Ry Cooder – Musiker ohne Grenzen

 

„Eigentlich wollte ich Lackierer werden“, bekannte der Musiker, Autonarr und Liebhaber von Oldtimer-Rennen vor ein paar Jahren in einem Interview, „aber dafür fehlte mir das Geld“. Außerdem sei er mit dem Pinsel längst nicht so gut wie mit den Saiten. Da könnte Ry Cooder Recht haben! 

 

1947 wird er in Los Angeles geboren, bereits mit drei Jahren bringt ihm sein Vater die ersten Gitarrengriffe bei. Rys Eltern feiern gern und oft mit Freunden, auf den Partys werden dann Platten von Woody Guthrie und anderen Folk-Musikern gespielt, was einen großen Einfluss auf den kleinen Ry hat.  

 

Als er fünfzehn ist, beherrscht Ry schon die Slide-Gitarren-Technik per Bottleneck, eine in Perfektion wausgeführte Spielart, die später zu einer Art Markenzeichen für den vielseitigen Gitarristen wird.

 

Die Kuba-Connection

 

Viele Musik-Fans lernten Ry Cooder erst durch seine Zusammenarbeit mit kubanischen Musikerlegenden im Jahr 1997 kennen: Das Album „Buena Vista Social Club“ sowie der gleichnamige Dokumentarfilm von Wim Wenders war für den Gitarristen, Songschreiber und Produzenten ein gigantischer Erfolg. 

 

Mit über 8 Millionen verkauften Exemplaren ist die mit Ibrahim Ferrer, Compay Segundo und anderen Musikern aus Havanna eingespielte und von Ry produzierte CD bis heute das erfolgreichstes Weltmusik-Album. 

 

Mit dem Namen Wim Wenders ist übrigens auch ein anderes Projekt verbunden, das Ry Cooder bereits 1984 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Kinogängern wird Wenders Film „Paris, Texas“, zu dem Cooder den Soundtrack beisteuerte, nicht zuletzt wegen des unvergleichlichen, gefühlvollen Slide-Gitarrenspiels in Erinnerung bleiben. 

 

Selten passt Musik so genial zu bewegten, wunderschönen Bildern wie in Wim Wenders berühmtem Road Movie! Ry Cooder sagt selbst über einen Grund für den riesigen Erfolgs des Films: „It was a sound and an image that went perfectly together.“ 

 

Keine Berührungsängste

 

Wer allerdings schon vor 1984 Rylan Peter Cooder kannte und schätzte – und ihm höchstwahrscheinlich bis heute als Fan die Treue hält – der weiß natürlich, dass der 1947 in L.A. geborene Musiker nicht nur ein Ausnahmetalent auf der Gitarre ist, sondern auch keine musikalischen Grenzen kennt.

 

Nachdem er bahnbrechende Musiker wie Taj Mahal und Captain Beefheart mit seinen Gitarrenkünsten unterstützte, legt Ry auf seinem ersten, selbst betitelten Solo-Album aus dem Jahr 1970 die Marschroute für seine weitere Schaffenszeit fest. Keine Berührungsängste, alles ausprobieren, niemals nicht still stehen: Nach diesem Motto macht er Musik und stellt Songs zusammen. 

 

Und so serviert Ry Cooder seiner stetig wachsenden Fangemeinde mit den folgenden Alben nicht nur einen kunterbunten Stilmix aus Country, Tex-Mex, Blues, Gospel, Salsa, Calypso und Jazz, sondern präsentiert ihr auch die Ergebnisse seiner unermüdlichen Arbeit als Archäologe und Schatzgräber, der tief nach den Wurzeln und Bodenfrüchten amerikanischer Musiktraditionen und Songkulturen gräbt. 

 

Häufig stößt Ry dabei auf Volksmusik im wahrsten Sinne des Wortes, auf ehemals in bestimmten Milieus und Schichten beliebte und bekannte Lieder, die er aus der Versenkung und vielleicht sogar Vergessenheit holt und sie, frisch aufpoliert, mit exzellenten Musikerkollegen neu aufnimmt und ihnen den besonderen Ry-Cooder-Stempel aufdrückt. 

 

Treue Begleiter von Ry im Aufnahmestudio und auf der Bühne sind beispielsweise Jim Keltner (Drums), Bobby King (Vocals), Terry Adams (Vocals) und Flaco Jiminez (Accordeon). 

