einmal in einem sicheren Abstand und mit gemäßigter Geschwindigkeit umrundete, um dann mit Vollgas gen Süden zu fahren. 

 

Was Isabel während des anstrengenden Manövers im kalten Seewasser keine Ruhe ließ, war das Aussehen des Mannes neben dem Motoryacht-Piloten im Cockpit. Als das Boot das zweite Mal dicht an ihnen vorbei gerauscht war, hatte sie einen kurzen Blick auf den Typ werfen können und gesehen, dass er eine rote Baseball-Kappe auf dem Kopf trug und seine Augen  hinter einer großen Sonnenbrille verbarg. Allerdings hatte Isabel nicht erkennen können, ob dem Mann auch ein Ziegenbart auf seinem Kinn wuchs. 

 

Erschöpft und frierend erreichten Isabel und Kowalski das Ufer. Es war nicht leicht, eine Stelle zu finden, an der sie das Kajak an Land ziehen konnten, fast überall reichte das Geflecht von Baumwurzeln und Gesträuch bis ins Wasser hinein. Auf einem schmalen, sandigen Uferstreifen gelang es ihnen schließlich, das Boot an Land zu bewegen. Sie drehten es um und ließen das Wasser herauslaufen. Danach legten sie es wieder behutsam an einer seichten Stelle in den See. 

 

Die Aussicht auf einen weitere Paddeltour war für Isabel alles andere als erfreulich. Aber wir haben keine Wahl, dachte sie, schließlich können wir das Kajak ja nicht einfach hier zurücklassen. Trotzdem wäre sie bis zum Steg am Nordufer lieber zu Fuß gegangen.

 

Das Einsteigen ins Boot verlief weniger schwierig, als Isabel befürchtet hatte. Kowalski hielte das Kajak fest, damit es nicht abtrieb oder sich zu sehr hin und her bewegte, während Isabel bis zu den Waden ins Wasser ging, um dann erst das eine Bein und dann das andere ins Boot zu schwingen und sich vorsichtig hinzusetzen. 

 

Kowalski folgte, und als er ohne Mühe auf dem hinteren Sitz Platz genommen hatte, stieß er das Boot mit der verblieben Paddel vom Ufer ab. 

 

Sie nahmen Kurs auf den Steg am Kieselstrand und freuten sich darüber, die weiße Motoryacht nirgends mehr entdecken zu können. Isabel berichtete Kowalski von ihrer Beobachtung und ihrem Verdacht. Ihr Partner meinte allerdings, er halte es für sehr unwahrscheinlich, dass der Mann in der Motoryacht der Typ sein konnte, der sie mit dem schwarzen SUV verfolgt hatte. „Rote Kappen und Sonnenbrillen tragen bestimmt noch einige andere Männer auf dieser Insel“, meinte er. „Aber ausschließen will ich es natürlich nicht, dass Mister Ziegenbart wie ein Spürhund wieder unsere Fährte aufgenommen hat.“ 

 

Während sie Richtung Nordufer paddelten, verdunkelte sich der Himmel. Dicke, schwarze Wolken kündigten baldigen Regen an, und der Wind hatte an Stärke noch zugenommen. Isabel spürte die Böen im Rücken, worüber sie froh war. Falls dieser enorme Wind uns entgegen blasen würde, dachte sie, wäre ich nicht sicher, ob wir es bis an unser Ziel schaffen würden. 

 

Allerdings fand sie das Paddeln auch so eine Plackerei und spürte, dass die Kraft in ihren schmerzenden Armen immer mehr nachließ. Der jetzt heftig einsetzende Regen verdüsterte ihre trübe Stimmung noch, und sie bat Kowalski, für die verbleibende Strecke das Paddeln zu übernehmen. 

 

Unter anderen Umständen hätte das prasselnde Geräusch, das die auf die unruhige Seeoberfläche stürzenden, dicken Tropfen verursachten, eine beruhigende Wirkung auf sie gehabte, doch jetzt fehlte Isabel der Sinn für solch eine Naturromantik. 

 

7.

 

Sie waren vielleicht keine zweihundert Meter mehr vom Strand entfernt, da bemerkte Isabel etwas, was ihr einen Schrecken einjagte. Obwohl der dichte Regen die Sicht einschränkte, war sie sicher, dass ein kleines Stück hinter dem Steg ein schwarzer Geländewagen parkte – ein Modell, das ihr bekannt vorkam. Neben dem Auto stand ein Mann mit einer roten Kappe auf dem Kopf. 

 

Das kann kein Zufall sein, dachte Isabel und teilte Kowalski ihre Beobachtung mit. Der hatte das Auto und den Kerl daneben auch schon entdeckt und meinte: „Falls das wirklich unser spezieller Freund sein sollte, so bleibt uns trotzdem keine andere Wahl, als hier an Land zu gehen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich meine Arme kaum mehr bewegen, und das Wetter wird auch immer schlechter. Vielleicht irren wir uns ja auch, denn es ist schon beachtlich, wie schnell der Kerl es geschafft hat, mit der Motoryacht irgendwo anzulegen und dann mit dem Geländewagen nach Saint Arnaud zu fahren. Aber wenn er jetzt wirklich hier ist, muss das ja nicht unbedingt schlimme Folgen für uns haben.“ 

 

Auf Isabel wirkten Kowalskis Worte wenig beruhigend, und während sie nur noch wenige Meter vom Strand entfernt waren, hatte sie die Gewissheit, dass es sich bei dem Mann neben dem SUV um ihren Verfolger handelte. Zwar fehlte die Sonnenbrille im Gesicht, doch der Ziegenbart ließ keinen Zweifel an der Identität des Typen zu. 

 

Ruhig bleiben, ermahnte sich Isabel, während Kowalski behutsam das Boot mit dem Bug auf den flachen Kiesstrand steuerte.  Als sie als Erste aus dem Kajak stieg, sah sie, wie der Mann mit der roten Baseball-Kappe seinen Platz neben dem SUV verließ und sich ihnen schnell näherte. Dann bemerkte sie, wie er den Reißverschluss seiner Jacke öffnete, etwas aus der Innentasche zog und einen Gegenstand auf sie richtete. Das Ding sieht aus wie eine Pistole, dachte sie und erstarrte.

 

„Tom“, rief sie, „er hat eine Waffe.“ Kowalski, der jetzt ebenfalls aus dem Kajak gestiegen war und das Boot weiter auf den Strand geschoben hatte, entgegnete in betont ruhigem Ton: „Ich sehe es, Isabel“, dann griff er nach dem ins Kajak gelegte Paddel und hielt es so in beiden Händen, als wolle er einen bevorstehenden Angriff abwehren. 

 

„Er wird doch nicht auf uns schießen, hier in aller Öffentlichkeit?“, fragte Isabel, doch in der nächsten Sekunde fiel ihr auf, dass auf dem Kiesstrand und am Steg außer dem Typen mit der Pistole keine anderen Menschen zu sehen waren. Zudem bemerkte sie, dass sein Fahrzeug momentan das einzige war, welches an diesem Strandabschnitt parkte. 

 

„Ich werde mit dem Kerl reden“, sagte Kowalski, „und wenn es um das geht, was ich vermute, werde ich versuchen, die Sache hier und jetzt zu klären.“ Das Paddel immer noch in beiden Händen haltend bewegte er sich auf den Mann zu. „Um Himmels willen Tom“, stieß Isabel hervor, „tu bloß nichts Unüberlegtes.“

 

„Keine Sorge“, meinte Kowalski, während ihn nur noch etwa zwanzig Meter von dem Mann mit der auf ihn gerichteten Waffe trennte. Isabel hörte ein Motorgeräusch und sah, wie sich auf der schmalen Straße, die zum Strand führte, ein Fahrzeug näherte. Dann erkannte sie, dass es der Kombi ihres Gastwirtes Steve war. 

