Radio An! Wie es begann...

Yesterday Man

 

Ich war sieben, als mein Leben nach unserem Umzug erst so richtig losging. Mein neues Zuhause im Jahr 1963: eine Doppelhaushälfte in einem Neubaugebiet am Niederrhein, ohne Heizung aber mit großem Garten. Und mit einem Küchenradio, das eigentlich ständig lief, zumindest tagsüber.

 

Der Lieblingssender meiner Mutter war Radio Luxemburg, ganz old school auf Mittelwelle, mit Rauschen und ohne Höhen – also so richtig Low Fidelity! Die viele besser klingende UKW-Ära begann erst später.

 

Auf Radio Luxemburg lief viel Musik, Oldies aus den 50ern – aber vor allem aktuelle Hits aus den deutschen, britischen und amerikanischen Charts. Natürlich legten die deutschsprachigen Radio-DJs auch fleißig Schlager-Platten auf, doch diese Art von Musik war es nicht, die mich anmachte oder sich in meinen Gehörgängen festsetzte. Ich war nur empfänglich für Pop-, Rock- und Soul-Nummern aus Great Britain und den Vereinigten Staaten. Mich interessierte also alles das, was meine Mama nicht so toll fand. Sie stand eher auf Gitte & Rex oder Freddy Quinn.

 

Trotzdem bin ich meiner Mutter dankbar – für Radio Luxemburg! Und wenn im Sommer das Küchenfenster geöffnet war, konnte ich sogar draußen im Garten die Four Tops, Beatles, Searchers oder Kinks hören – natürlich auch Peter Alexander, Roy Black und Wencke Myrhe. 

 

Abends ab 18 Uhr wurde es für mich spannend. Dann wurden bei Radio Luxemburg die deutschen Programm-Macher, wie z.B. Frank Elster, abgelöst. Zunächst übernahmen die Niederländer die Song-Kontrolle, zwei Stunden später durften dann die Engländer die Musik zusammenstellen. Das hieß natürlich: keine schnulzigen Schlager mehr, nur noch flotter Beat, heißer Rock'n'Roll, cooler Rhythm & Blues und ohrwurm-fröhlicher Bubblegum-Pop. 

 

Auch wenn ich als kleiner Junge nach 20 Uhr selten Gelegenheit fand, Radio zu hören und begutachten zu können, was die britischen Radiomatadoren für ihre Sendung ausgewählt hatten, spielten die Holländer in den zwei Stunden vorher so viele internationale Hits, dass meine musikalische Sozialisation optimal verlaufen konnte und es mir bereits im zarten Alter von acht, neun Jahren gelang, eine solide musikalische Geschmacksbasis zu bilden. Wer mit Songs wie "Yesterday Man" von Chris Andrews,  "Stop In The Name Of Love" von den Supremes oder "Oh, Pretty Woman" von Roy Orbison aufwächst, der legt mit Sicherheit keinen Fehlstart ins Leben hin!

 

Eloise

 

Indem ich meine Taschengeld-Groschen, Onkelbesuchs-Taler und Oma-Geldgeschenke sorgsam sparte, um mir dafür Vinyl-Singles zu kaufen, legte ich bereits in frühen Jahren den Grundstein für meine spätere, recht umfangreiche Tonträger-Sammlung. Natürlich wurden die wertvollen Singles (eine Single-Schallplatte kostete damals stolze 5 DM) von mir in speziellen Alben aufbewahrt, später habe ich Langspielplatten und Compact Discs in Plastikständern und schlichten Holzregalen untergebracht – dem Staub gnadenlos ausgeliefert.  

 

Gekauft habe ich die Singles übrigens bei Radio Rath, das für seine aktuellen Schallplatten Werbung machte, indem er die Hüllen der neuesten Hit-Singles an einer Leine befestigte, die im Schaufenster hing. Noch heute bin ich stolz darauf, in diesem kleinen Laden mit neun, musikalisch frühreifen Jahren "Satisfaction" von den Rolling-Stones erstanden zu haben. Obwohl ich die Scheibe leider schon lange nicht mehr besitze, kann ich mich noch genau an den Titel des Songs auf der B-Seite erinnern: "The Under Assistant West Coast Promotion Man".  