 

American Songbook

 

Im Grunde hat sich Mr. Cooder in ehrenwerter Weise der nicht unbedingt leichten Mission verschrieben, die Geschichte der US-amerikanischen Musik seit den 40er Jahren nachzuzeichnen und Beispiele für Trends, Entwicklungen und Stilrichtungen Interessierten zu Gehör zu bringen – ohne dabei die verschiedensten Einflüsse aus anderen Kulturregionen und Ländern zu vernachlässigen. 

 

So trifft in einer für Ry Cooder typischen Album-Playlist ein bodenständiger Bluegrass-Song auf schwitzenden Tex-Mex, cooler New-Orleans-Jazz gesellt sich zu urbanem Chicago-Blues, und weißer Rock’n’Roll verneigt sich vor schwarzem Südstaaten-Gospel.

 

Mit der Umsetzung seines ambitionierten Konzeptes hat Ry Cooder die Musikwelt um eine große Zahl toller Alben bereichert, die anzuhören immer Spaß bereitet – auch, weil dabei nie Langeweile aufkommt. 

 

Das „American Songbook“ zu schreiben, natürlich nach seinen eigenen Vorstellungen und entsprechend seiner persönlichen Vorlieben, ist für Ry Cooder allerdings noch nicht genug. Sein musikalisches Forschungsfeld ist nicht nur Amerika, es ist im Grunde die ganze Welt. 

 

Musikalische Weltreise

 

Ry will die Musik der Welt kennenlernen, bekannt machen, dabei Kulturen entdecken, Freundschaften schließen … Ihn zieht es nach Indien, wo er mit dem Gitarristen Vishwa Mohan Bhatt zusammenarbeitet. Er jammt mit dem aus Mali stammenden Blues-Heroen Ali Farka Touré; das im Herbst 1993 in drei Tagen gemeinsam eingespielte Album „Talking Timbuktu“ verkauft sich allein in Europa über einhunderttausend Mal. 

 

Mitte der 70er Jahre unterstützt Ry Cooder die Gabby Pahinui Band aus Hawaii und bittet Gabby, den Meister der Steel- und Slack-Gitarre, sowie einige seiner Bandkollegen zu sich ins Aufnahmestudio. 

 

Zwei Jahrzehnte später trifft er sich immer wieder mit den irischen Folk-Giganten The Chieftains, gibt Konzerte und nimmt Alben mit ihnen auf. 2010 führt die Freundschaft mit den Iren erneut zu einer bemerkenswerten Zusammenarbeit, deren Resultat das Album „San Patricio“ ist

 

Thema des Projekts ist ein wenig bekanntes Kapitel aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846-1848), in dem irisch-stämmige US Soldaten desertieren und auf Seiten der Mexikaner kämpfen und sterben. 

 

Auf „San Patricio“ sind Ry und die Chieftains zusammen mit bekannten mexikanischen Musikern zu hören. Neben Dudelsack, Harfe und Flöten erklingen Akkordeon und Mariachi-Trompeten: eine faszinierende Mixtur – irgendwie wieder eimal typisch Ry Cooder!

 

Und dann natürlich nicht zu vergessen: Ry Coders Havanna-Coup „Buena Vista Social Club“… Der Weltmusiker bleibt in Bewegung.

 

Im Studio mit Freunden

 

Zwischen seinen eigenen Projekten und Reisen greift Ry immer wieder bei Bands und Musikerfreunden als Gast und Studiomusiker in die Gitarrensaiten. So veredelt er auf den Rolling-Stones-Alben „Let It Bleed“ und „Stick Fingers“ jeweils einen Song und hilft bei Plattenaufnahmen von Eric Clapton, Bob Dylan, Randy Newman, John Lee Hooker und vielen anderen renommierten Musikern aus.

 

Mit seinen Kumpels Nick Lowe, John Hyatt und Jim Keltner gründet er sogar eine Band („Little Village“), doch nach nur einem Album ist schon wieder Schluss. Und immer wieder und unermüdlich komponiert Ry Cooder Filmmusik.

 

Mr. Soundtrack

 

Mit Filmmusik erstmals in Berührung kommt Ry Cooder 1968, als ihn Jack Nitzsche, der für den Soundtrack von „Performance“ verantwortlich zeichnet, überredet, dazu etwas beizutragen. Ry willigt ein, und so vervollständigen zwei Songs von ihm die Lieder von Randy Newman, Buffy Sainte-Marie, Mick Jagger und anderen Künstlern. Der Film wird einer großer Erfolg, auch dank der grandiosen Musik.