 

Bevor Steve seinen Wagen neben dem schwarzen SUV abstellte, drückte er auf die Hupe, so dass eine laute Fanfare erklang. Der Typ mit der roten Kappe stoppte, fuhr herum, senkte seine Waffe  und blickte zum Kombi. Er musterte den Wagen eine Weile, dann drehte er sich um und wandte sich wieder Kowalski zu. Er hob die Pistole und ging weiter auf ihn zu. 

 

Isabel rätselte über den Grund dieses Verhaltens. Vielleicht schenkt er dem Kombi keine weitere Beachtung, überlegte sie, weil ihm auffällt, dass niemand aussteigt, oder einfach, weil er gesehen hat, dass es sich um kein Polizeifahrzeug handelt. Auf jeden Fall ist dieser Typ ganz schön abgebrüht, dachte sie. Und das machte ihr Angst. 

 

Immer noch neben dem Kajak stehend hoffte sie trotzdem, dass Steves Ankunft die bedrohliche Situation entschärfen und den Ziegenbart-Typen dazu bewegen würde, von seinem Vorhaben abzulassen und zu verschwinden. Was dann aber geschah, konnte sie nicht voraussehen. 

 

Sie hörte einen Schuss und sah, wie das Paddel Kowalski aus den Händen gerissen und zersplitterte Holzteile umher geschleudert wurden. Panisch blickte sie zum Ziegenbart-Mann. Der war jetzt stehen geblieben, die Pistole weiterhin in der rechten Hand haltend.

 

Isabel wandte sich wieder zu Kowalski um, und sah, wie ihr Freund sich in genau diesem Augenblick auf den Boden fallen ließ, während zeitgleich ein zweiter Schuss ertönte. Isabel hoffte inständig, dass die zweite Kugel ihren Freund verfehlt hatte, doch weil er sich auf den Kieselstrand liegend nicht bewegte, war sie sich nicht sicher – und musste außerdem befürchten, dass der Schütze höchstwahrscheinlich sein Werk vollenden würde.

 

Seine Waffe schussbereit in der rechten Hand ging Mister Ziegenbart mit gemächlichen, im Kies knirschenden Schritten auf den immer noch regungslos auf dem Strand liegenden Kowalski zu. Aus den Augenwinkeln nahm Isabel eine Bewegung war. Sie sah, wie Steve, der seinen Wagen verlassen hatte, etwas Längliches aus dem Kofferraum holte und sich damit schnell in ihre Richtung bewegte. Es sieht wie ein Gewehr aus, dachte Isabel, und beobachtete, wie Steve stehen blieb, die Waffe hob und anscheinend auf etwas zielte.

 

Der dröhnende Schuss ließ sie zusammenzucken, und dann wurde ihr klar, wem er galt. Der Typ mit dem Ziegenbart ließ seine Waffe fallen und fiel um. Ausgestreckt lag er auf dem Strand, das Gesicht im Kies, die rote Baseballkappe neben dem Kopf. Isabel sah noch, wie seine Beine ein paar Mal zuckten, dann bewegte sich der Körper nicht mehr. 

 

„Oh Gott“, stieß Isabel schockiert hervor. Doch nach ein paar Sekunden löste sie sich vom Anblick ihres möglicherweise toten Verfolgers und drehte sich um, um zu sehen, wie es um Kowalski steht. War er getroffen – und wenn, wie schwer war er verwundet?

 

Zu ihren grenzenlosen Erleichterung lag ihr Partner nicht mehr im Kies, sondern kam auf sie zu gelaufen, anscheinend unverletzt. „Alles ist gut“, sagte Kowalski und nahm Isabel in die Arme, „wir haben noch einmal Glück gehabt. Und Steve, diesem Retter in der Not, sind wir zu großem Dank verpflichtet. Aber ich hätte nie gedacht, dass der Ziegenbart-Typ mich erschießen wollte, noch dazu hier am Strand. Und er hätte wahrscheinlich auch versucht, dich umzubringen.“

 

„Vielleicht“, sagte Isabel, „aber Hauptsache, dass dir nichts passiert ist.“ Sie merkte wie ihr Tränen der Erleichterung in die Augen schossen, und seufzte tief. Als sie Blut auf Kowalskis rechter Wange entdeckte, erschrak sie und meinte: „Du bist ja doch verletzt, Tom.“ 

 

Kowalski berührte prüfend seine Wange und beruhigte Isabel dann. „Das ist nur eine Schramme, wahrscheinlich stammt sie von einem Splitter des zerschossenen Paddels, das brennt nur ein bisschen. Gut, dass der Kerl nicht meinen Kopf getroffen hat.“

 

In diesem Moment hörten sie Steve rufen: „Alles in Ordnung mit euch?“ Das Gewehr an seinem Gurt über die Schulter gehängt näherte er sich ihnen mit schnellen Schritten. Und dann stand er vor ihnen und musterte erst Isabel und dann Kowalski mit besorgten Blicken. „Uns geht’s gut“, sagte Isabel, „dank deines Eingreifens in letzter Sekunde. Im Grund hast du uns das Leben gerettet, Steve, und wir sind dir zu großem Dank verpflichtet.“ 

 

Steve winkte ab und meinte lächelnd: „Es war ein glücklicher Zufall, dass ich gerade im richtigen Moment gekommen bin. Und dass ich ein passabler Schütze bin, hat vielleicht auch geholfen. Aber verratet mir doch, wer dieser Kerl war, und warum er Tom umbringen wollte.“

 

„Das ist eine lange Geschichte, Steve“, erwiderte Kowalski, „die würden wir dir gern bei einem wärmenden Getränk und in trockener Kleidung erzählen, denn nach unserem unfreiwilligen Bad im See sind wir halb erfroren. „Natürlich“, erwiderte Steve, „ich seid ja völlig durchnässt. Ich fahre euch gleich zu unserem Haus, nachdem ich den Sheriff angerufen habe. Dann könnt ihr euch aufwärmen und euch von den dramatischen Ereignissen etwas erholen. Aber vorher muss ich natürlich noch nachsehen, ob der Revolverheld vielleicht noch lebt.“

 

Steve ging zu dem immer noch leblos im Kies liegenden Mann, drehte ihn um und fühlte seinen Puls. Dann kam er zu Isabel und Kowalski zurück.

 

Steve verzog das Gesicht, als beabsichtige er, etwas Unangenehmes mitzuteilen. „Ich muss euch leider sagen, dass der Mann, der auf Tom geschossen hat, tot ist. Meine Kugel hat ihn anscheinend durch den Rücken mitten ins Herz getroffen. Aber mir blieb ja keine andere Wahl, als ihn außer Gefecht zu setzen, auch wenn ich nicht vorhatte, ihn zu töten.“ 

 

„Du hast genau das Richtige getan, Steve“, sagte Kowalski, „niemand wird dir einen Vorwurf machen.“

 

„Danke, Tom“, erwiderte Steve, „aber trotzdem werde ich zum Strand zurückkehren müssen, weil der Sheriff vermutlich ein paar Fragen angesichts des toten Mannes haben wird. Gut, dass ich Sheriff John Wilson schon lange kenne. Ich glaube übrigens kaum, dass er die Sache an die große Glocke hängen und die Ermittlungsbehörden in Richmond einschalten wird. Das hätte nur ein großes Medienecho zur Folge – mit einem Schaden für die ganze Region und alle, die im Tourismus tätig sind. Ein gutes Image ist da ja enorm wichtig. Und die Nachricht von einem Schusswechsel am See mit tödlichem Ausgang könnte fatale Folgen haben. Aber jetzt sollte ich im Sheriff-Büro anrufen.“

 

Steve zog sein Handy aus der Jackentasche, wandte sich ein wenig von Isabel und Kowalski ab, wählte eine Nummer und sprach dann halblaut ins Smartphone. Isabel konnte nur die Worte „Notwehr“, „unglücklich“ und „Leiche“ heraushören und vermutete, dass Steve den Sheriff oder einen Mitarbeiter grob über den Sachverhalt ins Bild setzte. 