 

Unvergesslich auch, wie ich vier Jahre später, als ich im Fernsehen den "Beat Club" anschaute und völlig fasziniert von Barry Ryans Playback-Darbietung seines Hits "Eloise" war,  eine Woche lang vergeblich jeden Tag bei Radio Haasch auflief und den verständnisvoll-freundlichen Verkäufer fragte, ob "Eloise" schon eingetroffen sei.  Ach, was war ich jedes Mal enttäuscht! Als ich endlich Erfolg hatte, war mein Glücksgefühl unbeschreiblich, und die Scheibe lief auf meinem Telefunken-Plattenspieler "Mister Hit", den ich zu meinem 13. Geburtstag von meinem Eltern geschenkt bekommen hatte, tagelang in Dauer-Rotation.

 

Bevor ich stolzer Besitzer dieses Plattenspielers wurde, durfte ich meine Singles ab und zu auf dem Gerät meines 13 Jahre älteren Bruders abspielen, das im Wohnzimmer stand. Mein Bruder, der in den 50ern mit Rock'n'Roll aufwuchs und selbst eine kleine Single-Sammlung besaß, sorgte auch dafür, dass mir die Grundsteine der späteren Rock- und Popmusik nicht nur vertraut wurden, sondern auch viel bedeuteten. Noch heute freue ich mich, wenn im Radio ein Song von Chuck Berry, Buddy Holly, Bill Haley oder Elvis Presley läuft. 

 

Dear Mrs. Applebee

 

Eine Zeitlang, ich war elf Jahre alt und der englischen Sprache noch nicht besonders mächtig, schuf ich meine eigene, persönliche Hitparade. In notierte die aktuellen Songs, die mir besonders gut gefielen, in einer Kladde, wobei ich mir oft nur mit einer lautmalerischen Schreibweise zu helfen wusste. Dann setzte ich die Titel in eine Rangfolge, die ich wöchentlich aktualisierte. So hatte ich immer meine persönliche Top-Ten.

 

Ich erinnere mich noch gut an den Pop-Song "Dear Mrs. Applebee" von David Garrick, der mehrmals meine Charts anführte. Dieser absolute Ohrwurm des smarten Sängers aus Liverpool war nicht nur in meiner Hitparade erfolgreich, sondern erreichte im Januar 1967 auch die Nr.1-Position der deutschen Verkaufscharts.

 

Als ich ein paar Jahre älter war und längst Radio in solider UKW-Klangqualität in meinem Zimmer hörte, waren es wieder die Niederländer, die mich in Sachen Rock- und Popmusik fortbildeten und prägten. Der holländische Sender Hilversum 3 servierte täglich aktuelle Hits – Songs von David Bowie, den Kinks, Led Zeppelin, Deep Purple und vielen anderen Bands und Musikern. Mein neues Grundig-Tonbandgerät, das ich ans Radio angeschlossen hatte, war ständig startbereit, um die Pretiosen aufnehmen zu können.

 

Nine Feet Underground

 

Mit 16 gönnte ich mir eine kleine technische Revolution. Mit dem Philips-Radiorekorder, den ich mir u.a. mit dem Waschen des Opel Rekords vom Nachbarn, Herrn Schlautmann zusammengespart hatte, ging alles viel leichter. Ein All-in-one-Gerät – und dazu noch die praktischen, handlichen Kassetten. Einfach perfekt! Bis auf die 120-Minuten-Kassetten, die ständig Bandsalat hatten. Deshalb groovte ich mich auf die 90-Minüter ein. 