 

45 Jahre später erinnert sich Ry Cooder: „Ich hatte damals nicht die leiseste Ahnung vom Komponieren oder, besser gesagt, von formalen Harmonien. Aber es war die Zeit des Wandels, und auch die Filme veränderten sich.“ Denn die Leute, die Filme machten, also Regisseure, Produzenten und viele andere, seien alle Menschen, die Popmusik liebten, so Ry. 

 

Erst zehn Jahre nach Rys musikalischen Beiträgen zu „Performance“ geht es so richtig los mit seiner Karriere als Soundtrack-Macher. Walter Hill, der von Rys Album „Jazz“ begeistert ist, ruft den Gitarristen an und überredet ihn, für seinenWestern „Long Riders“ den Soundtrack zu schreiben. 

 

Die Zusammenarbeit funktioniert so gut, dass Ry in den nächsten Jahren noch zu einer ganzen Reihe von Hills Filmen die Musik beisteuert, u.a. zu „Trespass“, „Crossroads“ und „Johnny Handsome“. 

 

„It’s different now. TV has no budget and you have to do it all on machines. But we’ll see. Of course, if Walter calls, and he’s got something solid for me to do, knowing me as he does, and I always trusted him, I’d say, ‘Let me try and do it for you.’ On the other hand, films are scary. I got scared in the end.“

 

I will not score horrible brutality and violence and just out and out perversions just because somebody things the audience will go for it. That to me is bad, that’s bad shit. I don’t do that. I like stories. If you’ve got a good story, let’s do something. That I can do. 

 

Seit den später 90er Jahren sind die Soundtrack-Aktivitäten von Ry Cooder immer spärlicher geworden. 2014 wird Ry Cooder in einem Interview des Londoner Musikmagazins „Uncut“ gefragt, ob er sich vorstellen können, noch einmal Filmmusik zu schreiben. Cooder weist erst einmal darauf hin, dass heute alles anders sei, Fernsehsender hätten kein Geld, und es werde nur noch mit Maschinen gearbeitet. 

 

„Aber wir werden sehen“, meint Ry. Wenn natürlich Walter Hill anrufen würde, und er hätte einen soliden Auftrag für ihn, und Walter kenne ihn ja gut genug und wüsste, dass er ihm immer vertraue, dann würde er ihm vielleicht sagen: „Okay, lass es mich ausprobieren, für dich mache ich es.“ Andererseits, ergänzt Ry, seien viele Filme heutzutage furchterregend. „Und am Ende bekomme ich selbst noch Angst.“

 

Er würde nie Filmmusik für schrecklich brutale oder perverse Szenen schreiben, meint Ry, nur weil jemand denke, die Zuschauer würden abfahren. Das halte er für „bad shit“. „Ich liebe Geschichten“ ergänzt er, „wenn jemand eine gute Geschichte hat, dann sage ich: Lass es uns angehen.“

 

 

Auch wenn in den letzten Jahren anscheinend niemand Ry Cooder eine gute Story angeboten hat, kann der Musiker insgesamt auf mehr als zwanzig Filme zurückblicken, für die er die Musik geschrieben hat. Fast alle Soundtracks sind auch auf CD erhältlich. 

 

Der eigene Sound

 

Nicht nur auf allen erdenklichen Saiteninstrumenten sondern auch im Aufnahmestudio ist Ry Cooder ein Virtuose. Den überwiegenden Teil seiner Alben hat er selbst produziert. 

 

Dass er sich neuen Aufnahmetechniken gegenüber aufgeschlossen zeigt, beweist sein 1979er Album „Bop Til You Drop“. Es gilt als das erste digital aufgenommene Major-Label-Album der populären Musik und setzt in Sachen Sound und Dynamik neue Maßstäbe.

 

In einem Interview bemerkt der amerikanische Journalist Darryl Sterdan einmal zu Ry Cooder, er fände des sehr beruhigend, dass Rys Musik ihren eigenen Sound bewahrt habe. Sterdan: „Sie sind nie einem Trend hinterhergejagt.“ 

 

„Um Himmels wollen“, antwortet Cooder entrüstet, „ich hätte noch nicht einmal einen Trend erkennen können, um ihn zu jagen, der Himmel möge mich davor schützen“. 