 

8.

 

Als Steve seinen Anruf beendet hatte, sagte er: „Ich denke, der Sheriff weiß jetzt über das Wichtigste Bescheid. John will gleich einen Abtransport des toten Mannes organisieren und in einer Viertelstunde am Strand sein. Dort kann ich ihm dann, wenn noch erforderlich, Fragen beantworten. Aber bevor wir jetzt losfahren, werfe ich schnell noch eine Decke über die Leiche. Für den Fall, dass sich bei diesem miesen Wetter doch noch ein Tourist am Strand blicken lassen sollte. Ich möchte wirklich nicht“, und jetzt blitzte in Steves Gesicht ein Grinsen auf, „dass jemand einen Mordsschrecken bekommt oder sich beim Strandspaziergang verletzt, wenn er über einen toten Gangster stolpert.“

 

Isabel und Kowalski konnten dem Humor ihres Gastgebers in diesem Moment wenig Positives abgewinnen, also schwiegen sie und sahen zu, wie Steve zu seinem Kombi ging, eine braune Wolldecke aus dem Kofferraum holte, zurück kam und die Decke über den Körper ihres Verfolgers legte. 

 

Eine Minute lang verharrte Steve an der Stelle und murmelte irgendetwas. Isabel nahm zunächst an, er würde ein Gebet sprechen, doch als sie Worte wie „Schuld“ und „Feuerbestattung“ verstand, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Im Grund war es ihr auch egal, was Steve vor dem auf dem Boden liegenden erschossenen Mann sagte. Der kann sowie nichts mehr hören, dachte sie. 

 

Nachdem Steve Isabel und Kowalski zu seinem Haus gebracht hatte und gleich wieder zurück zum Strand gefahren war, kümmerte sich seine Frau rührend um ihre nassen und durchgefrorenen Gäste. Während diese heiß duschten und sich trockene Sachen anzogen, bereitete Margaret Pancakes mit Ahorn Sirup zu und servierte dazu einen Irish Coffee. 

 

Erst als Isabel und Kowalski sich am großen, runden Tisch im Frühstückszimmer die köstlichen Pfannkuchen schmecken ließen und sich beim Irish Coffee ein wenig entspannten, fragte Margaret, was eigentlich passiert sei. Isabel erzählte ihr, dass sie schon ein ganzes Stück auf den See hinaus gepaddelt waren. „Und  plötzlich kam ein starker Wind auf und verursachte hohe Wellen“, sagte sie. „Unser Kajak ist dann heftig hin und her geschaukelt.“

 

Isabel nahm noch einen Schluck vom dem wunderbar wärmenden Irish Coffee und fuhr dann fort. „In dieser Situation haben wir einfach die Kontrolle über das Boot verloren, sind umgekippt und im kalten Wasser gelandet“, sagte sie. „Und da hatten wir große Mühe, das Kajak wieder aufzurichten und aus dem Wasser hinein zu klettern. Aber schließlich haben wir es geschafft und sind zurück zum Strand gepaddelt.“ „Und das war verdammt anstrengend“;  ergänze Kowalski, „und wir haben fürchterlich gefroren.“

 

„Das glaube ich“, erwiderte Margaret mitfühlend und machte ein besorgtes Gesicht. „Hoffentlich habt ihr euch bei diesem unerfreulichen Abenteuer nicht erkältet. „Vor einer Erkältung schützt uns doch dieses wunderbare Getränk hier“, meinte Isabel und hob lächelnd ihr Irish-Coffee-Glas. 

 

Alle drei mussten lachen, und während Margaret zurück in die Küche ging, um noch ein Überraschungs-Dessert zu holen, war Kowalski froh, dass ihre Gastgeberin sich anscheinend zufrieden mit ihrer Erklärung des kleinen Malheurs auf dem See zeigte und keine weitere Fragen stellte. Prüfend blickte er in Isabels Gesicht und studierte ihre Miene, mit dem Ergebnis, dass sie anscheinend seine Erleichterung teilte. 

 

Obwohl schon recht satt, konnten Isabel und Kowalski nicht nein sagen, als ihre Gastgeberin ihnen jeweils einen Teller mit einem Stück Pavlova Torte brachte. „Ich habe sie heute morgen ganz frisch zubereitet“, sagte Margaret, „es ist eine neuseeländische Spezialität, die ihr unbedingt probieren müsst.“

 

Mit großem Genuss aßen Isabel und Kowalski ihre Portion der traditionellen Baiser-Torte mit frischen Erdbeeren und Sahne. Sie hatten Margaret gerade für die köstliche Nachspeise gelobt, da kehrte ihr Mann zurück. Mit einem Grinsen im Gesicht betrat Steve den Frühstücksraum und meinte gut gelaunt: „Ich hoffe, ihr habt mir ein Stück Pavlova übrig gelassen.“ 

 

Gespannt warteten Isabel und Kowalski darauf, was Steve erzählen würde. Sollte er wirklich von seinem Treffen mit dem Sheriff berichten, dachte Kowalski, dann würde er nicht darum herumkommen, den Schusswechsel am Strand mit tödlichem Ausgang zu erwähnen. Und damit hätte er uns in eine äußerst peinliche Situation gebracht.

 

Und während Isabel und Steve immer nervöser wurden, verspeiste Steve in Ruhe sein Stück Torte, trank dazu eine Tasse Tee, die seine Frau ihm gebracht hatte, und ergriff erst dann das Wort. „Ach ja, es ist übrigens alles geklärt, Isabel und Tom, ihr müsst euch keine Gedanken mehr machen. Das Kajak habe ich mit Hilfe meines Freundes John, der zufällig am Strand war, auf den Anhänger getragen und es mit zurück gebracht. Und der Verlust eines Paddels ist nicht schlimm. Ich habe noch eine ganze Sammlung davon. Was den komischen Typen angelangt, den ihr da in der Nähe des Steges gesehen habt, der ist wieder verschwunden. Also, alles ist gut. Hauptsache ihr beiden habt das unfreiwillige Bad in unserem schönen See unbeschadet überstanden.“

 

Isabel war reichlich irritiert über Steves merkwürdige Darstellung, doch in Gegenwart von Margaret hütete sie sich davor, bei Steve nachzuhaken und das Thema auf den Toten am Strand zu lenken. 

 

Kowalski meinte zu verstehen, warum Steve eine für die Ohren von Margaret bestimmte alternative Wahrheit präsentierte. Aber er wäre vollkommen zufrieden, wenn sich so das Problem in Wohlgefallen auflösen würde. 

 

Isabel allerdings fühlte sich ziemlich unbehaglich, nicht nur weil sie das Verhalten von Steve und seine Rolle bei der ganzen Aktion recht merkwürdig fand, sondern auch, weil sie den Verdacht hatte, dass hier gerade etwas außerhalb der Legalität ablief. Sie fragte sich, was diese ganze Vertuschung eigentlich sollte – und warum Steve ein Gewehr in seinem Wagen deponiert hatte. So wie sie wusste, ging er nicht auf die Jagd. 

 

Nachdem sie sich noch einmal bei Margaret für die köstliche Stärkung und bei Steve für seine Hilfsbereitschaft bedankt hatten, zogen sich Isabel und Kowalski mit der Bemerkung, sie fühlten sich ziemlich erschöpft und wollten sich ein wenig ausruhen, auf ihr Zimmer zurück. Müde lagen sie auf ihrem Doppelbett und überlegten, wie es jetzt weitergehen sollte. 