 

Ich nahm auf, was die Rock-Radiowellen Hörenswertes an meinen Strand spülten. Mein bevorzugte Station war damals der sehr progressive Sender WDR 2, wo ein Moderator namens Winfried Trenker mich mit Caravan, Pink Floyd, J.J. Cale, Steely Dan, Manfred Mann's Earth Band und vielen anderen Hochkarätern bekannt machte, die mir heute noch sehr viel bedeuten.

 

Ein Highlight, das der gute Winfried in voller Länge per FM in mein Zimmer und auf meinen Rekorder schickte, war "Nine Feet Underground" von der Canterbury-Szene-Band Caravan. 22 Minuten und 40 Sekunden Hochgenuss, vor allem dank des unvergleichlichen Keyboardspiels von Dave Sinclair. Damals war es schon sehr mutig und auch bahnbrechend, LP-Songs, die keine Hits waren und auch noch besonders lang waren, in einer Radiosendung zu spielen! 

 

The Times They Are A-Changin'

 

Mit 20 begann ich, LPs zu sammeln. Sechs Monate Maloche im Bergbau vor Beginn meines Soziologie-Studiums machten mich finanzstark genug, um mir eine richtige Stereoanlage kaufen zu können – mit Plattenspieler, Drei-Wege-Boxen und Verstärker/Receiver. Dank BAföG, günstiger Miete und Ferienjobs hatte ich eigentlich immer genug Kohle für Platten übrig. Und ein aktueller Longplayer von Lou Reed war mir sowieso wichtiger als ein neues Paar Boots.

 

So nahm alles seinen Lauf. Mein LP-Archiv wuchs und wuchs – und bewies zunehmend Vielfalt in Sachen Rock und Pop. Neben 'Klassikern' wie Van Morrison, Joni Mitchell, Bob Dylan, den Rolling Stones oder den Kinks  gesellten sich nach und nach 'Spezialisten' wie Steely Dan, XTC, The Fixx, Crowded House oder Word Party dazu. 

 

Besonders am Herzen lag mir die Musik von amerikanischen Westcoast-Bands der 60er und 70er Jahre, Gruppen, die in faszinierender Weise Rock, Blues und Folk mischten – jede Band nach ihrer ganz spezielle Rezeptur. LPs von Grateful Dead, Spirit, Jefferson Airplane und Quicksilver Messenger Service beanspruchten viel Platz in meinem Kiefernholzregal. 

 

Über den Siegeszug der CD in den 80er Jahren, auch in meiner Tonträgersammlung, muss ich eigentlich nicht viel sagen. Vielleicht nur, dass ich auch heute noch, im Zeitalter des Streaming, Compact Discs kaufe, überwiegend gebrauchte, preisgünstige Scheiben bei Online-Anbietern – bis auf die ein oder andere neue CD von einer meiner Lieblingsbands, die ich einfach sofort haben muss. Aber langsam sterben mir meine alten Helden weg, und neue weigern sich nachzuwachsen … 

 

Immer noch gibt es für mich viel zu entdecken – und wenn es eine LP oder CD in meiner eigenen Sammlung ist, von der ich gar nicht mehr wusste, das ich sie habe. 

 

Mit dem Radio habe ich begonnen – und höre jetzt auch damit auf. Es läuft bei mir immer noch. Zum Beispiel in diesem Moment beim Tippen dieser Zeilen: "Crazy" von Aerosmith – auf Rock Antenne.

 

Auch beim Zähneputzen, Kreuzworträtsel-Lösen, Gartenbank-Lackieren oder Kochen halten mich Rock- & Pop-Songs aus dem Äther bei Laune. Immer häufiger kommt die gute Mucke allerdings aus dem weltweiten Netz. Wie z.B. vom empfehlenswerten Internet-Radiosender "WSHE Miami Ft Lauderdale", mit Classic Rock vom Allerfeinsten aus dem sonnigen Florida. Irgendwie ist das für mich auch noch Radio. Aber kein Radio Luxemburg!