 

Er erinnert den Interviewer an Dizzy Gillespie, der gesagt habe, man dürfe nie aufhören, sein Instrument zu lernen. Ry hielte das für eine tolle Idee, weil das Leben sich immer weiter entfalte. „Du denkst, du wirst besser, und das sollst du auch.“ So würden die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten immer weiter gesteigert, und das Gefühl könne sich weiter entwickeln, meint Ry. „Dann klingt auch dein Sound besser und authentischer.“ 

 

Ry gefällt Dizzys Sichtweise, und er führt den Gedanken weiter: „Die Instrumente sind deine Freunde. Du nimmst sie dir, spielst sie – und es fühlt sich wunderbar an.“

 

Zurück zu den Wurzeln

 

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Ry Cooders Sohn, Joachim Cooder, am Schlagzeug der musikalischer Partner seines Dads. Auf „The Prodigal Son"  (2018) zeichnet Joachim auch als Co-Produzent verantwortlich. Ry widmet sich auf diesem großartigen Album wieder ganz den Wurzeln populärer amerikanischer Musik und besinnt sich gleichzeitig auf seine persönlichen musikalischen Standbeine: Gospel, Folk und Blues.

 

Die europäischen Ry-Cooder-Fans zeigten sich begeistert über "The Prodigal Son"  und sorgten für beachtliche Verkaufserfolge der CD sowie überraschend hohe Chart-Platzierungen in vielen Ländern. Durchweg positive Medienkritiken trugen ihren Teil zum Erfolg des Albums bei. 

 

Nach mehr als einem halben Jahrhundert ging Ry Cooder im Jahr 2022 wieder mit Taj Mahal, seinem ehemaligen Bandkollegen von "The Rising Sons", ins Aufnahmestudio. Resultat ist "Get On Board", ein Album mit Blues-Klassikern, das gute Laune versprüht und absolutes Live-Feeling besitzt. 

 

Radikale Kommerzialisierung

 

Ry Cooder, der sich seit vielen Jahren immer wieder kritisch über die soziale und politische Entwicklung in den USA äußert und seine Ansichten über den Zustand des Landes unverblümt in seinen Songs äußert, beklagt auch den Niedergang des politischen Liedes und Protestsongs in Amerika.

 

Eine radikale Kommerzialisierung im Musikbereich, die Gier nach Geld, auch bei Musikern, sowie die Übermacht moderner Medien wie das Fernsehen oder das Internet habe dazu geführt, dass es Musiker wie Woody Guthrie, Leadbelly, Blind Willie Johnson oder Compay Segundo heutzutage nicht mehr geben könne.

 

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung meint Ry: „Das waren Leute, die jeden Morgen aufwachten und ganz genau wussten, wer sie waren und worum es in ihrer Musik ging.“ Die Musik sei von irgendwo in ihrem Inneren gekommen, so Cooder, sie sei Ausdruck ihrer Persönlichkeit und nicht irgendwelcher Geschäftsinteressen gewesen. 

 

Cooder erklärt Typen wie Charlie Poole oder Uncle Dave Macon zu seinen Vorbildern, „talentierte Leute aus der Arbeiterklasse“. Die hätten einfache Songs geschrieben, die von einer Erfahrung berichten würden, oft auf humoristische Weise, und die eine Lehre beinhalteten.

 

„Schauen Sie sich um“, zieht Ry Cooder ein resignierendes Fazit, „wo soll solche Musik noch entstehen? Jazz, Blues, Hillbilly? In all diesen Formaten ist diese Musik ausgestorben“.

 

Und was hält Ry Cooder eigentlich von aktueller Rockmusik? „Rock, wie wir ihn heute kennen, interessiert mich überhaupt nicht“, erklärt er einem Journalisten des „Guardian“ im Jahr 2011. Er hasse kommerzielle Musik. „Und wenn ich das ganze Geld darin höre, dann bringt mich das um.“

 

Gut, dass es da noch Musik-Archäologen und Bewahrer des Wahren, Reinen und Schönen gibt, wie Ry Cooder. Menschen, die uns daran erinnern, dass etwas Wertvolles auf dem bestenWeg ist, restlos verloren zu gehen. Und die uns dabei auch noch blendend unterhalten und an ihrer künstlerischen Genialität teilhaben lassen. Danke, Ry!

 

 

Ry-Cooder-CD-Tipps (eine persönliche Auswahl):

 

– Into The Purple Valley (1972)

– Chicken Skin Music (1976)

– Bop Till You Drop (1979)

– Get Rhythm (1987)

– The Broadcast Archives (Box mit 3 Live-CDs, 1974, 1977, 1987)

– Johnny Handsome (Soundtrack, 1989)

– Music by Ry Cooder (2 CDs, 1989, ausgewählte Soundtracks)

– I, Flathead (2008)

– The Prodigal Son (2018)