 

Isabel gab zu bedenken, dass der erschossene Ziegenbart-Mann, falls er wirklich von Sportwetten-Karl geschickt worden war, wahrscheinlich noch einen Kumpanen hatte, der ihnen gefährlich werden könnte. „Und der geht mit uns bestimmt nicht gerade zimperlich um, wenn er uns erwischt“, meinte sie. 

 

„Das sehe ich auch so“, erwiderte Kowalski, „ich könnte mir gut vorstellen, dass der zweite Mann in der Motoryacht ein Kollege von Mister Ziegenbart ist. Ich schlage deshalb vor, dass wir hier so schnell wie möglich unsere Zelte abbrechen, so schön es an diesem See auch ist. Wir sollten Steve fragen, ob man hier im Ort einen Gebrauchtwagen erwerben kann, um dann, falls wir ein Auto auftreiben sollten, gleich morgen nach dem Frühstück aufzubrechen.“ 

 

Isabel gähnte und äußerte ihr Einverständnis, und dann dauerte es keine Minute, bis beide eingeschlafen waren. Als sie aufwachten, war es bereits früher Abend, und da sie keinen Hunger verspürten und sich nicht unnötig in der Öffentlichkeit sehen lassen wollten, verzichten sie auf einen Restaurantbesuch. 

 

9.

 

Kowalski informierte Steve über ihre Abreisepläne, bat um die Rechnung für ihren Aufenthalt und erkundigte sich, ob es im Ort eine Möglichkeit gebe, ein gebrauchtes Auto zu kaufen. Währenddessen packte Isabel ihre und Kowalskis Sachen zusammen und verstaute sie in den Rucksäcken.

 

Steve fragte Kowalski nicht nach dem Grund des vorzeitigen Aufbruchs seiner Gäste. Deshalb hatte Kowalski den Eindruck, als verstehe sein Gastgeber nicht nur, warum sie schon morgen weiterreisen wollten, sondern als sei er mit ihrer Abreise sogar recht zufrieden. Allerdings blieb Steve freundlich, als er Kowalski mitteilte, es gebe eine Tankstelle in Saint Arnaud, wo der Besitzer auch ein kleines Angebot an gebrauchten Fahrzeugen hätte. 

 

„Neben seinem General Store & Café betreibt mein Freund Henry auch eine kleine Gas Station“, sagte Steve. „Dort könnt ihr mal schauen, ob ihr etwas Passendes findet. Die Tankstelle liegt keinen Kilometer entfernt direkt am Highway, gleich gegenüber dem Alpine Lodge Hotel. Wenn ihr wollt, kann ich euch gern hinfahren.“

 

Kowalski lehnte dankend ab und meinte, das sei für sie morgen nach dem Frühstück ja nur ein kleiner Spaziergang bis dort hin. Auf Steves nochmaligen Hinweis, er wisse natürlich nicht, ob sie bei Henry einen Wagen ihrer Vorstellung finden würden, schließlich biete er nur eine überschaubare Anzahl älterer Modelle an, von denen die meisten Pickups und vielleicht ein oder zwei Kleinwagen seien, erwiderte Kowalski: „Kein Problem, wir sind da nicht anspruchsvoll und wären auch mit einem Kleinwagen zufrieden. Hauptsache er ist fahrbereit und hat noch genügend Profil auf den Reifen.“ 

 

Steve lächelte und meinte, Henry sei ein grundehrlicher Kerl, der seine Kunden niemals übers Ohr hauen würde. „Er vermittelt euch bestimmt auch eine günstige Haftpflichtversicherung für das Auto“, sagte er. „Und wenn ihr Henry einen schönen Gruß von Margaret und Steve ausrichten würdet, könnt ihr sicherlich mit einem guten Preis rechnen.“

 

Kowalski bedankte sich und erklärte Steve, dass Isabel und er früh schlafen gehen wollten, damit sie am Morgen für ihre Fahrt ausgeruht seien, um weiter die Schönheiten der Südinsel zu erkunden. Er meinte noch, sie würden sich auf das tolle Frühstück freuen, dann verabschiedete er sich für diesen Tag. 

 

Steve wünschte eine gute Nacht und kündigte an, Margaret wolle ihnen zum Frühstück etwas ganz Besonderes servieren. „Das habt ihr verdient, nach eurem verrückten Abenteuer“, fügte er noch hinzu und grinste.

 

Nach einem aufregenden und anstrengenden Tag schliefen Isabel und Kowalski wie zwei Murmeltiere. Da ihre Rucksäcke bis auf die Zahnbürsten reisefertig gepackt waren, konnten sie nach dem Duschen und Anziehen gleich den Frühstücksraum aufsuchen.

 

Dort begrüßte sie eine gut gelaunte Margaret und füllte ihre Tassen mit frisch aufgebrühtem Kaffee. Während sie bemerkte, vor der Weiterreise müssten sie sich mit etwas besonders Nahrhaftem stärken, tischte sie ihnen ein reichhaltiges Frühstück auf, an das sich Isabel und Kowalski noch lange erinnern sollten. Erst servierte Margaret Baked Beans, Tomaten und Pilze zu Avocado Toasts, um anschließend köstliche Eggs Benedict folgen zu lassen. 

 

Eine gute Stunde später hatten Isabel und Kowalski den Eindruck, den restlichen Tag keine weitere Nahrung mehr zu benötigen. Ihre Rucksäcke bereits geschultert, verlief der Abschied von Margaret und Steve herzlich, und sie mussten ihren Gastgebern versprechen, auf ihrer nächsten Reise nach Neuseeland wieder bei Ihnen vorbeizuschauen. 

 

Bereits nach zehn Minuten Fußmarsch erreichten Isabel und Kowalski Henrys Tankstelle. Sie fanden Henry im General Store neben der Gas Station. Den Laden mit integriertem kleinen Café betrieb der hünenhafte, vollbärtige und einen Cowboy-Hut tragende Mittvierziger ebenfalls selbst. Als sie ihm mitteilten, Steve vom Avarest B & B schicke sie her und lasse herzlich grüßen, erschien auf seinem zunächst ernst wirkenden Gesicht ein breites Lächeln. Die Frage, ob sie bei ihm einen Gebrauchtwagen kaufen könnten, ließ ihn laut auflachen.

 

„Natürlich“, meinte er fröhlich, „neben dem Verkauf von Benzin, Fish & Chips und Kaffee verdiene ich damit meinen Lebensunterhalt, auch wenn ich weder Sportwagen noch Luxuslimousinen im Hof stehen habe.“

 

„Uns würde schon ein zuverlässiger Kleinwagen genügen“, sagte Kowalski, „Luxus und besonders viel Platz brauchen wir nicht.“ „Okay“, erwiderte Henry, „dann zeige ich euch mal, was ich heute im Angebot habe, aber ich sage euch gleich, eine große Auswahl dürft ihr nicht erwarten.“

 

Henrys Angebot bestand aus vier betagten Pick-up-Trucks, einem mindestens fünf Meter langen, schwedischen Kombi und einem japanischen Kleinwagen, der gut gepflegt aussah. Nach Henrys Beteuerung, der kleine Toyota sei frisch gewartet, die Batterie kürzlich aufgeladen, absolut zuverlässig und habe keine fünfzigtausend Kilometer auf dem Tacho, stand einem schnellen Deal nichts im Weg, auch weil Isabel das Auto niedlich fand und mit einer Sitzprobe zufrieden war. 

 

Zu Kowalskis Erleichterung akzeptierte Henry die Kreditkarte, und nach Abschluss einer Haftpflichtversicherung, dem Einkauf von etwas Reiseproviant sowie dem Erwerb eines Prepaid-Handys konnte die Fahrt mit dem voll getankten Toyota losgehen. Zum Abschied winkte Henry Isabel und Kowalski mit seinem Cowboy-Hut hinterher, während sie ihr neu erworbenes Fahrzeug auf den Highway in westliche Richtung steuerten. 

 

Ihr Plan war, auf dem Highway Nr. 63 und später dem Nr. 6 am Buller River entlang zu fahren, bis sie die Abzweigung auf den Shenandoah Highway erreichen würden. Weiter Richtung Süden sollte es dann bis zu Springs Junction gehen, wo es eine Übernachtungsmöglichkeit in einem Motel gab, wie Isabel herausgefunden hatte. Nach der Überquerung des Lewis Passes würde sie der Highway Nr. 7 bis zur Ostküste bringen. Im Weinbaugebiet des Waipara-Valley nördlich von Christchurch wollten sie dann ein paar Tage relaxen. 

 

Isabel wünschte sich, einen Ausflug nach Christchurch zu unternehmen. Sie hatte gelesen, dass man auf dem Avon River, der sich durch das schöne Stadtzentrum schlängelt, eine Tour in einem Stechkahn unternehmen könne. „Das wäre doch eine tolle Sache, Tom“, meinte sie, während sie Saint Arnaud hinter sich gelassen hatten und auf dem State Highway ein Waldgebiet durchquerten. „Wir sitzen gemütlich in einem kleinen Kahn und lassen uns auf einem ruhigen, kleinen Fluss vom Bootsführer mit seinem Stechpaddel durch die Garden City manövrieren. Und ich wette mit dir, diese Sightseeing-Tour ist nicht mit einem unfreiwilligen Bad verbunden.“

 

Kowalski grinste und meinte: „Klar, das machen wir, Isabel, und ich denke, bei so einer Bootsfahrt können wir bestimmt auf Schwimmwesten verzichten.“ „Auf jeden Fall“, erwiderte Isabel, „und wir bauchen und auch nicht befürchten, ein Paddel zu verlieren.“ Beide mussten lachen, und die Stimmung in ihrem kleinen Auto war prächtig. 

 

10.

 

Nach einer Stunde Fahrt folgte der Highway einer engen Flussbiegung und führte ein Stück nach Süden. Sie fuhren jetzt durch ein Waldgebiet, dessen große, dicht stehende Bäume die Sicht auf das westliche Ufer des Buller River versperrten. 

 

Isabel hatte gerade eine Tüte Kartoffel-Chips geöffnet und wollte  ihrem Freund einen Chip in den Mund schieben, als sie sah, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. „Was ist los, Tom?“, fragte sie. „Da befindet sich plötzlich ein Wagen dicht hinter uns“, sagte Kowalski, „der ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, als wäre er enorm schnell gefahren. Und jetzt scheint der Fahrer sich nicht zu trauen, uns zu überholen.“

 

Isabel blickte in den Rückspiegel und sah einen roten amerikanischen Pick-up, dessen riesiger, verchromter Kühlergrill bedrohlich nah dem Heck ihres Wagens gekommen war. Sie erkannte, dass der Fahrer des Trucks ein schwarzes Stirnband trug, und sie meinte auch, ein Grinsen in seinem breiten, schwammig wirkenden Gesicht zu erkennen. 

 

„Der Typ macht mir Angst, Tom“, sagte Isabel, „werden wir etwa schon wieder verfolgt?“ „Ich hab keine Ahnung“, antwortete Kowalski, und Isabel glaubte, in seiner Stimme eine Spur Wut herauszuhören. Plötzlich rief Kowalski: „Los du Idiot, jetzt überhol doch endlich“, und als habe der Pick-up-Fahrer ihn gehört, gab dieser Gas und raste lautstark an ihnen vorbei. 

 

„Der hat doch seinen Auspuff manipuliert“, sagte Isabel und sah, dass der Wagen nach dem rasanten Überholvorgang nicht wie erwartet mit hoher Geschwindigkeit weiterfuhr und sie hinter sich ließ, sondern plötzlich wieder näher kam. „Vorsicht, Tom“, rief sie, doch Kowalski hatte bereits gemerkt, dass der Fahrer des vorausfahrenden Pick-ups abbremste –und trat selbst auf das Bremspedal.  

 

„Ja spinnt der denn?“; rief Kowalski aufgebracht, als der Toyota nach seiner heftigen Bremsaktion gefährlich hin und her schleuderte. Isabel erkannte mit schreckgeweiteten Augen, dass sie fast in den Pick-up hineingefahren waren, es hatten nur noch höchstens zwei Meter gefehlt. 

 

Dann stabilisierte sich die Fahrweise ihres Wagens, und Isabel und Kowalski sahen mit Erleichterung, dass der Pick-up wieder beschleunigte und sich der Abstand zwischen ihm und ihrem Auto rasch vergrößerte. „Ich bin sicher“, sagte Isabel, „der Kerl wollte, dass wir in ihn hinein donnern, warum auch immer. Und ich glaube auch, sein Wagen hätte das locker ausgehalten, aber die Front unseres Toyotas wäre nach dem Crash platt gewesen – und wir wahrscheinlich ebenfalls.“

 

„Und du meinst wirklich, der Typ hinter dem Pick-up-Steuer wollte uns auf diese Weise aus dem Weg räumen oder vielleicht sogar umbringen?“, fragte Kowalski. „Glaubst du denn, der Kerl ist auch einer von Sportwetten-Karls Muskelmännern?“ 

 

Isabel erstarrte. „Mensch Tom, jetzt wo du es sagst! Das würde absolut Sinn machen. Aber warum hat er uns dann nicht von der Seite gerammt und uns von der Straße und in die Bäume gedrängt?“ 

 

„Weil es dann vielleicht nicht nach einem Unfall ausgesehen hätte“, meinte Kowalski, „so aber wäre die Sache ziemlich klar. Wir sind viel zu schnell, halten nicht genügend Abstand ein und rasen in seinen Truck hinein. Uns trifft die Schuld, sein Wagen hat nur kaputte Rückleuchten und Schrammen an der Stoßstange, unser Auto aber ist Schrott – und wir sind mindestens schwer verletzt.“

 

„Mein Gott“, sagte Isabel, „ich befürchte, das klingt verdammt plausibel.“ Und dann, nach einer langgezogenen Rechtskurve,  sah sie den Pick-up wieder und erkannte an der schnell abnehmenden Distanz, dass der Fahrer anscheinend sein Manöver von vorhin wiederholen wollte. „Achtung Tom“ rief sie aufgeregt, „es geht wieder los.“ 

 

Kowalski bremste ab, aber nicht zu heftig. Er sah auf einmal eine Chance, die Fahrbahn zu verlassen, bevor ein Zusammenstoß drohte. Am linken Straßenrand hatte er eine grasbewachsene Lichtung entdeckt, auf der sich mehrere hohe Stapel mit Baumstämmen befanden. 

 

Die Geschwindigkeit des Toyota war jetzt so stark vermindert, dass Kowalski problemlos über eine kurze, gekieste Zufahrt auf den Lagerplatz fahren und neben einem der Holz-Stapel anhalten konnte. 

 

Gebannt schauten Isabel und Kowalski zum Pick-up, um zu sehen, wie dessen Fahrer reagieren würde. Zu ihrer Erleichterung machte dieser keine Anstalten, mit seinem Wagen an einer geeigneten Stelle am Fahrbahnrand anzuhalten und auszusteigen. Stattdessen beschleunigte er seinen Truck und raste davon.

 

Isabel holte ein paar Mal tief Luft. Die Vorstellung, der Kerl hätte nicht weit entfernt eine Möglichkeit zu parken gefunden und käme dann mit einer Waffe in der Hand auf sie zu, hatte ihr arg zugesetzt, doch nun war er weg. Gottseidank, dachte sie „Meinst du, wir können jetzt ohne Gefahr weiter fahren?“, fragte sie Kowalski. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, Isabel“, antwortete er, „es wäre vielleicht besser, wir bleiben hier noch einige Minuten stehen und versuchen, uns zu entspannen.“

 

„Leicht gesagt“, erwiderte Isabel, „ wenn der Kerl einen Auftrag hat, wird er den bestimmt ausführen wollen.“ „Mag sein“, meinte Kowalski, „aber solange wir hier parken, kann er seinen Plan nicht erfolgreich durchführen. Und wenn er ein Profi- Killer mit einer Knarre wäre, hätte er uns schon längst in die ewigen Jagdgründe geschickt.“ 

 

„Na gut“, sagte Isabel, „dann legen wir halt eine längere Pause ein, essen unsere Chips und lauschen den Gesängen der neuseeländischen Waldvögel. Und wir hoffen, dass der Pick-up-Pilot, falls er irgendwo auf uns warten sollte, die Geduld verloren hat, bevor wir dort auftauchen.“

 

„Das sollten wir hoffen“, erwiderte Kowalski und schlug vor, dass es ihnen vielleicht gut tun würde, sich ein wenig die Beine zu vertreten, bevor die Fahrt weiter ginge. Er wies auf die andere Straßenseite und sagte: „Dort drüben, nicht weit hinter den Bäumen, müsste das Ufer des Buller River sein. Lass uns doch einen kleinen Spaziergang dorthin unternehmen.“

 

Isabel war einverstanden, und so verstauten sie die wichtigsten Dinge in einem kleinen Beutel, verschlossen das Auto, überquerten die Fahrbahn und verschwanden zwischen groß gewachsen Laubbäumen. Dornige Sträucher zwangen sie, sich behutsam zu bewegen, damit ihre Kleidung keinen Schaden nehmen würde, doch nach vielleicht zwanzig Metern hatten sie bereits die felsige Uferböschung erreicht.

 

Sie setzten sich auf einen größeren Felsblock und schauten fasziniert auf den Fluss, dessen grünes Wasser an dieser Stelle recht wild floss und zahlreiche Stromschnellen erzeugte. Der Anblick beruhigte ihre angespannten Nerven, und so blieben sie noch eine ganze Weile an diesem wunderschönen Ort. 

 

11.

 

Zurück in ihrem Wagen gönnten sie sich bei geöffneten Türen noch einen kleinen Imbiss aus ihrem Reiseproviant und atmeten die gute Luft ein, die würzig nach dem Harz der gefällten Baumstämme roch. 

 

Als sie weiterfuhren, hatten sie mindestens zwei Stunden auf dieser Lichtung zugebracht. An der Stelle vor der Brücke über den Buller River, wo ein Schild darauf hinwies, dass der State Highway Nr. 6 hier in den auch Süden führenden Highway Nr. 65 überging, hatte sich ihre düstere Stimmung deutlich aufgehellt.

 

„Ich glaube, der Kerl mit dem Pick-up hat es aufgegeben, uns aus dem Weg zu räumen“, sagte Isabel. „Schön wär’s“, entgegnete Kowalski, „mag sein, dass du richtig liegst. Trotzdem müssen wir weiterhin auf der Hut sein. Am besten wäre es, wenn wir, bevor wir den Lewis Pass erreichen, uns in einem kleinen Ort ein etwas abgelegenes Motel oder Bed and Breakfast suchen. Dort könnten wir uns sozusagen ein paar Tage verstecken. Unseren Wagen sollten wir so parken, dass er vor neugierigen Blicken möglichst geschützt steht. Schau doch bitte mal nach, Isabel, welche Ortschaften auf unserer Strecke sich dafür eignen würden.“ 

 

Isabel griff nach dem Handy und forschte eine Weile auf Google Maps, dann teilte sie Kowalski mit, was sie herausgefunden hatte. „Das nächste Dorf wäre Maruia, dort gibt es ein Motel etwas abseits des Highways. Bis dorthin ist es gar nicht mehr weit. Und dann kommen noch die Lewis Pass Motels in Frage, vielleicht drei oder vier Kilometer nach einem kleinen Ort Namens Springs Junction. Bis zum Pass wären es dann ungefähr noch fünfzehn Kilometer." „Okay“, sagte Kowalski, „dann schauen wir uns zunächst das Motel in Maruia an.“ 

 

Maruia erwies sich als weit verzweigte Siedlung, und das Motel befand sich ein paar Kilometer nach dem Ort. Da es direkt am Highway lag und von der Straße aus sehr gut zu sehen war, schlug Kowalski vor, lieber noch weiter zu fahren. „Wir sollten weiterhin vorsichtig sein“, meinte er, und Isabel sah das auch so.

 

Etwa fünfzehn Kilometer weiter wies ein Schild am Straßenrand auf die Western Rivers Lodge hin, und Isabel meinte, sie sollten sich diese Lodge vielleicht einmal anschauen. Ein Stück nach dem Schild folgte ein weiterer Hinweis, und Kowalski bog vom Highway auf einen sandigen Weg ab, der zu der Ferienanlage führte.

 

Die Lodge, die aus einem Haupthaus und drei kleineren Gebäuden bestand, lag gut geschützt hinter einem kleinen Wäldchen. „Das sieht nett aus“, meinte Isabel, als sie vor dem Haupthaus anhielten, „und es wäre doch ideal für uns. Vom Highway aus kann man die Anlage überhaupt nicht sehen, und die parkenden Autos ebenfalls nicht.“ „Das wäre in der Tat perfekt“, sagte Kowalski, „und der Maruia River ist auch nur ein paar hundert Meter entfernt. Aber lass uns lieber erst einmal fragen, ob hier überhaupt noch etwas frei ist.“ 

 

Zu Isabels und Kowalskis Bedauern waren alle Ferienwohnungen belegt, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterzufahren. „Als nächstes kämen dann die Holiday Homes in Springs Junction“, informierte Isabel ihren Partner, doch als sie keine zehn Minuten später dort ankamen, sahen sie gleich, dass die kleine Gruppe von Ferienunterkünften direkt an der Straße lag.

 

„Hier kann man auch die parkenden Fahrzeuge direkt vom Highway aus sehen“, bemerkte Kowalski, und so verzichteten sie darauf, sich hier nach einem freien Zimmer oder Apartment zu erkundigen. „Also dann weiter Richtung Lewis Pass“, sagte Isabel, während sie auf das Smartphone schaute, „und wenn ich das hier richtig sehe, erreichen wir in fünf oder sechs Kilometern bereits die nächste Motel-Anlage.“ 

 

„Na dann“, sagte Kowalski, „ich hab’ so ein Bauchgefühl, dass wir dort endlich etwas Passendes finden.“ „Dann wollen wir mal hoffen, dass dein Bauchgefühl dich nicht trügt“, erwiderte Isabel grinsend, doch als sie im Rückspiegel sah, wie ein großer, roter Wagen schnell näher kam, verfinsterte sich ihre Miene schlagartig. 

 

„Verdammt“, rief sie, „da ist der Pick-up schon wieder, ich befürchte, wir sind den Kerl immer noch nicht los.“ Automatisch nahm Kowalski seinen Fuß vom Gaspedal, während seine Augen die Strecke vor ihnen nach einer Möglichkeit absuchten, vom Highway abzubiegen, doch Kowalski sah keine Gelegenheit dazu.

 

Während der rote Pick-up an ihnen vorbei raste, befürchtete Kowalski einen Augenblick, der Fahrer würde sein teuflisches  Bremsmanöver von vorhin wiederholen, doch zu seiner Erleichterung beschleunigte der Truck lautstark weiter und war nach ein paar Sekunden hinter einer Linkskurve verschwunden. 

 

Mit etwa fünfzig Stundenkilometern folgten sie der langgezogenen Linkskurve, als ihnen ein Lkw entgegen kam, dessen Fahrer ein paar Mal die Lichthupe betätigte. „Warum macht er das?“, fragte Isabel. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Kowalski, doch als sie das Ende der Kurve erreicht und wieder freie Sicht auf die schnurgerade Strecke vor ihnen hatten, wussten sie warum. 

 

„Oh Gott“, entfuhr es Isabel beim Anblick des roten Pick-ups. Etwa hundert Meter vor ihnen war der Wagen frontal gegen einen am Straßenrand stehenden, großen Laubbaum geprallt. Kowalski schaltete sofort die Warnblink-Anlage ein und fuhr links ran. Während er und Isabel ausstiegen und auf das verunglückte Auto zugingen, sahen sie, dass die Wucht des Zusammenstoßes die Motorhaube des Trucks und einen Teil der Fahrerkabine eingedrückt hatte.

 

„Das sieht nicht gut aus“, sagte Kowalski und bat Isabel, mit dem Handy die Rettungssanitäter herbeizurufen. Während Isabel den Notruf wählte, bemerkte er, dass schwarzer Rauch aus dem zerstörten Fond des Fahrzeugs drang. Abrupt blieb er stehen.

 

Dann sah Kowalski, wie kleine Flammen über das zersplitterte und zerbeulte Blech der Kühlerhaube züngelten, und als ihm der Geruch von Benzin in die Nase stieg, verstand er das als Warnsignal. „Achtung Isabel“, rief er, „der Wagen brennt, und der Tank könnte gleich explodieren.“ Dann warf er sich auf den Boden und legte schützend die Arme über seinen Kopf. 

 

Isabel, die der Rettungsdienst-Zentrale soeben ihren ungefähren Standort durchgegeben hatte, tat es ihrem Partner nach, und so lagen beide im feuchten Gras, keine zwanzig Meter von dem Unfallwagen entfernt.

 

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Feuerspur den Benzintank erreicht hatte. Die Explosion war ohrenbetäubend, und eine Hitzewelle rollte über Kowalski hinweg. Er spürte, wie etwas Heißes sein rechtes Ohr streifte und irgendetwas Anderes seine Schläfe schmerzhaft traf. Besorgt drehte er sich zu Isabel um, die ein paar Meter hinter ihm lag, doch sie schien unversehrt zu sein.  Sie hatte sich bereits aufgesetzt und starrte schockiert auf den jetzt lichterloh brennenden Pick-up.

 

„Ich befürchte, dem Fahrer ist nicht mehr zu helfen“, sagte Kowalski, nachdem er zu Isabel gegangen war und seiner am ganzen Körper zitternden Freundin geholfen hatte aufzustehen. „Und wir sollten uns lieber in Sicherheit bringen, wer weiß, ob da nicht noch irgendwas explodiert und uns um die Ohren  fliegt.“

 

Isabel war noch zu schockiert um antworten zu können, doch als sie Kowalskis blutverschmierte Stirn sah, legte sie ihrem Partner die Hand auf die Schulter und sagte mit tiefer Besorgnis in ihrer Stimme: „Du bist ja verletzt, Tom, das sollte schnell behandelt werden.“ „Keine Sorge, Isabel,“ erwiderte Kowalski, das ist nur ein Kratzer, der ein wenig brennt. Lass uns schnell von hier verschwinden, bevor die Rettungssanitäter eintreffen – und wahrscheinlich auch die Polizei. Helfen kann hier sowie niemand mehr, und wir sollten es uns ersparen, auf wer weiß wie viele  Fragen antworten zu müssen.“

 

„Wie du meinst, Tom“, sagte Isabel, „aber so richtig wohl fühle ich mich nicht dabei.“ „Das verstehe ich“, meinte Kowalski, „aber uns trifft keinerlei Schuld an diesem tragischen Unfall. Und warum der Pick-up-Truck von der Fahrbahn abgekommen ist, wissen wir nicht. Darum soll sich die Polizei kümmern. Wir haben ja schließlich auch nicht gesehen, wie es passiert ist, und könnten zur Ursachenermittlung deshalb sowieso nichts beitragen.“

 

„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte Isabel, aber überzeugend klang es nicht. „Hast du einmal darüber nachgedacht, warum der Lkw-Fahrer nicht angehalten hat? Er muss doch Zeuge des Geschehens gewesen sein.“ „Ja habe ich“, antwortete Kowalski, „aber ich kann da nur spekulieren. Vielleicht war er irgendwie an dem Unfall beteiligt und hat es für klüger gehalten, sich aus dem Staub zu machen.“ 

 

„Vielleicht“, erwiderte Isabel, „aber jetzt lass uns weiter fahren. Mit etwas Glück hat dieser schreckliche Unfall für uns ja eine durchaus erfreuliche Auswirkung.“ „Was meinst du, Isabel?“, fragte Kowalski. „Na, dass uns jetzt niemand mehr verfolgt, Tom, das meine ich.“ „Das wäre zu schön, um wahr zu sein“, sagte Kowalski, ergriff Isabels Hand und zog seine Partnerin sanft in Richtung ihres Autos. 

 

12.

 

Sie hatten gerade im Toyota Platz genommen hatten, da hörten sie in der Ferne eine Sirene. „Jetzt wird’s allerhöchste Zeit zu verschwinden“, meinte Kowalski, startete den Motor, lenkte den Kleinwagen auf den Highway und fuhr an dem verunglückten Pick-up vorbei. Er sah, dass aus den Überresten des Wagens immer noch dunkler Rauch in den Himmel stieg Und dann beschleunigte er das Auto bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit.  

 

„Wie weit ist es noch bis zum Lewis Pass?“, fragte er Isabel. „Ich schau mal nach“, meinte sie und griff nach dem Handy. Zwei Minuten später hatte sie es herausgefunden. „Höchstens zwanzig Kilometer“, informierte sie Kowalski. „Okay“, erwiderte der, „dann schauen wir mal, ob wir dort ein nettes Plätzchen für ein kleines Picknick finden. Ich finde, das haben wir uns verdient. Nach der Pause geht’s weiter Richtung Küste – und dann runter nach Christchurch. Und dann“, und jetzt verzog sich sein bislang ernstes Gesicht zu einem breiten Grinsen, „dann geht es erst richtig los mit unserem Traumurlaub.“ 

 

„Ich bewundere deinen Optimismus, Tom“, meinte Isabel und lächelte. „Aber warum sollten wir nach dem ganzen Stress nicht einmal für längere Zeit das Glück auf unserer Seite haben? Dann also los Richtung Traumurlaub!“

 

Am Lewis Pass fanden sie keinen geeigneten Platz für eine gemütliche Picknick-Pause, und so folgte Kowalski Isabels Vorschlag, weiter bis nach Hanmer Springs zu fahren. „Dort gibt es zahlreiche Übernachtungs-Möglichkeiten und Restaurants–  und sogar ein Thermalbad. Allerdings sind es bis dorthin noch circa siebzig Kilometer. “

 

„Das klingt gut“, sagte Kowalski, „und eine gute Stunde Fahrt schaffen wir auch ganz locker. Für den kleinen Hunger haben wir ja noch ein paar Schoko-Riegel an Bord.“ „Ganz genau, Tom“, meinte Isabel, „und ich werde mir jetzt gleich einen dieser Riegel genehmigen.“

 

Eine knappe Stunde später fuhren Isabel und Kowalski vom Highway ab, und nach fünf Minuten hatten sie bereits Hanmer Springs erreicht. Gleich bei der ersten Apartment-Anlage nach dem Ortseingang fanden sie eine freie, wunderschöne Wohnung und mieteten sie für drei Tage. 

 

Der hoteleigene Pool und eine top ausgestattete Küche in ihrer zweigeschossigen Wohnung versprachen einen angenehmen Aufenthalt, und als Isabel sah, dass sich in nicht mehr als fünfhundert Metern der Hanmer Springs Animal Park befand, hatten sie schon für den morgigen Tag ein attraktives Ausflugs-Programm. 

 

„Ist dir eigentlich aufgefallen, Isabel, dass uns bis hierhin auf dem Highway niemand verfolgt oder bedrängt hat?“, fragte Kowalski, während sie auf der Terrasse ihres Apartments saßen, die herrliche Aussicht auf den Garten genossen und sich die kulinarischen Kleinigkeiten schmecken ließen, die sie für das Picknick eingekauft hatten. „Natürlich, Tom“, erwiderte Isabel, „und deshalb bin ich jetzt wieder bestens gelaunt und optimistisch gestimmt. Ich freue mich darauf, übermorgen mit dir in den Thermal Pools zu relaxen.“

 

„Ach so", meinte Kowalski grinsend, „und was hast du für den Tag darauf geplant?“ Isabel musste lachen. „Noch nichts, Tom, aber vielleicht hast du ja eine Idee.“ „Ja, hab’ ich in der Tat“, erwiderte Kowalski, „denn ich habe vorhin ein paar Prospekte durchgesehen, die auf dem Wohnzimmertisch lagen. Und da wird eine Wandertour empfohlen, die am Ortsausgang beginnt und auf den Conical Hill hinauf führt. Es geht immer durch den Wald, und am Ende des Wanderwegs soll auf dem Gipfel die herrlichste Aussicht warten.“

 

„Das machen wir, Tom“, sagte Isabel, „und auf dem Rückweg kehren wir im Hanmer Sushi & Bowl ein und stärken uns nach der bestimmt anstrengenden Wanderung.“ „Du hast ja wirklich deine Hausaufgaben gemacht, Isabel, mein Kompliment“, meinte Kowalski grinsend. „Darauf lass uns mal mit unseren Bierdosen anstoßen. Ich bin gespannt, wie dieses Kia Ora Bier schmeckt.“ 

 

Während sie das Bier tranken und die Reste vom Picknick verzehrten, sagte Kowalski: „Ach Isabel, ich hab da noch was gefunden, einen Augenblick bitte.“ Er stand auf, ging in die Ferienwohnung, kam eine Minute später wieder zurück und legte eine Packung Spielkarten auf den Tisch. „Wir haben in unserem Urlaub noch gar nicht Rommé gespielt.“

 

„Na dann wird es höchste Zeit, Tom“, erwiderte Isabel grinsend. Aber ich spiele mit dir nur unter einer Bedingung. Nach drei Tagen fahren wir weiter. Mich zieht es ans Meer, und vielleicht schaffen wir es ja in einem Tag bis zur Ostküste. Und dann runter bis nach Christchurch.“ „Das klingt akzeptabel für mich“, meinte Kowalski, „aber ich habe auch eine kleine Bedingung, Isabel. Wir starten erst durch, wenn ich ein Mal beim Rommé gewonnen habe.“

 

Isabel lachte und meinte dann: „Na gut, Tom. Spielen wir wieder so, dass wir nach zehn Runden die Punkte zusammenrechnen?“ „Na klar“, sagte Kowalski, „so machen wir es ja immer, ganz strikt nach dem Motto: Abgerechnet wird zum Schluss.“

 

„Dann lass uns gleich loslegen“ sagte Isabel und leerte ihre Bierdose. „Ich hole schnell einen Stift und einen Zettel. Und du kannst in dieser Zeit schon mal die Karten mischen.“

 

„Mach ich doch glatt“, meinte Kowalski bestens gelaunt, „aber ich muss dich warnen, denn ich habe ein sehr gutes Gefühl, dass ich heute auf der Gewinnerseite sein werde. Und als Sieger würde ich dir dann versprechen, dass du auf unserer Tour durch das Waipara-Valley-Gebiet bestimmen darfst, wo wir Station machen – und auch wie lange wir dort bleiben. Ich ernenne dich dann zu unserer Touristik-Chefin. Na was hältst du davon?“

 

„Das klingt verlockend, Tom,“ sagte Isabel und ließ ihr bezauberndes Lächeln erstrahlen, „aber trotzdem werde ich dich beim Rommé nicht absichtlich gewinnen lassen. Du musst es schon aus eigener Kraft schaffen, mich zu schlagen.“

 

„Natürlich Isabel, und ich weiß auch, wie schwer das ist. Aber wir werden sehen … Haben wir eigentlich noch Dosen mit diesem Kia-Bier? Es schmeckt zwar etwas ungewöhnlich, aber man kann es trinken.“

 

„Es ist leider nur noch eine Dose da, Tom“, sagte Isabel, „deshalb schlage ich vor, dass die Rommé-Siegerin oder der Rommé-Sieger das Bier trinken darf.“ „Ich habe einen besseren Vorschlag“, erwiderte Kowalski, „ich gebe jetzt die Karten, und während wir dann spielen, teilen wir uns die Dose.“ 

 

Isabel lachte und sagte: „Du raffinierter Kerl. Aber okay, du hast mich überredet. Doch die Karten solltest du bitte noch einmal gründlich mischen, bevor du sie verteilst.“

 

13.

 

Während Kowalski fleißig mischte und Isabel den Eindruck hatte, er wolle gar nicht mehr damit aufhören, holte sie das letzte Bier, setzte sich wieder an den Tisch, öffnete die Dose und trank daraus. 

 

„He“, sagte Kowalski, während er die Rommé-Karten verteilte, „lass mir noch etwas übrig.“ „Ach, Entschuldigung, Tom,“ sagte Isabel, „doch ich glaube, die Dose ist schon leer. Es tut mir leid, aber in so einer Dose ist wirklich nicht viel drin.“

 

Kowalski schmollte und machte ein finstere Miene, doch als er seine zehn Karten anschaute und registrierte, dass er drei Joker auf der Hand hatte, konnte er seine Freude darüber nicht verbergen. Er strahlte über das ganze Gesicht und war sich so siegessicher, dass er sagte: „Isabel, du kannst nachher schon mal recherchieren, welcher Ort dir so attraktiv erscheint, dass wir dort unseren ersten Halt auf der Tour machen.“

 

„Ach Tom“; sagte Isabel, „ich habe doch schon längst nachgeschaut. Unser erster Stop wäre in Leithfield, dort gibt es den Kowai River Walk, eine nicht zu lange Wanderstrecke, die immer am Fluss entlang bis zum Meeresstrand führt. Übernachten könnten wir übrigens im Leithfield Beach Holiday Park, der liegt direkt am Strand.“ 

 

„Sehr gut, Isabel“, lobte Kowalski, während er eine Karte vom Stapel nahm, die perfekt in seine Sammlung passte. Dann legte er zwölf Karten den Regeln entsprechend geordnet auf den Tisch und die dreizehnte Karte auf den Ablagestapel. „Rommé Hand“, sagte er, und sein Glücksgefühl wurde noch gesteigert, als er Isabels überraschten Gesichtsausdruck sah. 

 

Von den nächsten neun Spielen konnte Kowalski zwar noch drei gewinnen, doch als Isabel nach der zehnten Runde die Minuspunkte zusammengerechnet hatte, stand sie mit beachtlichem Abstand als Siegerin fest. 

 

„Ich befürchte, lieber Tom“, meinte sie, „du brauchst noch ein paar Trainingseinheiten. Und welcher Profi ist deiner Meinung nach am besten geeignet, dir ein wenig Nachhilfe-Unterricht zu geben und ein paar Tricks und Kniffe beizubringen?“

 

„Na du natürlich“, sagte Kowalski, worauf Isabel schelmisch grinsend erwiderte: „Ganz genau, Tom, wer denn sonst?“ Das brachte Kowalski zum Lachen, und als sein Heiterkeitsausbruch nachließ, wischte er sich ein paar Lachtränen aus den Augen, und sagte: „Wenn das so ist, Isabel, dann können wir doch gleich mit der ersten Übungseinheit beginnen.“ Bestens gelaunt griff er sich die Rommee-Karten und begann sie zu mischen.